7. KAPITEL

Das Kind hatte das Versteck entdeckt, einfach so durch Zufall. Nein, eigentlich war es ein kleines Missgeschick gewesen. Die Mutter, die ihm beinahe alles durchgehen ließ, mochte es nicht, wenn ihr Kind Cola trank.

Ein Junge seines Alters, so hatte sie ihn belehrt, müsse Milch trinken. Höchstens noch Tee ohne Zucker oder Mineralwasser. Doch der Junge liebte Cola. Manchmal, wenn er allein in der Küche war, goss er sich ein wenig von Mutters Cola light in seine Tasse. Cola light war nicht so gut wie richtige Cola. Aber trinkbar.

Auch an diesem Nachmittag, die Mutter war im Garten mit ihren Gemüsebeeten beschäftigt, hatte er sich ein klein wenig aus ihrer Flasche spendiert. Nicht viel, die Tasse war gerade mal halb voll. Die kleine, aber regelmäßige Sünde durfte nicht auffallen. Der Junge trug die Beute in sein Zimmer, um sie in aller Ruhe zu genießen.

Familienkatze Susi, die es gewohnt war, seine Milch zu schlecken, sprang zu ihm aufs Bett und stieß die Tasse um. Wäre es Milch, Mineralwasser oder Mutters Tee gewesen, hätte es die verräterischen dunklen Flecken auf Bett und Fußboden nicht gegeben. So aber musste sich der Junge noch einmal in die Küche schleichen, um einen langen Streifen Papier von Mutters Küchenrolle zu reißen.

Mit klopfendem Herzen trat er beinahe lautlos den Rückzug an, vorbei am Arbeitszimmer des Vaters. Die Tür stand offen. Der Achtjährige sah den Vater am Schreibtisch sitzen. Er drehte den Schlüssel im Schloss, prüfte, ob sich die Lade noch öffnen ließ, und dann – dem Jungen stockte der Atem – ließ er den Schlüssel in die mit Strohblumen gefüllte Vase auf dem Regal über dem Schreibtisch gleiten. Ein so einfaches Versteck, und das Kind hatte so lange gebraucht, um es zu entdecken.

Mandy hatte das Glasröhrchen höchstpersönlich ins Labor gebracht. Als sie am nächsten Morgen ins Büro kam, streifte sie die Schuhe ab, fuhr den Computer hoch und starrte enttäuscht auf die wenigen Zeilen, die das Labor geschickt hatte. »Mist, die DNA passt nicht«, rief sie Lena zu. »Das Blut in der Jacke des Toten stammt nicht von Kobs.« Mit ärgerlich verzogener Miene murrte sie: »Aus dem Rennen ist der Junge trotzdem nicht. Wenn wir richtig Druck machen, rückt er schon noch mit der Wahrheit raus.« Sie war leiser geworden bei den letzten Worten. Lena hatte sie trotzdem gehört.

»Blackout. Schon vergessen?«, rief sie durch die offene Tür zurück.

Mandy klemmte sich die große Ledertasche, die sie gerade auf ihren Schreibtisch geknallt hatte, unter den Arm und lief barfuß zu Lena hinüber.

»Falls er den wirklich hatte, Chefin. Diese komische Geschichte mit dem verwechselten Auto! Glaubst du ihm etwa?«

»Warum denn nicht, Mandy? Fragt sich nur, wann er da rein-geklettert ist.«

»Und ob sich jemand findet, der seine Story bestätigt.« Mandy zog die Unterlippe nach innen und kaute ein wenig darauf herum. Dann nickte sie. »Glaub mir, Lena, Kobs lügt uns die Hucke voll.«

»Ich weiß, du hast dich auf ihn eingeschossen. Aber mal nebenbei gefragt, was suchst du eigentlich in den Tiefen deiner Tasche?«

»Gummibärchen«, grummelte Mandy, die Nase schon wieder in ihrer Tasche.

Lena lachte herzhaft auf. »Ich sag nur: Jieper auf Süßkram. Soll ja so sein bei Schwangeren.«

Mandy breitete Kugelschreiber, Notizblock, Schlüsselbund, Schminkzeug und allerlei Krimskrams auf Lenas Schreibtisch aus.

»Witze über Frauen und ihre Handtaschen sind eben doch nicht bloß ein Klischee«, feixte Lena und warf Mandy ein Tütchen Bonbons zu. »Fang auf, ist meine Reserve für den Notfall.«

Begierig riss Mandy die Tüte auf, schob sich gleich zwei Drops auf einmal in den Mund und begann, hingebungsvoll zu lutschen.

»Das geht ja früh los bei dir.« Lena nickte verständnisvoll.

»Hä? Was geht früh los bei mir?«

»Die Sache mit den Hormonen und so. Die Umstellung wegen der Schwangerschaft, das kennt man doch.«

»Ach, du kennst das?« Mandy grinste breit, was bei ihrem mit Bonbons vollgestopften Mund dicke Hamsterbacken ergab. »Wie war das denn so bei deinen Schwangerschaften? Lass mal hören, ich lerne gern von erfahrenen Frauen.«

»Okay, Mandy, der Punkt geht an dich.« Mit dem Fingernagel kratzte Lena Kalkbröckchen vom Rand der kleinen Gießkanne, die neben ihr auf dem Fensterbrett stand. »Lass uns den Fall noch mal durchgehen. Max Lüders will das spätere Opfer zusammen mit einem jungen Mann gesehen haben. Der Beschreibung nach könnte es unser Autohändler Udo Wachtel gewesen sein.«

Mit den Füßen verpasste Mandy dem Drehstuhl, auf den sie sich gesetzt hatte, einen kräftigen Schwung. »Wachtel bestreitet aber, sich mit dem Berliner getroffen zu haben. Mit einer DNA-Probe könnten wir ihm vielleicht das Gegenteil beweisen. Nur weigert er sich, uns eine zu geben.«

»Und die richterliche Anordnung können wir uns abschminken, weil wir noch nichts vorzuweisen haben.« Lena zerrieb die ab-gepulten Kalkbröckchen zwischen ihren Fingern und ließ sie in den Papierkorb rieseln. »Bis jetzt wissen wir ja noch nicht mal, wer der Tote ist.«

»Ja, wer?« Zwischen Mandys Zähnen zersplitterten die Reste der Bonbons. »Die Unis und Hochschulen haben nichts gebracht, die Berliner Taxiunternehmen auch nicht. Ich würde sagen, wir stecken fest.«

Sie hat recht, dachte Lena. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Das zerstörte Gesicht tauchte wieder auf. »Wer bist du?«, murmelte sie vor sich hin. Die blicklosen Augen blieben ihr die Antwort schuldig.

Sie tippte auf ihrer Tastatur herum. Die Datei vermisster Personen öffnete sich. Lena betrachtete die Fotos, las die Texte, die sie am Vortag schon durchgegangen war, und scrollte weiter. Nichts Neues. Enttäuscht wollte sie sich abwenden, als eine Nachricht aufploppte. Sie las sie und spürte einen Kloß in der Kehle.

»Ist was?«, mümmelte Mandy mit vollen Hamsterbacken. Lena wies auf den Bildschirm. »Dieser gesuchte Familienvater könnte der Mann sein, der drüben bei Krollmann in der Gerichtsmedizin liegt.« Die Ehefrau gab an, ihr Mann, Holger Werner, ein 32-jähriger selbstständiger Taxifahrer aus Berlin, habe am Pfingstmontag mehrere Orte aufsuchen wollen, um sich historische Mühlen anzusehen, unter anderem die alte Mühle im uckermärkischen Raglow. Das Foto zeigte einen ernst dreinblickenden jungen Mann mit kurzem blondem Haar, der noch viel vor sich zu haben schien.

Mandy verschluckte sich beinahe an ihren Bonbons. »Die arme Frau! Oh, Gott, wenn sie erfährt, was passiert ist …«

»In anderthalb Stunden müsste die Strecke zu schaffen sein«, überlegte Lena nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich spring schnell mal rüber zu Krollmann, und du schau nach, wo wir die Frau finden.«

Als Lena zurückkam, zwängte Mandy den rechten Fuß samt Pflaster in ihren frisch polierten Schuh, dessen Absatz so hoch und spitz war, dass er eigentlich waffenscheinpflichtig sein sollte. Nahm die Frau denn nie Vernunft an?

Lena verkniff sich eine Bemerkung über Sinn und Zweck derartigen Schuhwerks und griff zum Telefon, das auf ihrem Schreibtisch klingelte.

»Haubi hat das Handy geknackt. Er ist jetzt dabei, die Dateien auszulesen«, verkündete sie, als sie aufgelegt hatte. »So langsam kommt Bewegung in den Fall, scheint heute unser Glückstag zu sein.«

Auch wenn sie mit lockeren Sprüchen munter tat, konnte Lena das bange Gefühl nicht verdrängen, das sie erfasst hatte. Der Gedanke an die junge Frau und an die Nachricht, die sie ihr überbringen mussten, machte ihr zu schaffen.

***

Das Haus, eine beeindruckend schöne Villa, wirkte gediegen. Nahe am Treptower Park gelegen erinnerte es an die Gründerzeit, in der wohlhabende Fabrikbesitzer, Ärzte und Anwälte ihren Reichtum gern zur Schau gestellt hatten. Mandy las die Namen an der Tür und klingelte bei H. & S. Werner. Nichts rührte sich. Von wieder-erwachtem Schmerz geplagt trat sie von einem Fuß auf den anderen. »Wir hätten anrufen sollen«, nörgelte sie verdrießlich.

»Wolltest du der Frau am Telefon sagen, dass ihr Mann tot ist?«

»Bestimmt nicht. Aber wenigstens anmelden hätten wir uns können.«

»Hab ich gemacht! Sie muss da sein, versuch’s noch mal.«

»Und warum lässt sie uns vor der Tür stehen, wenn sie uns erwartet?« Mandy drückte erneut auf den Klingelknopf, diesmal länger als zuvor und auch gleich noch auf die Klingel der benachbarten Wohnung. Endlich ertönte der Summton, der die Haustür öffnen ließ. »Na, geht doch«, grummelte sie besänftigt und trat noch vor Lena in den Hausflur. Nach dem ersten Schritt auf grauen Fliesen schaltete ein nervig knackender Bewegungsmelder das Licht ein. Kalter Schein fiel auf einen abgestellten Kinderwagen, ein an die Heizung gekettetes Fahrrad und einen Rollator. Dunkle Eichenstufen verströmten den Geruch von Bohnerwachs. Mandy sah sich um und maulte: »Nicht mal einen Fahrstuhl haben die hier.«

»Liebste Mandy, nach dem Klingelschild zu urteilen, wohnen die Werners im dritten Stock. Wer braucht da schon einen Fahrstuhl?«

In Mandys Ohren klang Lenas Bemerkung ein wenig schadenfroh. Die Chefin musste doch sehen, wie sie sich bei jedem Schritt quälte. Aber nein, ohne ein Fünkchen Mitleid hüpfte sie in ihren flachen Tretern leichtfüßig an ihr vorbei. Eine Etage höher klingelte sie bereits an der Wohnungstür.

Noch ein letzter Treppenabsatz und Mandy stand genau wie Lena vor dem handgetöpferten Türschild, das mit einem Abbild der Familie verziert war. Vater, Mutter, zwei blond bezopfte Mädchen. Die Mutter hielt ein Baby im Arm.

H. & S. Werner stand in dicken schwarzen Schnörkelbuchstaben auf hellem Grund. Aus der Wohnung drangen Kinderstimmen. Helles Lachen und munteres Gezwitscher.

Nach dem nächsten Klingelton quengelte ein Kind: »Mamaaaaa, da ist wer!« Doch die Mutter schien weder das Klingeln noch das Kind zu hören.

Eine zweite, ebenso piepsig dünne Stimme ertönte: »Gritti, komm von der Tür weg. Ich sag’s Papa, wenn du nicht hörst.«

Mandy klopfte mit den Fingerknöcheln an die Tür. »Hallo«, rief sie. »Frau Werner, sind Sie da?«

»Maaamaaaa!« Jetzt überschlugen sich die Kinderstimmen. Dann war es für Augenblicke still in der Wohnung. Mandy wollte schon erneut klopfen, da näherten sich Schritte. Im Schloss knirschte ein Schlüssel, die Tür ging auf und vor ihnen stand eine junge Frau mit langem dunklem Haar. Der Säugling in ihrem Arm schaute die Besucher mit großen Augen an. Fürsorglich zog die Mutter das flauschige Badetuch über das spärlich sprießende, vom Baden noch feuchte Kinderhaar. »Danke, dass Sie gewartet haben«, sagte sie statt einer Begrüßung und drückte ihr Kind liebevoll an sich. »Ich musste erst Emil aus der Wanne nehmen, darum hat es so lange gedauert.« Ihre Augen waren dunkel wie die ihres Babys, nur schaute das Kind mit unbekümmerter Neugier in die Welt, die Mutter dagegen ängstlich forschend. Lena zückte ihren Dienstausweis, um sich und Mandy vorzustellen.

»Ich dachte mir schon, dass Sie es sind. Sie hatten ja angerufen.« Die junge Frau streichelte die rosigen Wangen ihres Babys. »Was ist mit meinem Mann? Hatte er einen Unfall?« Ihre Stimme überschlug sich. »In welchem Krankenhaus liegt er? Ich muss nur schnell die Kinder zu meinen Eltern …«

Die Tür der Nachbarwohnung ging auf. Ein zerfurchtes Gesicht kam zum Vorschein, umrahmt von grauem, auf Wickler gedrehtem Haar. »Ich hab Stimmen gehört und dachte, es wär meine Tochter mit den Enkeln.« Ein verzagtes Lächeln, flüchtig und wehmütig, brachte das Spinnennetz der Falten in ihrem Gesicht in Bewegung. »Ach, ich seh schon, Sie haben Besuch, Frau Werner.« Damit zog sie die Tür beinahe lautlos hinter sich zu.

Susannes Blick war voller Mitleid. »Die Arme, ständig wartet sie auf ihre Tochter.« Rasch besann sie sich und sah die beiden Polizistinnen voller Furcht an. »Mein Mann? Was ist mit ihm?«

»Lassen Sie uns reingehen«, schlug Lena vor. »Dann reden wir.«

Wortlos trat Susanne Werner zur Seite. Ihre Unruhe schien sich auf das Kind in ihren Armen zu übertragen. Der kleine Mund verzog sich, der Säugling fing an, zu weinen. »Tsch, tsch, tsch«, beruhigte ihn die Mutter. Erst als der Kleine nur noch zart schluchzte, führte sie die Kommissarinnen den Flur entlang. Zwei blond be-zopfte Mädchen, vielleicht neun oder zehn Jahre alt, hockten eng aneinandergekuschelt auf einem Schaukelpferd. Mit müder Stimme mahnte die Mutter: »Ihr bleibt schön brav hier oder spielt in eurem Zimmer. Bis ich euch rufe! Dann geht’s ab zu Oma. Okay, Lara und Gritti?«

»Okay?«, wiederholte sie scharf, weil die Mädchen nicht reagierten.

»Höchste Zeit, dass mein Mann nach Hause kommt.« Die junge Frau sah den Mädchen nach und seufzte. »Wenn er nicht da ist, geraten die Zwillinge leicht außer Rand und Band. Aber jetzt sagen Sie endlich, was mit ihm ist. Wo kann ich ihn besuchen?«

Ehe Lena antworten konnte, stieß der Säugling einen Schrei aus und begann am Daumen zu nuckeln.

»Emil will sein Fläschchen.« Im Rhythmus ihrer Schritte wiegte Susanne Werner ihr jüngstes Kind sanft in den Armen.

Als Lena und Mandy sich im Wohnzimmer auf die angewiesenen Stühle gesetzt hatten, sahen sie sich um. Auf der Couch lag Babykleidung neben einem aufgerissenen Windelpaket und einer Cremedose ohne Deckel. Emils Fläschchen wartete im Wärmebehälter auf dem Tisch.

Susanne schob Strampler und Hemdchen zusammen, setzte sich auf die mit braunem Kunstleder bezogene Couch und platzierte das weinende Kind auf ihrem Schoß. »Das muss jetzt sein.« Liebevoll lächelte sie ihren Sohn an. »Mein Emil gibt sonst keine Ruhe.«

Gierig schmatzend trank das Baby mit geschlossenen Augen. »Mein kleiner Vielfraß«, murmelte die Mutter.

Mandy ließ Mutter und Kind nicht aus den Augen. Lena sah sich weiter im Zimmer um. Couch, Tisch, sechs Stühle. Daneben gab es nur noch einfach zusammengezimmerte Regale, in denen Geschirr aus bunter Keramik und Bücher standen. Auf dem hellen Parkett lag Kinderspielzeug: ein Püppchen mit nur einem Arm, Pferde, Schafe und andere Tiere aus bunt bemaltem Holz. Die hohen weiß gestrichenen Wände hingen voller Fotos. Bilder der Kinder, Fotos der gesamten Familie und Aufnahmen von Kornmühlen, Schneidemühlen, Dampflokomotiven und alten Maschinen, von denen Lena nicht einmal ahnte, wofür sie gut sein mochten.

»Eine wirklich schöne Wohnung«, lobte Lena.

»Ja, vor allem schön groß, deshalb wollten wir sie unbedingt haben. Die Kinder brauchen Platz zum Spielen, sagt mein Mann immer.« Die feinen Linien, die sich von den Nasenflügeln bis hinunter zu den Mundwinkeln zogen, vertieften sich, als die junge Mutter sagte: »Meinem Mann ist was Schlimmes passiert, richtig? In welchem Krankenhaus liegt er? Ich will ihn sehen.«

Lena griff in ihre Tasche. Ihre Fingerkuppen stießen auf einen harten glatten Gegenstand. Aber sie zögerte, ihn herauszuziehen. Stattdessen berichtete sie von dem Toten in der alten Mühle. Die junge Frau hörte zu, erstarrt, ohne einen Laut von sich zu geben. Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Das Kind auf ihrem Schoß begann, mit Armen und Beinen zu zappeln, als wollte es sich aus der immer fester werdenden Umarmung befreien.

»Emil, mein kleiner Schatz«, wisperte Susanne Werner kaum hörbar. Blind vor Tränen stellte sie das leere Fläschchen auf den Tisch zurück. Sie wickelte ihr Kind aus dem Badetuch und legte es nackt auf die Couch. Sorgfältig rieb sie den kleinen Körper mit Öl ein. Wie in Trance, mit langsamen und zarten Bewegungen, windelte sie den Säugling und zog ihn an. Das alles tat sie, ohne sich die Tränen fortzuwischen und ohne ein Wort. Lena nahm das Zittern der Hand wahr, die über das dunkle Kinderhaar strich.

Arme Frau, dachte sie, als die Mutter ihren Sohn aus dem Zimmer trug. Sie mussten lange auf ihre Rückkehr warten. Kaum wieder im Wohnzimmer zurück, setzte sich Susanne in die Couchecke und zog anstelle des kleinen Jungen ein Kissen vor die Brust. Jetzt erst zog Lena aus der Tasche, was sie sich von Krollmann hatte geben lassen. Werners Ehering.

Susanne musste die Gravur auf der Innenseite nicht erst lesen und sie musste auch nichts sagen. Lena las die Antwort in den Tränen, die ihr übers Gesicht liefen, und in der Zärtlichkeit, mit der sie den Ring an ihrer tränennassen Wange rieb.

Behutsam sagte Lena: »Es tut mir leid, Frau Werner, aber ich muss Sie fragen: Fühlte Ihr Mann sich bedroht? War er in letzter Zeit anders als sonst?«

Susanne schmiegte ihre Wange noch immer an den Ring ihres toten Mannes. Sie klang verwundert, als sie sagte: »Niemand hat Holger bedroht. Warum auch? Er ist Taxi gefahren und hat sich um seine Familie gekümmert, ein ganz normales Leben halt.«

Lena spürte deutlich, wie schwer es der jungen Frau fiel, jetzt mit ihr zu reden. Aber es musste sein.

»Sagen Ihnen die Namen Udo Wachtel oder Peter Kobs irgendetwas?«, fragte sie.

Stummes Kopfschütteln unter neuen Tränen, die Susanne mit dem Handrücken fortwischte.

»Herr Wachtel verkauft Gebrauchtwagen und Peter Kobs liefert Blumen und Gemüse an Berliner Geschäfte und Hotels«, versuchte Lena, doch noch eine Antwort zu bekommen.

Keine Reaktion.

»Könnte es sein, dass Ihr Mann in der Uckermark verabredet war?« Mandys kindliche Stimme ließ Susanne verwirrt aufblicken.

»Verabredet? Nein. Er wollte sich historische Mühlen ansehen, so wie jedes Jahr zum Mühlentag. Warum sollte er sich mit jemandem verabreden?«

»Ist Ihr Mann mit seinem Taxi in die Uckermark gefahren?«

»Womit denn sonst?«

Mandy und Lena sahen sich an. Kein Taxi rund um die alte Mühle. Zufall? Wohl eher nicht. Wer Werners Autoschlüssel hatte, hatte leichtes Spiel. Ein kurzes Klicken mit dem Schlüssel. Das am Fahrzeug aufblitzende Licht wies den Weg und die Tür ließ sich öffnen.

Weder Lena noch Mandy sprachen diese Gedanken aus. Stattdessen fragte Mandy: »Ihr Mann ist Taxi gefahren? Ich dachte, er hätte Maschinenbau studiert.«

Susanne nickte beklommen und drückte ihr Kissen an die Brust, als brauche sie etwas, woran sie sich festhalten konnte.

»Ja, stimmt«, sagte sie, die dunklen Augen von Tränen verschleiert. »Holger hat studiert, aber nur zwei Jahre. Als die Zwillinge zur Welt kamen, ging’s einfach nicht mehr. Von irgendwas mussten wir schließlich leben. Ich hatte mein Studium schon während der Schwangerschaft aufgegeben.«

»Deshalb das Taxi?«

»Ja, deshalb das Taxi. Anfangs hatte er es sich von einem Freund geliehen, später konnte er es günstig kaufen. Hunderttausend Kilometer auf dem Tacho, aber noch gut in Schuss.«

»Wo hat Ihr Mann das Auto gekauft?«, blieb Mandy hartnäckig.

»Warum fragen Sie nach Holgers Taxi? Was hat das mit seinem … mit seinem Tod zu tun?« Tränen erstickten Susannes Stimme, ihre Worte waren kaum mehr als ein Hauch. »Ein Freund hat’s ihm angeboten.«

»Und der hieß Udo Wachtel, richtig?«

Susanne antwortete nicht gleich. Sie brauchte Zeit, bis sie sagen konnte: »Natürlich nicht und auch nicht … Wie war noch gleich der andere Name?«

»Kobs. Peter Kobs.« Mandy behielt Susanne fest im Blick. Doch die strich sich nur über die von Tränen nassen Wangen und sagte: »Nie gehört. Wer soll das sein?«

Während Mandy noch überlegte, was sie preisgeben sollte, fragte die junge Frau schon: »Sie haben unser Auto doch mitgebracht, ich brauch es dringend.«

»Dazu müssten wir es erst mal finden«, rutschte Mandy unbedacht heraus.

»Wieso finden? Wo Holger war, da war auch sein Taxi.«

»Auf dem Parkplatz stand aber kein Taxi, Frau Werner. Nicht mal Papiere hatte Ihr Mann dabei und auch keinen Autoschlüssel.«

»Keinen Schlüssel, keine Papiere?« Susannes Blick blieb an dem goldenen Ring haften. »Vielleicht ist das alles nur eine Verwechslung?« In ihren Worten schwang Hoffnung mit. »Den Ring könnte Holger verloren haben.«

Sie sprang auf, riss einen mit Buntstiften bemalten Karton aus dem Regal und begann, darin zu kramen. Endlich zog sie ein Foto heraus und reichte es Lena. »Überzeugen Sie sich selbst. So sieht mein Mann aus.« Ihre Stimme flehte. »Er kommt wieder, ich weiß es.«

Lena sah fröhliche Kindergesichter und einen jungen Mann, der in die Kamera lachte. Die Ähnlichkeit mit den Zwillingsmädchen, die in bunten Sommerkleidern auf seinen Schultern saßen, war unverkennbar.

Das wächserne Gesicht des Toten auf dem kalten Stahltisch der Gerichtsmedizin, das Krollmann, so gut es ging, wieder hergerichtet hatte, wies kaum noch Ähnlichkeit mit diesem unbeschwert in die Kamera strahlenden Familienvater auf. Doch er war es, daran zweifelte Lena keinen einzigen Augenblick.

»Und?«, hauchte die junge Frau tonlos. »Sie haben sich geirrt, geben Sie’s ruhig zu.«

Wortlos schüttelte Lena den Kopf. Was sie zu sagen hatte, wollte ihr einfach nicht über die Lippen kommen. Krollmann hatte den Ring vom Finger des Toten gezogen.

Susanne griff nach dem Foto aus glücklichen Tagen. Niemand sagte mehr ein Wort, bis sie leise fragte: »Wo, sagten Sie, haben Sie diesen … haben Sie meinen Mann gefunden? Kann ich ihn sehen?«

Lena berichtete noch einmal von der Mühle abseits des Dorfes, von dem Toten auf dem Schlitten vor dem Sägegatter. Wie übel das Opfer zugerichtet worden war, verschwieg sie geflissentlich.

Die junge Frau presste die Lippen aufeinander. Sie brauchte einen Moment, bis sie erwidern konnte: »Mein Mann wollte sich alte Mühlen ansehen, so wie er es immer gemacht hat, Pfingstmontag am Mühlentag. Als er am Abend nicht nach Hause kam, dachte ich, er wäre aufgehalten worden oder noch woanders hingefahren. Natürlich hab ich mir Sorgen gemacht, ich konnte kaum schlafen in der Nacht. Aber historische Technik ist nun mal seine Leidenschaft. War seine Leidenschaft! Oh Gott …« Voller Entsetzen schlug sie die Hände ans Gesicht. »Wie soll ich bloß den Mädchen beibringen, dass ihr Vater nicht mehr nach Hause kommt?«

»Hat Ihr Mann kein einziges Mal angerufen, als er unterwegs war?«, fragte Lena in die plötzliche Stille hinein.

Zu ihrer Überraschung nickte Susanne. »Doch, ja, Holger hat angerufen. Am Montag zur Kaffeezeit. In diesem Dorf hatte er einen alten Bekannten getroffen.«

»Einen alten Bekannten?« Alarmiert fuhr Lena auf. »Wie heißt er? Hat Ihr Mann einen Namen genannt?«

Susanne legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Lena ahnte, dass sie allein sein wollte mit ihrem Schmerz. Ohne die lästigen Fragen einer fremden Kommissarin. Ging aber nicht. Sie brauchte Antworten.

»Nein, wirklich nicht«, presste Susanne mit geschlossenen Augen hervor. »Holger hat keinen Namen genannt.«

In der Hoffnung, doch noch einen ganz bestimmten Namen zu hören, kramte Mandy Stift und Notizblock aus ihrer Tasche. »Überlegen Sie bitte noch einmal ganz genau, Frau Werner«, bat sie. »Irgendwas muss Ihr Mann doch gesagt haben.«

»Sicher hat er das. Aber ich hab nicht zugehört. Ich konnte doch nicht ahnen, dass es unser letztes Gespräch sein würde.« Von heftigem Schluchzen geschüttelt kreuzte Susanne die Arme vor der Brust. »Als Holger anrief, war bei uns wieder mal Rambazamba. Das Baby, wissen Sie, und die Zwillinge! Ich hatte meine Mühe mit den Kindern. Holger verstand das. Er hat versprochen, sich später noch mal zu melden. Hat er aber nicht. Seit diesem Anruf hab ich nichts mehr von ihm gehört. Bis … bis Sie gekommen sind und …«

Sie bückte sich, hob ein zu Boden gefallenes Babyjäckchen auf und strich es glatt, als würde sie ein lebendiges Wesen streicheln.

Lautes Krachen und Poltern ließ sie zusammenfahren.

Die Tür ging auf und ein strubbeliger Blondschopf schob sich ins Zimmer.

»Ihr müsst ins Bett«, mahnte die Mutter kraftlos und fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Augen.

»Gritti hat …«, zirpte das Mädchen und stockte, denn die Schwester quengelte dazwischen: »Das war nur, weil Lara mich ge-schubst hat.«

»Ihr müsst ins Bett«, wiederholte die Mutter und wollte aufspringen, doch Mandy hielt sie zurück. »Bleiben Sie ruhig sitzen. Ich kümmere mich um die beiden.«

Sie nahm die Mädchen bei der Hand und ließ sich von ihnen den Weg ins Bad zeigen.

Im Zimmer der Zwillinge schüttelte sie die Betten auf. »Jetzt schlaft endlich«, mahnte sie, als sich die Mädchen, wie Kobolde kichernd, in ihre Decken kuschelten. Doch so einfach kam sie nicht davon. Eins der Mädchen rieb sich die Augen und verlangte: »Du musst uns was vorlesen. Mami hat’s heute vergessen und Papi kommt erst morgen wieder nach Hause.«

Mandy atmete tief durch. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Ohne ein Wort nahm sie dem Kind das Buch aus der Hand und begann zu lesen. Zu ihrer eigenen Überraschung stieg ein warmes Gefühl in ihr auf, als die beiden Mädchen, bis unter die Stupsnasen zugedeckt, jedem ihrer Worte aufmerksam lauschten.

Bei der letzten Zeile angelangt, schlug Mandy das Buch zu und tat streng. »So, jetzt schlaft aber. Keinen Mucks will ich mehr von euch hören.«

Der Weg zurück ins Wohnzimmer führte durch einen schmalen schlauchartigen Raum, der offensichtlich als Arbeitszimmer diente. Erst jetzt fiel Mandy auf, dass das Regal über dem Schreibtisch auf halb acht hing. Ein Dübel hatte sich gelöst, das Holz hing schief wie ein untergehendes Schiff.

In dem Durcheinander auf dem Fußboden glänzten Pokale golden und silbern zwischen allerlei Papieren. Daher also das Krachen und Poltern, das sie bis ins Wohnzimmer gehört hatten. Mandy hob die Kelche auf und stellte sie nebeneinander auf den Schreibtisch. Sie wusste jetzt, dass Holger Werner ein erfolgreicher Schachspieler gewesen war. Dann sah sie sich die zu Boden gefallenen Papiere sorgfältig an. Nichts Auffälliges. Rechnungen, Steuersachen, Kontoauszüge. Das Konto der Werners war im Soll. Nicht erschreckend tief, aber im Soll. Mandy hob das letzte Blatt auf. Eine Car-Service GmbH mahnte ihr Geld an. Sie sah genauer hin. Der Geschäftsführer dieser GmbH hieß Udo Wachtel.