Er musste besser aufpassen. Die Eltern, die nicht seine Eltern waren, hatten bemerkt, dass sich ihr Junge anders verhielt, als sie es von ihm kannten.
Seit er nachts nicht mehr zur Ruhe kam, war die Mutter noch nachsichtiger geworden. Der Vater bemerkte die Veränderung erst, als die Leistungen in der Schule nachließen. Er drohte Strafen an. Stubenarrest, Fernsehverbot, solche Sachen eben.
Die Mutter kam, wie er es gewohnt war, abends noch einmal zu ihm ins Zimmer und strich ihm zärtlich übers Haar, ganz sanft mit den Fingerkuppen. Das Kind stellte sich schlafend. Es konnte die Fragen nicht aussprechen, die ihm das Herz schwer machten.
Vor allem die eine nicht. Konnten Eltern, die ein Kind adoptiert hatten, dieses Kind wieder zurückgeben?
Der Mann und die Frau, die er Mama und Papa nannte, waren für ihn da gewesen, seit er denken konnte. Er wollte glauben, dass sie ihn liebten. Doch er konnte sie nicht fragen. Wie sollte er wissen, ob sie ihn nicht schon wieder belogen?
***
»Was geht uns ein Verkehrsunfall an?« Mit der Linken drückte Mandy das Telefon ans Ohr, mit der Rechten hielt sie sich die Wange. Diese fiesen Zahnschmerzen hatten ihr gerade noch gefehlt. Verärgert wollte sie das Telefon auf die Station knallen. Doch Krollmanns Stimme hielt sie zurück.
»Dieser Unfall geht euch sogar sehr viel an, weil nämlich Gift im Spiel war, liebe Kommissarin Fortunato. Übrigens – ist Lena im Haus? Sie geht nicht ans Telefon. Ist sie da?«
Trotz ihrer Schmerzen grinste Mandy das Telefon an. »Nee, sie tanzt Flamenco in Andalusien. Wusstest du das nicht?«
»Mit ’nem feurigen Spanier?« Krollmann lachte. »Dann lauf du wenigstens nicht weg. Ich bring euch meinen Bericht, wenn sie zurück ist.«
Wenn es um Lena ging, musste Krollmann geradezu einen siebten Sinn haben. Kaum saß sie wieder in ihrem Zimmer, stürmte er auch schon zur Tür herein. Seine nackten Füße steckten in weichen Mokassins, wahrscheinlich handgearbeitet in Italien, wie Mandy vermutete. Dazu trug er Jeans und ein brandrotes Shirt. Nach einem flüchtigen »Hey« in Mandys Richtung angelte er sich einen Stuhl und setzte sich Lena gegenüber. Sein forschender Blick, der ihre grünen Augen suchte, entlockte ihr weder ein Lächeln noch sonst irgendeine Reaktion.
Krollmann, sofort wieder ganz Profi, begann: »Ich hatte den richtigen Riecher. Nix Verkehrsunfall. Diese Frau ist vergiftet worden. Du musst sie gekannt haben, Lena. Sie war Postbotin in deinem Kaff.«
»In meinem hübschen kleinen Dörfchen wolltest du wohl sagen. Und ja, ich habe sie gekannt. Aber wer vergiftet eine harmlose Postfrau?«
»Al Capone können wir wohl ausschließen«, gab Krollmann trocken zurück.
»Glaub ich auch, der hätte sie mit Kugeln durchsiebt«, rief Mandy von ihrem Schreibtisch aus.
Lena zog die Augenbrauen hoch. »Wie schön! Zwei ungeklärte Mordfälle an der Hacke, und ihr reißt Witze. Lass lieber hören, was du für uns hast, Krollmann.«
Er schnipste mit dem Zeigefinger gegen Lenas Kaffeetasse. »Falls du mir gerade eine anbieten wolltest, ich hätte nichts dagegen.«
Mit dem Kopf wies sie zum Kaffeeautomaten. »Selbstbedienung. Weißt du doch.«
Mandy sprang von ihrem Stuhl auf. Bohnen knirschten durchs Mahlwerk und aromatischer Duft breitete sich im Büro aus.
Krollmann schnupperte, griff nach der Tasse, die Mandy ihm reichte, und seufzte auf. »Ist doch immer wieder schön, hier bei euch zu sein.« Mandy nickte und wusste, dass seine Worte nicht ihr gegolten hatten. Und sie verstand Lena nicht, die betont kühl sagte: »Erzähl endlich, was du für uns hast, Krollmann. Deshalb bist du doch gekommen, oder?«
»Aber nein, ich wollte nur in Ruhe mein Käffchen schlürfen.« Irgendwie klang er jetzt doch beleidigt. Er nahm einen Schluck, stellte die Tasse ab und klopfte auf die mitgebrachte Mappe. »Aber wenn ich schon mal da bin, können wir auch über das hier reden.«
Blitzartig streckte Lena die Hand aus und zog ihm die Papiere weg. »Lesen kann ich selbst. Erklär uns lieber, was du rausgefunden hast.«
Er räusperte sich. »Also gut, hier die Kurzfassung: Sicher ist bisher nur: Besagte Sonja Meyer wurde mit einer sehr schnell wirkenden Substanz vergiftet. Die genauen Untersuchungen im Labor laufen noch. Sobald das Ergebnis da ist, ruf ich euch sofort an.«
»Na klasse!« Lena schnipste mit den Fingern. »Der Todesfall Werner ist noch nicht geklärt und jetzt auch noch ein Giftmord. Du machst uns Mut, Krollmann!«
»Wieso glaubt ihr überhaupt, dass es Mord war?«, fragte Mandy. »Die Frau könnte versehentlich irgendwas Giftiges gegessen oder getrunken haben.«
»Ja, könnte sie. Sieht aber nicht so aus.« Krollmann schlug nun doch die Mappe auf, die Lena ihm aus der Hand gezogen hatte. »Hier steht’s doch. Das Gift war in der Wasserflasche, die Frau Meyer im Auto hatte. Sie muss übrigens sehr sparsam gewesen sein. In ihrer Flasche war Leitungswasser – und eben das Gift. Meint ihr, das ist aus Versehen da reingekommen? Schwer vorstellbar. Eine weitere Möglichkeit wäre Suizid. Aber hätte sie dann ihre normale Tour durchgezogen? Briefe und das ganze andere Zeug verteilt und unterwegs vergiftetes Wasser getrunken?«
»Wohl eher nicht.« Mandys Gesicht verzog sich zur gequälten Grimasse. »Scheiß Zahnschmerzen!«, stöhnte sie auf, was Krollmann mit einem mitleidsvollen Nicken quittierte. »Kann selbst ein Lied davon singen.« Dann sah er Lena an. »Kanntest du Sonja Meyer gut?«
»Ich weiß nicht mal, wann ich sie zum letzten Mal gesehen habe.« Mit gerunzelter Stirn überlegte sie. »Aber wir müssten was über sie im System finden.«
Sie zog die Tastatur ihres Computers heran, tippte und drehte den Bildschirm so, dass Mandy und Krollmann mitlesen konnten. Eine Lehrerin hatte Sonja Meyer wegen Verleumdung angezeigt, die Anzeige später aber wieder zurückgezogen.
»Das ist jetzt zwei Jahre her«, stellte Mandy fest. »Außer Spesen nix gewesen, weil die Lehrerin einen Rückzieher gemacht hat. Wieso sollte sie jetzt eure Postfrau vergiften, wenn die Sache im Sand verlaufen ist?«
Lena musste ein wenig in ihrem Gedächtnis kramen, bevor ihr einfiel: »Frau Meyer wäre damals beinahe rausgeflogen bei der Post. Mit einer Abmahnung ist sie noch mal glimpflich davongekommen. Es ging wohl ums Postgeheimnis. Echt heiße Kiste.«
»Sie war also eine boshafte Klatschtante«, fasste Mandy zusammen.
»Boshaft nicht.« Lena schüttelte den Kopf. »Abgesehen davon, dass sie schwatzhaft war, galt die Frau als hilfsbereit und freundlich.«
»Okay, dann war sie eben eine freundliche und hilfsbereite Klatschtante. Klingt besser, bringt uns aber nicht weiter.« Ungeduldig stampfte Mandy mit dem Fuß auf. »Weißt du wirklich nicht mehr über deine Postbotin?«
»Doch, schon, Sonja Meyer wollte heiraten. Irgendwann in den nächsten Wochen, glaub ich. Verlobt war sie jedenfalls schon ewig und drei Tage.«
»Und wer sollte der Glückliche sein?« Mandy klang gereizt. Die Zahnschmerzen machten sie nicht eben geduldiger.
»Der Mann heißt Bogemühl. Volker Bogemühl.«
»Und wer ist dieser Bogemühl?«
»Er wohnt bei uns im Dorf und arbeitet in der Gärtnerei Kobs.«
Wie von der Tarantel gestochen fuhr Mandy auf. »Sagtest du gerade Kobs? Das ist doch, also … Alle Fäden führen zu Kobs. Siehst du das nicht selbst, Chefin?«
»Krieg dich ein, Mandy. Dieser Faden führt zu einem Mann, der in der Gärtnerei Kobs arbeitet. Nicht mehr und nicht weniger. Kein Grund, gleich auszuflippen.«
»Trotzdem, wir müssen mit dem Mann reden. Sofort!«
»Das machen wir auch, aber eins nach dem anderen.« Lena überlegte. »Der Unfall war gegen dreizehn Uhr. Unmittelbar davor muss sie das Gift getrunken haben, richtig?«
»Richtig«, stimmte Krollmann zu. »Aber frag mich jetzt nicht, wie und wann es in ihre Flasche gekommen ist.«
»Hatte ich nicht vor.«
»Bei dir weiß man nie.«
Mandy drängte: »Wir müssen mit Bogemühl sprechen, Chefin. Worauf wartest du noch?«
»Alles zu seiner Zeit, Mandy. Frau Meyer wohnte noch bei ihrer Mutter, da müssen wir zuerst hin. Sie wird wissen, wann Sonja ihre Trinkflasche gefüllt hat.«
»Na, wann schon? Morgens vor ihrer Tour, würde ich sagen. Gegen dreizehn Uhr ist sie verunglückt, das ergäbe ein Zeitfenster von ungefähr sechs Stunden. Lass uns rausfinden, was Bogemühl zu dieser Zeit gemacht hat.« Ohne auf Antwort zu warten, schob Mandy einen Arm in ihren Blazer, der wie ihre neuen Sommerstiefel olivgrün war. Die Stiefel natürlich wieder mit Absätzen, die Krollmann als spitz zulaufende Tatwaffe klassifiziert hätte. Aber sie sahen wirklich umwerfend gut aus.
Sie hat echt ein Händchen dafür, immer topgestylt auszusehen, dachte Lena und sagte: »Ich fahre zu Sonjas Mutter, und du gehst zum Zahnarzt. Ist ja nicht mit anzusehen, wie du dich rumquälst.«
»Kannst du voll vergessen. Jetzt, wo’s spannend wird, sitz ich doch nicht beim Zahnklempner rum.«
»Dann komm halt mit«, gab Lena nach und kramte die Autoschlüssel aus der Tasche.
***
Sonjas Mutter, eine rundliche Frau mit gutmütigem Gesicht, schien sich nicht im Geringsten zu wundern, als die Kommissarinnen vor ihrer Tür standen. »Ich wusste, dass du …« Liesbeth Meyer stockte und Lena erkannte das Problem sofort. Es war ihr schon mehrmals begegnet, seit sie als Kriminalkommissarin ins Dorf ihrer Kindheit zurückgekehrt war. So mancher, der sie hatte aufwachsen sehen, wusste jetzt nicht recht, ob er sie duzen oder siezen sollte. Für sich selbst hatte sie eine einfache Regel gefunden. Leute, bei denen sich die alte Vertrautheit wie von selbst wieder einstellte, duzte sie, und das waren die meisten. Bei allen anderen bevorzugte sie das Sie und bei dienstlichen Obliegenheiten sowieso.
Sonjas Mutter hatte sich wieder gefangen und brachte zu Ende, was sie sagen wollte. »Ich wusste, dass du kommen würdest, Lena. Sonja konnte schon Auto fahren, als sie vierzehn war. Da knallt man nicht einfach so gegen einen Baum. Schon gar nicht auf einem Weg, auf dem jede Feldmaus schneller ist als ein Auto.«
Sie bat die Kommissarinnen nicht ins Haus, sondern führte sie ums Haus herum auf den Hof, denn sie war gerade dabei, das Federvieh zu versorgen. Während sie Blechnäpfe mit frischem Wasser füllte, sagte sie: »Sonjas Klapperkiste hätte längst in die Werkstatt gemusst. Die von der Post haben das verschlampt.«
Lena konnte gut verstehen, dass die Mutter ihre eigene Theorie zum Unfall ihrer Tochter hatte. Doch die Wahrheit sah nun einmal anders aus. Daran war nicht zu rütteln. Ohne lange drumherumzu-reden, was die Frau, die ihr Kind verloren hatte, nur quälen würde, sagte sie: »Die Post kann nichts dafür, mit Sonjas Fahrzeug war alles in Ordnung. Ihre Tochter ist vergiftet worden.«
»Vergiftet? Nein!« Sonjas Mutter schüttete Futter in hölzerne Tröge. »Das Auto war schuld, die Bremsen oder so.«
»Das Gift war in Sonjas Wasserflasche.«
Der Futtereimer schepperte zu Boden. Das Federvieh spritzte flügelschlagend auseinander und drängte sich gleich darauf umso dichter um sie herum. Hühner scharrten und pickten, Enten schnatterten. Nur die Gänse schnäbelten ungerührt weiter in ihren frisch gefüllten Trinknäpfen. Nichts davon schien Liesbeth Meyer noch wahrzunehmen. Wie vom Donner gerührt stand sie da, starrte Lena an und wiederholte fassungslos: »Gift in der Wasserflasche? Glaub ich nicht.«
»Es war aber so.«
Abwehrend hob Lena die Hand, als Mandy eine Frage nach-schieben wollte. Sonjas Mutter sollte wenigstens ein bisschen Zeit haben, sich zu besinnen. Kreidebleich im Gesicht suchte Liesbeth Meyer in ihrer Schürze nach einem Taschentuch. Sie schniefte, fuhr sich kurz über die Augen und ließ die Arme kraftlos neben dem Körper baumeln. Lena bedrängte sie nicht.
Die Schultern eingezogen, den Kopf gesenkt, schleppte sich Liesbeth Meyer über den mit Feldsteinen gepflasterten Hof. Sie steuerte auf eine alte Holzbank auf der Rückseite des Hauses zu, setzte sich schwer atmend und fing ganz von selbst an: »Ich weiß nicht, was mit Sonja los war in letzter Zeit. Irgendwie war sie anders.«
»Wie anders?« Mandy war hinter Lena stehen geblieben. Sonjas Mutter musste nicht mitbekommen, dass sie Block und Stift aus der Tasche kramte. Sie hatte längst bemerkt, dass die Menschen vorsichtiger wurden, wenn sie sahen, dass aufgeschrieben wurde, was sie sagten. Bei Sonjas Mutter wäre diese Vorsicht nicht nötig gewesen. Sie schaute niemanden an. Sie starrte nur auf ihren Schoß und auf das zerknüllte Taschentuch in ihren Händen. »Sonja muss plötzlich gedacht haben, ihr Volker hätte Wunder was auf der hohen Kante. Reisen wollte sie, ein Haus kaufen.« Traurig seufzte sie auf. »Volker hätte ihr was gehustet, der sitzt auf seinem Geld.«
»Sie hat nichts darüber gesagt, wie sie das alles bezahlen wollte?«
Verwundert schüttelte Liesbeth Meyer den Kopf nach Lenas Frage. »Du weißt doch, dass sie heiraten wollte. Nur deshalb hatte sie mit einem Mal so viele Flausen im Kopf. Ein ganz neues Leben wollte sie anfangen, sogar wegziehen und mich hier allein lassen.« Sie stockte, konnte nicht weitersprechen, Tränen liefen ihr übers Gesicht.
»Ihre Tochter hatte Leitungswasser in der Flasche, wann hat sie die abgefüllt?«
»Heute früh, so gegen halb sieben. Sie denken doch nicht …« Was Lena nicht denken sollte, blieb unausgesprochen. Liesbeth Meyer nickte vor sich hin: »Punkt sieben saß Sonja in ihrer Klapperkiste, so wie an jedem Morgen. Man kann …« Sie schluckte und drehte sich weg. »Man konnte die Uhr nach ihr stellen. Mein Mädchen war nie unpünktlich.«
Lena sah den zuckenden Rücken, während sie fragte: »Dürfen wir uns ein wenig in Sonjas Zimmer umsehen?«
»Kannst du machen, Lena, wird aber nichts bringen. Ich glaub immer noch, dass die elende Klapperkiste schuld war. Sonja konnte nicht bremsen, nur darum ist der Unfall passiert.«
Das kleine Zimmer war ordentlich aufgeräumt, das Bett gemacht, nichts lag herum. Nur ein zerknülltes Stück Papier, das aussah, als wäre es aus einer Illustrierten herausgerissen worden, hatte sich unter das Schränkchen neben dem Bett verirrt. Lena faltete es auseinander und stutzte. An mehreren Stellen waren Worte herausgeschnitten. Was war das denn? Sie sah sich weiter um und entdeckte den Papierkorb, voll mit Schnipseln und bunten Seiten. Überall waren Worte herausgeschnitten, manchmal auch nur Buchstaben von Überschriften. Noch ehe Lena sich von ihrer Überraschung erholt hatte, stieß Mandy einen schrillen Pfiff aus. Lena drehte sich um, konnte aber nicht erkennen, was Mandy aus einem Handtuch wickelte. Erst als sie einen Schritt auf sie zuging, sah sie den Fotoapparat und den braunfleckigen Hammer mit den ungleich langen Spitzen.
***
Lena hatte Volker Bogemühl als unscheinbaren, fast schon hässlichen Mann von magerer Gestalt in Erinnerung. Solange sie ihn kannte, hatte er tiefe Geheimratsecken im schütteren Haar und ein graues hageres Gesicht gehabt. Er musste Ende dreißig sein, um die zehn Jahre älter als seine Verlobte.
Einen Kanister auf dem schmalen Rücken stand er im schwül-warmen Gewächshaus und besprühte Orchideen mit einem übel riechenden Gemisch. Er nebelte die dickfleischigen Blätter so gründlich ein, dass milchige Flüssigkeit auf die langen Tische tropfte.
»Guten Tag, Herr Bogemühl!«, begrüßte ihn Lena, die gegen den beißenden Geruch ankämpfen musste. »Hätten Sie kurz Zeit für uns?«
Durch dicke, vom Sprühnebel beschlagene Brillengläser sah er sie an. »Zeit? Wieso denn? Muss arbeiten, seh’n Sie doch.«
Lena sah vor allem, dass er noch knochiger wirkte, als sie ihn in Erinnerung hatte. Die grau verwaschene Arbeitsjacke war zu weit für den dürren Körper, die Hose zu kurz für die langen Beine. Die vom Sprühnebel schlierige Brille konnte die dunklen Schatten unter seinen Augen nicht verbergen.
Als wären ihm Lenas Blicke unangenehm, drehte er ihr den Rücken zu. Die nächste Nebelwolke trieb ihr Tränen in die Augen. »Tut mir sehr leid, was Ihrer Verlobten passiert ist, Herr Bogemühl«, krächzte sie. Ihre Worte prallten von seinem Kanister ab. Der Sprühnebel waberte weiter. Als Mandy nieste und krampfhaft zu husten begann, drehte Bogemühl sich um, sah ihre geschwollene Wange und lächelte mitfühlend. »Nelke«, sagte er. »Nelke hilft.«
»Hä?« Mandy klang verwirrt. Sie hatte keinen Schimmer, was der Mann von ihr wollte.
»Gewürznelke aus’m Küchenschrank«, schob er nach. »Bisschen drauf rumkauen, nix weiter. Hat meine Oma schon so gemacht, hilft gegen Zahnschmerzen.«
»Ihre Oma, ach so, na dann.«
Mandys spöttische Bemerkung ließ ihn mit den Schultern zucken. »Hab’s nur gut gemeint.«
Lena tippte ihn an. »Wir müssen reden, Herr Bogemühl.«
»Warum? Meine Sonja ist tot.«
»Eben deshalb.«
Er konnte sich nicht länger beherrschen, sein Kummer brach aus ihm heraus. »Alles war abgesperrt. Die Feuerwehr und Leute von der Rettung … alle waren sie da. Nur ich durfte nicht hin zu ihr. Die verdammten Bullen! Festgehalten haben sie mich.«
Er nahm seine verschmierte Brille ab und fuhr sich über die Augen. »Sonja ist gestorben und ich durfte sie nicht sehen. Kein Gewissen habt ihr Bullen.«
»Sie waren am Unglücksort? Wie haben Sie so schnell von dem Unfall erfahren?«
Er blinzelte, musste sich erst auf Lenas Frage besinnen. »Ach so, ja …« Der nächste Sprühstoß traf die zarten Pflanzen. »Die Alte vom Chef hat’s uns gesagt. Sie war gestern im Dorf, als Sonja … als es passiert ist.«
Unerwartet packte er Lenas Hand. »Ich muss sie noch mal sehen. Bitte! Können Sie da nicht was machen, Frau Voßberg?«
»Natürlich können Sie Ihre Verlobte noch einmal sehen«, beruhigte ihn Lena. Er ließ ihre Hand los und wollte schon aufatmen, da platzte Mandy heraus: »In dem Behälter auf Ihrem Rücken, ist da Gift drin?«
Verwundert hob er die farblosen Brauen. »Was denken Sie denn, was da drin ist, hä?« Er bekam keine Antwort und begann, genau wie Sonjas Mutter zu schimpfen. »Die von der Post sind schuld. Die verdammte Karre hätte längst in die Werkstatt gemusst.«
Mandy behielt ihn fest im Blick, sie wollte seine Reaktion sehen, während sie sagte: »Die Post kann nichts für den Unfall. Ihre Sonja ist vergiftet worden.«
»Sind Sie noch ganz dicht?« Mit verzerrtem Gesicht trat er einen Schritt auf sie zu. Gerötete Augen funkelten sie wütend an. »Wohl nicht ganz klar im Bullenhirn, was?«
»Sie hat recht«, fuhr Lena dazwischen. »Es war nicht einfach nur ein Unfall.«
Er schluckte, setzte seine schmierige Brille wieder auf, und Lena fragte sich, ob er damit überhaupt noch etwas sehen konnte.
»Ich versteh das nicht«, presste er heraus. »Sonja ist … war eine gute Fahrerin. Irgendwas muss sie abgelenkt haben. Nur deshalb ist sie gegen die Eiche gekracht. Es war nicht ihre Schuld.«
»Nein, war es nicht. Sie wurde vergiftet.«
Bogemühl tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Kein Mensch vergiftet ein so harmloses Mädchen wie meine Sonja.«
»Laborwerte lügen nicht, Herr Bogemühl.«
»Menschen schon. Und sie machen Fehler.«
Lena senkte die Stimme, als würde sie mit einem Kind sprechen. »Es war nicht nur ein Unfall!«
Als einzige Reaktion streifte Bogemühl die Gurte des unförmigen Kanisters von den Schultern, ließ ihn fallen und wollte einen Schritt auf Lena zugehen. Dabei verfing sich sein Fuß im Lederriemen. Der Kanister kippte um, Bogemühl explodierte. »Die ganze Familie haben Sie schon verrückt gemacht mit Ihrem Gequatsche. Erst soll der Sohn vom Chef ein Mörder sein, und jetzt kommen Sie hierher und sagen, jemand hätte meine Sonja vergiftet. Was kommt denn als Nächstes?«
Das schüttere Haar klebte ihm am Schädel. Aus seinem Mund kam ein bitteres Lachen. »Ich muss Sonja noch mal sehen. Wie kann ich sonst glauben, dass sie … dass sie nicht mehr da ist?«
»Sie dürfen sie sehen, Herr Bogemühl, ich hab’s doch schon versprochen«, versuchte Lena, zu ihm durchzudringen. »Aber antworten Sie doch bitte auf unsere Fragen. Gab es jemanden, mit dem Sonja Streit hatte?«
»Streit?« Er blinzelte verwirrt. »Mit Sonja konnte man nicht streiten. Sie wollte es immer allen recht machen, das war ja ihr Problem.«
»Wie, ihr Problem?«
Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. »Sie haben Sonja doch gekannt, Frau Voßberg. Sie wissen, wie sie gewesen ist.«
»Sie kannten sie besser als ich. Erzählen Sie ein bisschen von ihr.«
»Was woll’n Sie denn hör’n?« Sein von farblosen Stoppeln umgebener Mund verzog sich zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte. »Sie hat sich oft in die Nesseln gesetzt, weil sie ihren Schnabel nicht halten konnte. So ist sie gewesen, meine Sonja. Eine dämliche Lehrerziege hat sie sogar mal angezeigt. Dabei hatte Sonja nur die Wahrheit gesagt, das konnte die Alte nicht ab. Sie glauben mir doch, Frau Voßberg, oder?«
Mandy nutzte die eintretende Stille und fragte: »Wo waren Sie eigentlich gestern Vormittag, Herr Bogemühl?«
Seine Brauen schoben sich zusammen, tiefe Falten über der Nase ließen ihn finster aussehen. »Ich war hier, wo ’n sonst?«, stieß er brummig heraus. »Halb sieben bin ich gekommen und hab mich nicht mehr weggerührt. Warum auch? Ist viel zu tun in so ’ner Gärtnerei.«
Als ihm endlich aufging, was Mandy mit ihrer Frage bezweckt hatte, fuhr er sie an: »Sie denken doch nicht, ich hätte Sonja was getan?«
Er rieb die von der Arbeit schmutzigen Hände an der nicht minder schmutzigen Hose ab und stieß mit dem Fuß gegen den umgekippten Kanister, aus dem milchige Flüssigkeit tröpfelte. Umständlich zog Mandy ein Papiertaschentuch aus der Verpackung, ein zweites löste sich und fiel in die milchige Pfütze.
»Oh, oh!« Mandy bückte sich, hob das tropfnasse Tuch mit spitzen Fingern auf und stopfte es in ein Plastiktütchen, das sie augenblicklich in ihrer Tasche verschwinden ließ. »Wir wollen doch keinen Müll hinterlassen.« Sie lächelte Bogemühl mit harmloser Miene an. »Was ich übrigens noch fragen wollte, wann haben Sie Ihre Verlobte zum letzten Mal gesehen?«
Misstrauisch sah er die junge Kommissarin an, die plötzlich Stift und Notizblock in den Händen hielt. »Muss weiterarbeiten, bin ja kein Beamter, der fürs Reden bezahlt wird«, brummelte er unwirsch.
»Herr Bogemühl, ich warte!«
Die plötzliche Schärfe in der kindlichen Stimme schien den Mann zu überraschen. »Vorgestern Abend«, presste er heraus.
»Wie, vorgestern Abend?«
»Da hab ich Sonja zum letzten Mal gesehen. Wollten Sie doch wissen, oder nich?«
»Ja, wollte ich. Und wie ist der Abend verlaufen?«
»Normal halt.«
»Ein bisschen mehr sollten Sie uns schon erzählen.«
»Wenn’s unbedingt sein muss.« Sein Gebrummel entblößte eine Zahnlücke im Unterkiefer. »Gegessen, ferngesehen, ein bisschen geredet und dann, na ja …«
Verblüfft sah Mandy, dass Bogemühl unter seinen farblosen Bartstoppeln rot wurde.
Er senkte den Kopf, sah auf seine klobigen Arbeitsschuhe und sagte: »Aber Sonja war anders als sonst.«
»Etwas genauer hätte ich das schon gern.«
»Außer Rand und Band ist sie gewesen. Hat dummes Zeug gefaselt, als ob Geld auf Bäumen wachsen würde. Eigenes Haus, weite Reisen. Dummes Zeug eben. Wo sollte denn das Geld dafür herkommen, ja, woher denn?«
Bedeutungsvoll sah Mandy ihre Chefin an. Als die nickte, fragte sie: »Sie waren zusammen auf dem Mühlenfest, richtig?«
»Ja, war’n wir, warum?«
»Und Sie sind zusammen nach Hause gegangen?«, spulte Mandy ihren Faden weiter ab, ohne auf seine Frage einzugehen.
Er hob den Blick nicht von seinen klobigen Schuhen, schüttelte nur stumm den spärlich behaarten Kopf.
Mandy stupste ihn an der Schulter an. »Sie müssen schon mit mir reden, Herr Bogemühl.«
»War mir zu viel, das ganze Gequake und Getue da auf dem Fest. Sonja hat’s gefallen. Sie wollte nachkommen, ist dann aber lieber zu ihrer Mutter nach Hause.«
Und wir wissen auch, warum, dachte Lena und fragte: »Was hat sie denn über den Nachmittag auf dem Fest erzählt? Sie werden doch drüber geredet haben? Gab es irgendwas Besonderes?«
Jetzt sah er tatsächlich von seinen Schuhen auf, sagte: »Nö, ham wir nich.« Und verfiel wieder in Schweigen.
Lieber Gott, schenk dem Mann Worte, flehte Lena.
Mandy begnügte sich mit irdischen, wenn auch sehr direkten Dingen. »Seit dem Fest hatte ihre Verlobte teure Wünsche. Könnten Sie sich vorstellen, dass sie von jemandem Geld verlangt hat?«, fragte sie geradeheraus.
Verwundert kratzte er sich am Kopf. »Was für’n Geld denn?«
»Sagen wir mal so, sie wusste etwas, hat vielleicht irgendwas beobachtet, und dafür, dass sie es für sich behielt, wollte sie Geld haben.«
Bogemühl fuhr nicht auf. Er fand nicht, Mandy sei reif für die Klapse. Wenigstens erwähnte er nichts davon. Er glotzte sie nur an und sagte: »Nö, so war meine Sonja nich.«
»Aber Sie haben gestritten. Wegen der Flausen in Sonjas Kopf, oder?« Nach diesen Worten trat Mandy vorsichtshalber einen Schritt zurück.
Doch Bogemühl schob die Hände in die Taschen seiner zu kurzen Arbeitshose. Über sein hageres Gesicht flog ein flüchtiges Lächeln. »Hab sie quasseln lassen. Reden kost nix. Sonja war immer sparsam, sollte sie ruhig bisschen träumen. Sie wär schon wieder normal geworden.« Er nahm die Brille wieder ab, schob sie in die Brusttasche seiner Jacke und fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »’ne schöne Feier zur Hochzeit, ja, die hätt ich uns gern bezahlt. Auch ’n weißes Kleid für die Kirche sollte sie sich kaufen, eins mit Schleier, so, wie sie’s gern haben wollte. Man heiratet doch nur einmal. Denkt man wenigstens.«
Bogemühl, dem bewusst zu werden schien, dass er mehr von sich gegeben hatte als gewöhnlich zwischen Neujahr und der Weihnachtsbescherung, senkte den Kopf und schwieg.
Lena ließ ihm etwas Zeit, bevor sie nachhakte: »Sonst hat Ihre Verlobte wirklich nichts erzählt? Sie wollte von niemandem was und niemand wollte was von ihr?«
»Fang’n Sie schon wieder damit an? Sonja war einfach nur glücklich. Wie oft soll ich das noch sagen?«
»Hm«, machte Mandy. Als würde ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schießen, wies sie mit dem Zeigefinger auf seine Brust. »Sie sind gestern nicht schnell noch mal weg gewesen? Vor dem Unfall meine ich. Vielleicht in der Pause? Oder vor der Arbeit?«
»Wieso denn? Gleich nach dem Aufstehen bin ich hierher. Und zum Frühstück trink ich mit dem Chef Kaffee aus der Thermos-kanne, die uns seine Alte in die Küche stellt. Dabei verdrücken wir unsere Stullen und quasseln ein bisschen. Was sonst?«
»Sie frühstücken immer zusammen?«
»Immer! Mit ihm und mit den Aushilfen, wenn welche da sind. Und mit Nelly, der Schwiegertochter vom Chef. Ach ja, und mit Felix, unserm Stift, wenn der nicht gerade im alten Schuppen eine durchzieht. Der Jungsche hockt sich selten zu uns. Ist doch meistens unterwegs, der Bengel.«
Mandy wedelte mit ihrem Notizblock. »Mit dem Jungschen meinen Sie Peter Kobs, richtig? War er gestern hier? Haben Sie ihn gesehen?«
»Nö, warum?«
»Sie haben ihn den ganzen Vormittag über nicht gesehen? Sind Sie da absolut sicher?«
»Sonst hätt ich’s nich gesagt.«
Lena wusste genau, warum Mandy so hartnäckig nachbohrte. Sie sah Peter Kobs jetzt auch als Giftmischer. Als Nächstes würde sie ihr die Erkenntnis servieren, dass Sonja Meyer ihn erpresst hatte. Natürlich weil er Holger Werner erschlagen und Sonja ihn dabei beobachtet hatte. Beim Gedanken an die milchige Flüssigkeit, die Mandy in ihrem Papiertaschentuch sicher verwahrte, konnte Lena einen Seufzer nicht unterdrücken. Sie wusste nur zu gut: Alles war möglich.
***
Betrübt sah Mandy auf ihre nagelneuen olivgrünen Stiefel, die im erdigen Weg hinüber zum efeuberankten Wohnhaus der Gärtner-familie kreisrunde Löcher hinterlassen hatten. »Mist«, beschwerte sie sich. »Die Absätze sind hin. Weißt du, was die Stiefel gekostet haben?«
»Mein Mitleid hält sich in Grenzen.«
»Du bist gemein, Lena.«
»Bin ich nicht! Wer in Stiefeln aus teurem Nappaleder durch eine Gärtnerei stöckelt, hat zu viel Geld oder ist einfach nur dämlich.«
Mandy stieß ein undefinierbares Schnaufen aus und wies auf das alte Fachwerkhaus. »Da vorn parkt ein Auto. Die Kobs haben Besuch.«
»Das ist kein Besuch, der Audi gehört Thiel junior, unserem neuen Landarzt.«
»Ist jemand krank bei den Kobs?«
»Muss wohl so sein. Blumen will Thiel hier bestimmt nicht kaufen.«
»Tag, die Damen!«, grüßte der Mann, der mit filmreifem Lächeln aus dem Haus trat. An Lena gewandt wurde daraus ein jungenhaftes Grinsen. »Hey, Lena! Was machst du denn hier?«
»Und du? Lass mich raten, die Frau vom Chef hat Rücken oder Migräne?«
»Oh!«, tat er erschrocken. »Ist das der Beginn eines Verhörs?«
»Was hätten Sie denn zu gestehen, Herr Doktor?« Mandy wippte mit der Stiefelspitze, der Ärger über die zerschundenen Absätze war für den Augenblick vergessen.
Thiel blinzelte und legte die Linke auf die Herzgegend, als wollte er einen Eid schwören. »Stellen Sie Ihre Fragen, Frau Kommissarin. Ich werde die Wahrheit sagen und nichts als die Wahrheit.«
Dieser verrückte Kerl, dachte Lena belustigt. Er hatte sich kein bisschen verändert. Immer und überall musste er flirten. So war er schon am Gymnasium gewesen und die liebe Mandy war keinen Deut besser.
Ihr spöttischer Blick hielt Thiel nicht davon ab, Mandy zu ermuntern. »Nur zu! Ich sage gern aus. Frau Kobs hat Rücken. Und ja, Migräne noch dazu. Ist auch kein Wunder, wenn die Polizei den Sohn für einen Mörder hält.«
»Hat sie das gesagt?«
»Musste sie nicht, das ganze Dorf weiß Bescheid.«
»Dann weiß das ganze Dorf mehr als die Polizei. Wir ermitteln nicht nur in eine Richtung.«
»Schöne Floskel.« Thiel grinste breit. »Das heißt ja wohl, ihr wisst rein gar nichts. Hab ich recht, Lena?«
»Im Leuteausfragen bist du nicht besonders geschickt, Jens Thiel.«
»Ist ja auch dein gut bezahlter Job, nicht meiner.«
»Gut bezahlt, ha, ha!«, gickelte Mandy dazwischen. »Lange nicht so herzhaft gelacht. Übrigens wollten wir sowieso mit Ihnen reden, Herr Doktor.«
»Mit mir reden?« Thiels Grinsen verflog. Verblüfft sah er Lena an. »Warum das denn?«
»Ja, warum wohl?« Lena war sich nicht sicher, ob sie sich mehr über Thiel oder über Mandy ärgern sollte. Dieses Rumgeblödel der beiden war einfach nur nervig. Sie bedachte erst Mandy und dann ihren einstigen Banknachbarn am Angersbacher Gymnasium mit einem gereizten Blick. »Du hast den Verletzten nach der Schlägerei auf dem Mühlenfest sozusagen erstversorgt. Kanntest du den Mann?«
Thiel umfasste seinen Koffer mit beiden Armen und hielt ihn wie einen Schild vor die Brust. »Den Verletzten? Jetzt mach mal halblang, Lena. Die harmlose Platzwunde im Bereich der Augenbraue war nicht der Rede wert. So was sieht schlimm aus, heilt aber schnell wieder ab. Ich hab dem Mann das Gesicht gereinigt und ein Pflaster auf die Stirn geklebt. Mehr war nicht nötig.«
»Er war nicht ernsthaft verletzt?«
»Nein, war er nicht. Nicht die Bohne, hätten wir früher gesagt.«
»Kanntest du den Mann?«, wiederholte Lena ihre Frage.
»Keine Ahnung, wer er war und wo er herkam. Ich hab ihn vorher noch nie gesehen.«
»Hat er dir irgendwas erzählt? Worüber habt ihr geredet?«
»Über gar nichts. Ihm war nicht nach Reden und mir auch nicht.«
»Hm.« Lena spürte, dass ihr alter Schulkumpel die Schotten dichtmachte. Na gut, wenn er nicht wollte, dann wollte er eben nicht. Zu den Ermittlungen konnte er ohnehin nichts beitragen und auf Small Talk hatte sie keine Lust. Thiel war nun mal, wie er war: eitel und geradezu ängstlich auf Anerkennung bedacht. Aber er war auch klug und, wenn es darauf ankam, ausgesprochen kameradschaftlich. So hatte sie ihn über Jahre hinweg erlebt. Thiel war nicht der Schlechteste. Ein Gedanke, der sie unwillkürlich lächeln ließ. Sie klang ernst, aber nicht unfreundlich, als sie sagte: »Der Mann soll auf dem Fest jemanden getroffen haben, den er von früher kannte.«
Fragend hob Thiel die Brauen. »Ach ja? Wer soll das denn gewesen sein?«
»Das ist eben die große Frage. Auf jeden Fall hat er seiner Frau davon erzählt. Die beiden haben noch telefoniert an diesem Nachmittag.«
»Er hat noch telefoniert? Der Mann hatte Familie?«
»Ja, hatte er. Eine Frau und drei kleine Kinder.«
»Die Armen! Die Kinder trifft es immer am schlimmsten.«
Zu Lenas Erstaunen hatte sich Thiels lockeres Gehabe urplötzlich in Luft aufgelöst. Nachdenklich runzelte er die Stirn. »Tut mir wirklich leid, dass ich euch nicht helfen kann.« Als würde er grübeln, wippte er von der Ferse auf die Fußspitze. Ferse, Spitze und zurück, den Arztkoffer noch immer wie einen Schild vor der Brust. Schließlich bot er an: »Ich kann mich ja ein bisschen umhören. Wenn ich was rauskriege, rufe ich euch an.«
»Würde mich freuen, Jens.«
Mandy verzog ihre dicke Pausbacke, was ein gequältes Lächeln ergab. »Das wäre super, Herr Doktor. Zwei Morde und keiner will was mitgekriegt haben. Das gibt’s doch gar nicht.«
»Zwei? Wieso zwei Morde?« Thiel, der schon die ersten Schritte zu seinem silberfarbenen Audi gemacht hatte, drehte sich ruckartig um. »Wieso zwei Morde?«, fragte er noch einmal.
»Meine junge Kollegin mutiert zur Quasselstrippe«, hielt Lena Mandy von einer Antwort ab. »Aber was sie sagt, stimmt leider. Sonja Meyer ist vergiftet worden.«
Er wirkte verwirrt. »Ich dachte, sie hatte einen Unfall?«
»Nein. Kein Unfall, die Frau ist an Gift gestorben.«
»Dieses harmlose Mädchen? Kaum zu glauben! Erst wird ein Mann aus Berlin erschlagen und dann unsere Postfrau vergiftet. Was ist nur los in unserem Paradies?«
Mandy, die nicht wirklich lächeln konnte, versuchte es mit einem strahlenden Blick. »Gute Frage, Herr Doktor.«
Lena packte sie am Arm. »Jetzt komm endlich, wir müssen mit Kalle Kobs reden. Er sitzt in seinem Büro, hat Bogemühl gesagt.«
»Was soll die Hektik?«, nörgelte Mandy verdrießlich, als Thiel außer Hörweite war. »Man wird ja wohl noch drei Worte mit einem Zeugen wechseln dürfen.«
»Worte wechseln, ja, anhimmeln, nein.«
»Blödsinn! Aber gib’s ruhig zu, dieser Arzt sieht verteufelt gut aus.«
»Und du redest verteufelt viel Blödsinn. Wieso musstest du über den zweiten Mord reden? Was gehen diesen Casanova unsere Fälle an?«
»Er hat uns seine Hilfe angeboten.«
»Ja, als es um Holger Werner ging. Von Sonja Meyer war nicht die Rede.«
»Den Giftmord kannst du nicht unter der Decke halten, Chefin. Bogemühl weiß es jetzt und damit auch schon bald die ganze Familie Kobs. In ein paar Stunden ist es Dorfgespräch. Dann schwadronieren alle nur noch über Gift und Totschlag. Warum sollte ich nicht mit dem Arzt darüber reden, der uns vielleicht helfen kann?«
»Du hast nicht mit ihm geredet, Mandy, du hast mit ihm ge-flirtet.«
»Hab ich nicht, ich war nur nett.«
»Dann möchte ich nicht wissen, wie bei dir Flirten aussieht.«
»Du bist eifersüchtig, beste Chefin!«
»Sei nicht albern, Mandy. Komm in die Gänge, wir müssen mit Kobs reden. Mit Vater Kobs.«
***
Schon im Hausflur vernahmen sie die ärgerliche Stimme des Gärtnermeisters Karl-Heinz Kobs. Unfreiwillig hörten Lena und Mandy mit, dass die Qualität irgendwelchen Düngers bei der letzten Lieferung unter aller Sau gewesen sei. Als sie nach kurzem Klopfen in sein kleines Büro eintraten, knallte Kobs das Telefon auf die Station. Die Sorgenfalten auf seiner Stirn blieben. Nach einem knur-rigen »Morjen, morjen« sagte er ohne lange Vorrede: »Ihr wart bei Bogemühl. Der Mann tut mir leid.«
»Ist er gestern den ganzen Vormittag über hier gewesen? Kam um halb sieben und hat sich keine Minute vom Hof gerührt?«, passte Lena sich seiner knappen Art, zu sprechen an.
»Ich kann’s beschwören, Lena. Wir haben gearbeitet, gefrühstückt und uns wieder an die Arbeit gemacht. Alles war wie immer.«
»Schwören musst du nicht, Kalle. Ich glaub dir auch so. Und entschuldige, ich muss das jetzt fragen: Dein Sohn? Wo war der gestern von früh bis Mittag?«
»Schon gut, Lena, du machst nur deine Arbeit.« Die buschigen Brauen ruckten enger zusammen, vertieften für einen Augenblick die Falten über der Nase. »Peter hat gegen sechs seinen Sprinter beladen, dann ist er weg. Zurück kam er«, der Gärtnermeister überlegte kurz, »so gegen vier. Doris hatte den Fernseher für ihren Nachmittagskrimi gerade eingeschaltet. Bogemühl und ich, wir haben uns in der Küche ’nen Kaffee gegönnt, darum konnten wir Peters Sprinter hören.«
»Du weißt also nicht, wo er morgens nach sechs gewesen ist?«
Bekümmert schüttelte Kalle den Kopf.
Als Lena aufstand, hielt er sie zurück. »Mach deine Arbeit, wie du sie machen musst, Lena. Ich kann nur sagen, mein Sohn ist ein Hallodri, aber ein Mörder ist er nicht. Und für Bogemühl leg ich die Hand ins Feuer. Der war hier und hat keinen Fuß vor den Zaun gesetzt. Seine Sonja war sein Ein und Alles.«
»Ich glaub dir ja, Kalle.« Lena nickte. Ihr Blick glitt über den Schreibtisch hinweg zu dem Schwarz-Weiß-Foto an der Wand hinter dem Gärtnermeister. Es zeigte einen Mann in den besten Jahren, Kleidung und Frisur nach aus Kaisers Zeiten. Genau wie Urgroßvater Louis, der die Gärtnerei gegründet und vielleicht auch schon an diesem alten Schreibtisch gesessen hatte, war auch Kalle ein tatkräftiger Mann. So kannte ihn Lena seit ihrer Kindheit. Und Sohn Peter? Lena hoffte inständig, dass Kalle recht hatte mit seinen Worten: Mein Sohn ist ein Hallodri, aber ein Mörder ist er nicht! Sie hoffte es und wusste doch, dass es anders sein konnte.
***
Einem Schlagloch ausweichend fuhr Lena am Biergarten des Rag-lower Dorfkrugs vorbei. Selbst im Vorbeifahren war zu erkennen, wie lebhaft die Männer am rustikalen Holztisch miteinander diskutierten.
»So viel hatten sie hier schon lange nicht mehr durchzuhecheln«, stellte Mandy seufzend fest. »Zwei Todesfälle in einer Woche, und wir scheinen die Einzigen zu sein, die noch im Dunkeln tappen.«
Lena, jetzt wieder auf schnurgerader Fahrbahn, riskierte einen Blick zurück. Doch von den Männern am Biertisch war nichts mehr zu sehen.
»So ganz im Dunkeln tappen wir ja nicht. Zumindest können wir die Zeit eingrenzen, in der das Gift in Sonjas Flasche gekommen sein muss«, nahm sie Mandys Gedanken wieder auf. »Auch wenn die Untersuchung im Labor nicht abgeschlossen ist, weil noch nicht alle Spuren ausgewertet sind, mit ziemlicher Sicherheit haben wir den Hammer bei ihr gefunden, mit dem Holger Werner erschlagen worden ist. Bleibt die Frage: Wen hat sie erpresst?«
»Ja, wen wohl? Dein Freund Kobs steht ganz oben auf meiner Liste.«
»Weiß ich, Mandy, du glaubst, er hat den Taxifahrer erschlagen und anschließend die Frau vergiftet, die das irgendwie mitgekriegt hat, richtig?«
»So ungefähr, ja. Was die Meyer angeht, bin ich nicht so sicher. Könnte auch sein, dass ihr Verlobter doch Wind gekriegt hat, von der Erpressung. Und irgendwie, ich weiß nicht, irgendwie ist das alles außer Kontrolle geraten. Er wollte halt nicht der Verlobte und schon gar nicht der Ehemann einer Kriminellen sein. Nicht in so einem Klatschnest.«
»Und deshalb soll er sie vergiftet haben? Kannst du voll vergessen. Der alte Kobs gibt ihm ein Alibi, und der Mann lügt nicht.«
»Jeder lügt, wenn’s ihm in den Kram passt.«
»Gut zu wissen, Mandy.«
Lena bremste und bog scharf rechts auf die B 2 in Richtung An-gersbach ab.
»Was Bogemühl und den alten Kobs betrifft, wirst du wohl recht haben, Lena«, hörte sie Mandy neben sich sagen. »Aber bei Sohn Peter sieht’s anders aus, das kannst du ruhig zugeben. Und fang jetzt nicht damit an, dass auf dem Hammer keine DNA von ihm zu finden war. Er wird Handschuhe getragen haben. Das wäre dann allerdings keine spontane Raserei, sondern ein kaltblütig geplanter Mord. Wir finden schon noch raus, was passiert ist, wir müssen einfach nur unsere Arbeit machen.«
»Ja, das müssen wir«, stimmte Lena zu. »Aber vorher setz ich dich beim Zahnarzt ab, ist ja nicht mit anzusehen, wie du dich rum-quälst.«
»Musst du nicht, ich probier Oma Bogemühls Geheimrezept aus. Nelke hilft, meint ihr Enkel.«
»Super Idee, wenn du weiter so seltsam aussehen und tapfer leiden willst.«
»Ich seh seltsam aus?« Erschrocken fuhr sich Mandy an die Wange.
»Jeder Posaunenengel wäre neidisch auf deine Backe.«
»Verdammt, gerade heute!«
Lena schoss einen finsteren Blick ab. »Du sagst mir jetzt sofort, dass du nicht meinst, was ich vermute.«
»Wie soll ich wissen, was du vermutest?«
»Stell dich nicht dümmer, als du bist.«
»Gib’s einfach zu, Lena. Dieser Arzt hat schon was.«
»Ja, hat er, vor allem ständig wechselnde Liebschaften. So war er schon in der Schule. Nach sechs gemeinsamen Jahren am Angers-bacher Gymnasium weiß ich, wovon ich rede.«
»Dann sag doch einfach, wovon du redest, statt den Mann immer nur runterzumachen.«
»Ich mach ihn nicht runter, und du kannst ihn so toll finden, wie du willst. Ich sage dir nur, dass nichts auf dieser Welt eine so kurze Halbwertzeit hat wie die Liebschaften des Jens Thiel. Dürfte also genau deine Kragenweite sein.«
»Merkst du eigentlich noch, wie fies du sein kannst?«
»Wenn’s hilft, Mandy.«
»Tut es aber nicht. Ich denke nämlich, so gut, wie du glaubst, kennst du Thiel gar nicht. Außerdem ist eure Schulzeit lange her und die Menschen ändern sich. Vielleicht hat er bloß noch nicht die Richtige getroffen.«
»Ach, und das willst ausgerechnet du sein? Mach dich nicht lächerlich.«
»Wieso lächerlich? Wusstest du eigentlich, dass die ersten drei Sekunden darüber entscheiden, ob man einen Menschen mag oder nicht? Darüber gibt es sogar Studien. Und nicht das Herz entfacht unsere Gefühle. Für diesen Job sind unendlich viele Nervenzellen zuständig. Hast du bemerkt, wie er mich angesehen hat?«
»Träum weiter, Mandy.«
»Ich mein doch nur …«
»Stimmt, du meinst nur.« Lena lachte auf. »Dabei weißt du nicht mal, ob du nun schwanger bist oder nicht. Deine unendlich vielen Nervenzellen scheinen ihren Job nicht ganz kapiert zu haben.«
***
Der in Sonjas Zimmer gefundene blutbefleckte Hammer war tatsächlich die Tatwaffe. Die Postbotin musste also nach dem Mord im Mühlenschuppen gewesen sein. Als Täterin kam sie nicht infrage, dafür war sie laut Krollmann deutlich zu klein. Doch was hatte sie dazu bewogen, den alten Schuppen zu abendlicher Stunde noch einmal zu betreten? Hatte sie den Mord an Holger Werner beobachtet? Oder nur gesehen, wer vor ihr am Sägegatter gewesen war?
Fest stand bisher: Bevor sie mit ihrem Auto ungebremst gegen eine wuchtige Eiche gekracht war, hatte sie zum Abschluss ihrer Tour ungefähr eine Stunde bei der 93-jährigen Witwe Hertha Weidemann zugebracht. Während sie bei der alten Frau Kaffee getrunken und jede Menge Kuchen in sich hineingestopft hatte, stand ihr Fahrzeug unbeachtet draußen am Straßenrand.
Auch am Morgen, als sie das Auto im Verteilzentrum beladen und sich noch kurz im Gebäude aufgehalten hatte, hätte sich jemand an ihrer Wasserflasche zu schaffen machen können, wie der Leiter des Zentrums nach Lenas hartnäckigem Nachfragen widerwillig zugab. Mandys unverblümte Frage, ob Frau Meyer einer Betrügerei in ihrem Arbeitsumfeld auf die Spur gekommen sein könnte, brachte den korpulenten Mann beinahe zur Weißglut. Mehrfach hatte sie ihm versichern müssen, dass weder sie noch Hauptkommissarin Voßberg davon ausgingen, der Tod der jungen Frau könnte etwas mit ihrem Job zu tun haben.
Nach dem Gespräch mit Sonjas Chef fuhren Lena und Mandy auf der A 11 in Richtung Stettin. Sie verließen die Autobahn über die letzte Abfahrt auf deutscher Seite und hatten nur noch wenige Kilometer bis zum Haus der Pfarrerswitwe.
»Ach herrje, die Polizei kommt zur mir!« Die alte Frau schlug die Hände ans zerfurchte Kinn und schaute bekümmert auf die beiden Frauen, die unverhofft vor ihrer Tür standen.
Die einst hochgewachsene, inzwischen vom Alter gekrümmte Frau hatte Lenas Worte in ihrer Aufregung nicht recht verstanden, aber instinktiv erfasst, worum es ging. Fahrig klopfte sie die Taschen ihrer Schürze ab. »Meine Brille, wo hab ich die bloß wieder?«
Lena tippte sich mit zwei Fingern auf den Scheitel.
Hertha Weidemann tastete über ihr dünn gewordenes Haar. Mit verlegenem Lächeln nestelte sie das altmodische Gestell aus den grauen Löckchen und setzte es sich auf die Nase.
Als sie sah, dass es tatsächlich Lena war, die vor ihr stand, entspannte sie sich. Die Enkelin ihrer alten Freundin Martha konnte ihr doch wohl nichts Böses wollen.
»Guten Tag, Frau Weidemann«, wiederholte Lena. »Dürfen wir reinkommen? Bisschen reden?«
»Reden? Aber ja doch, natürlich, Fo…!«
Foxi hatte sie sagen wollen. Lenas alter Spitzname aus Kindertagen.
Aber die Frau, die jetzt vor ihrer Tür stand, war schon lange kein Kind mehr. Auch wenn sie die wirren roten Locken schon bestaunt hatte, als ihre Freundin Martha mit der einzigen Enkeltochter im Kinderwagen zu ihr gekommen war, durfte man einer ausgewachsenen Kommissarin nicht mit dem alten Spitznamen kommen. Das gehörte sich einfach nicht. Aus Foxi war eine Amtsperson geworden.
Beim Betreten der geräumigen Wohnküche schlug den Kommissarinnen bullige Wärme entgegen. Trotz hoher Außentemperaturen hatte die alte Frau ihren Küchenherd angeheizt. Sich auf die Lehne stützend rückte sie für Lena einen Stuhl zurecht und bat auch Mandy: »Bitte setzen Sie sich doch, Fräulein.« Erst danach ließ sie sich behutsam auf ihren Lieblingsplatz am Fenster gleiten. Der von Runzeln umgebene Mund bewegte sich, als würde die Witwe ihre Worte kauen, bevor sie sie aussprach. »Ich weiß schon, ihr kommt wegen dem armen Sonjachen. Endlich hatte das Mädchen auch mal ein bisschen Glück, ihr Volker wollte sie heiraten. Und jetzt ist sie tot.«
Die schwerhörige Witwe sinnierte kopfwackelnd vor sich hin. »Ein Unfall wäre schon schlimm gewesen. Aber dieses dumme Gerede von Gift, das will einfach nicht rein in meinen Kopf. Muss aber wohl so gewesen sein. Bogemühl will’s von der Polizei erfahren haben, und die muss es ja wissen.«
Sie stockte, weil ihr einfiel, dass es die Polizei war, die mit ihr am Küchentisch saß. Und dass sie vermutlich die Letzte war, die Sonja lebend gesehen hatte.
Verunsichert ließ die Greisin den Blick durch ihre wiedergefundene Brille von Lena zu Mandy wandern, bevor sie zu wimmern begann. »So ein liebes Ding, mein Sonjachen, und so ein schreckliches Ende. Wer hat ihr das nur angetan?«
»Das wissen wir noch nicht, Frau Weidemann, aber vielleicht können Sie uns helfen, es herauszufinden.« Obwohl sie lauter gesprochen hatte als gewöhnlich, war Lena nicht sicher, ob die alte Frau sie verstanden hatte.
Hertha Weidemann sank noch ein bisschen mehr in sich zusammen. »Die arme Sonja musste sterben, und ich mit meinem schwachen Herzen und Schmerzen in allen Knochen, ich muss mich weiter rumquälen. Was sich unser Herrgott bloß dabei denkt?« Sie hob den Kopf, als erwartete sie eine Antwort von dem einen, der auf derlei Fragen vielleicht eine Antwort wusste. Dann lächelte sie traurig. »Bei all dem Unglück auf der Welt kann nicht mal mehr der liebe Gott die Übersicht behalten.«
Unauffällig musterte Lena die schmale Gestalt, die ihr an der Stirnseite des Tisches gegenübersaß. Alt war Hertha Weidemann für sie schon immer gewesen, alt wie ihre im selben Jahr geborene Großmutter. Doch so bekümmert und abgemagert hatte sie die einstige Schulfreundin ihrer Oma Martha noch nie gesehen.
Ebenso wie Lena schwieg auch die 93-Jährige. Noch immer unsicher ließ sie den Blick zwischen den beiden Polizistinnen hin und her schweifen. Lena ahnte, was der Pfarrerswitwe dabei durch den Kopf ging.
Die Enkelin ihrer alten Freundin war jetzt jemand mit Dienstrang und Amtsgewalt und nicht mehr das Kind, das sie als Voßbergs Foxi so gerngehabt hatte. Sie war auch nicht bei ihr zu Besuch, so wie früher mit ihrer Großmutter. Sie saß von Amts wegen an ihrem Küchentisch, genau da, wo Sonjachen gestern noch ihren Kaffee getrunken hatte.
Lena sah, dass Hertha Weidemann Mandy mit zusammengekniffenen Augen musterte. Dieses schmale Ding im knappen Röckchen und mit Schuhen an den Füßen, in denen kein normaler Mensch vernünftig laufen konnte. Selbst in jungen Jahren hatte Hertha Weidemann niemals solches Schuhwerk besessen. Wo hätte sie es auch anziehen sollen? Auf der Raglower Dorfstraße? Womöglich im Gottesdienst oder in der Bibelstunde mit den Kindern aus umliegenden Dörfern? Bei diesem Gedanken musste Lena unwillkürlich lächeln. Genau wie sie es sich vorgestellt hatte, sagte die alte Frau plötzlich: »Da, wo Sie jetzt sitzen, Fräulein …«
»Fortunato, Frau Weidemann. Ich heiße Mandy Fortunato. Kommissarin Fortunato.«
»Oh, noch so jung und schon Kommissarin? Fräulein Fortu… oh, äh, wie? Verzeihung, ich hör nicht mehr so gut. Jedenfalls da, wo Sie jetzt sitzen, Fräulein Kommissarin, da hat mein Sonjachen gestern noch gesessen. Von ihrer Hochzeit hat sie geschwärmt, vom weißen Kleid und ’ner großen Feier. Sogar die Welt bereisen wollte sie mit ihrem Volker. Weiß der Himmel, wo das Geld dafür herkommen sollte.« Sie atmete tief ein und wieder aus, schien noch das letzte Quäntchen Luft aus ihrer Lunge quetschen zu wollen.
Lena und Mandy sahen sich an. Schon wieder ging es um Geld. Irgendwo hatte eine Geldquelle für Sonja Meyer sprudeln sollen. Aber wo?
Mandy lächelte die alte Frau an. »Fragt sich nur, wie sie das alles bezahlen wollte.«
»Bezahlen?« Die Weidemann schüttelte den Kopf. »Die arme Sonja hat doch nur so vor sich hingeträumt. Zum Glück weiß der Mensch nicht, was auf ihn zukommt. So hatte sie wenigstens noch die Vorfreude. Jetzt lässt der Pfarrer zum Begräbnis läuten statt zu ihrer Hochzeit.« Die Hände auf den mageren Schenkeln, die sich unter der geblümten Schürze abzeichneten, versank die Witwe in ihre eigene Gedankenwelt.
Lenas Frage holte sie daraus zurück. »War Frau Meyer oft bei Ihnen?«
»Ja, was heißt schon oft?« Die altmodische Brille glitt wieder hinauf in die grauen Löckchen. »Wenn man so alt ist wie ich, nimmt man’s nicht mehr so genau mit der Zeit. Zum Wochenende hin ist sie gern mal auf ’nen Kaffee zu mir reingekommen. Hat halt gern geredet, die Kleine, so war sie schon als Kind in der Bibelstunde und so ist sie geblieben bis …« Sie mümmelte mit leerem Mund. »Gab immer mal wieder Ärger wegen ihrer Quasselei, dabei wollte sie eigentlich nur gemocht werden. Jeder wünscht sich doch ein bisschen Anerkennung und keiner kann raus aus seiner Haut.«
»Mit wem hatte Frau Meyer denn Ärger in letzter Zeit? Hat sie jemanden erwähnt, als sie hier war?«
»Wenn du so fragst, Lena, fällt mir niemand ein. Seit der Sache mit der Lehrerin ist sie vorsichtiger geworden. Du weißt doch, wie’s bei uns auf dem Land ist. Heute ärgert man sich übereinander und morgen borgt man sich Salz oder Mehl für die Einbrennsoße.« Unwillkürlich war die Pfarrerswitwe zum Du übergegangen, ohne es selbst zu bemerken. Lena gefiel’s.
»Ist Ihnen gestern wirklich nichts aufgefallen, als Frau Meyer bei Ihnen war?«, fragte sie. Die alte Frau blickte hinaus zum hölzernen Gartentor, das ihr Sonjachen nie wieder aufschieben würde.
»Sie war glücklich, wegen der Hochzeit. Aber irgendwas ist da noch gewesen. Jetzt, wo es zu spät ist, zermartere ich mir das Hirn …«
Lena, die nicht drängeln wollte, sah sich in der blitzsauber geputzten Küche um, an der jeder Filmemacher, der einen Streifen über alte Zeiten drehen wollte, seine Freude gehabt hätte. Die Glasscheiben im Buffet aus hellem Eichenholz waren mit gehäkelter Spitze verziert. Auf dem Küchentisch lag heute eine im Kreuzstich bestickte Decke, und der schon leicht verbeulte Teekessel auf dem Herd hätte gut und gern in eine Ausstellung über Küchengeräte aus den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts gepasst.
Während sie noch darüber nachdachte, wie die alte Frau es schaffte, ihr Zuhause so tadellos in Schuss zu halten, sagte Hertha Weidemann schon: »Der junge Doktor Thiel hat beim Amt angerufen und alle Papiere für mich zurechtgemacht. Seitdem bezahlt das Amt Hildchen Bülow dafür, dass sie mir zweimal in der Woche den Haushalt macht. Ewig schade um den alten Thiel. Der hatte auch ein Herz für uns alte Menschen, aber sein Junge ist ihm über, dem kann ich nicht genug danken.«
Lena sah Mandys strahlenden Blick, als die Witwe vom jungen Doktor Thiel schwärmte. Na klar, der Doktor mit dem Heiligenschein.
»Sie haben doch einen Sohn«, erinnerte sich Lena. »Kann der Ihnen nicht helfen?«
Die Weidemann rieb sich übers Genick, als hätte sie Schmerzen. »Bist Jahre nicht hier gewesen, Lena. Darum weißt du auch nicht, dass er wegmusste. Gab keine Arbeit für einen guten Förster hier in der Uckermark. Jetzt schreibt er mir aus Bayern.«
An den weidemannschen Familienverhältnissen nicht sonderlich interessiert, stopfte Mandy ihren Notizblock in die Tasche, griff aber sofort wieder danach, als die alte Frau sagte: »Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein, weil sie jetzt tot ist, aber Sonja hatte Angst. Vor irgendwas hatte sie Angst. Wenn ich nur wüsste, wovor.«
Oder vor wem, dachte Lena.
Die Witwe hob ihr alterswelkes Gesicht. »Du glaubst, ich red mir das alles nur ein, stimmt’s, Lena? Wär ja auch kein Wunder mit 93 Jahren. Aber ich bin sicher, dass es so war. Hätte ich sie nur drauf angesprochen. Vielleicht, womöglich …?«
»Vielleicht würde sie dann noch leben, meinen Sie? Nein!« Energisch schüttelte Lena den Kopf. »Das Wasser in Sonjas Trinkflasche war vergiftet. Wie hätten Sie das ahnen können?«
Für einen winzigen Augenblick sah Lena Erleichterung im Gesicht der alten Frau. Doch gleich darauf hörte sie ihre Stimme, brüchig und tieftraurig. »Sonja hat nie im Leben wirklich was gehabt – und ihr Volker? Der sitzt auf seinem Ersparten wie die Glucke auf dem Nest.«
Stimmt, dachte Lena, Sonja hatte eine andere Geldquelle im Auge, eine, die ihr am Ende den Tod brachte. Doch sie wollte die ohnehin schon verängstigte Frau nicht noch mehr beunruhigen, darum sagte sie nur: »Was hat Frau Meyer denn sonst noch so erzählt?«
Hertha Weidemann zupfte an ihrer Schürze herum. »Nach meinem Geburtstag hat sie mich ausgefragt. Haarklein wollte sie wissen, was die Leute alles so geredet haben. Dabei ging es die ganze Zeit nur um den toten Kerl in der alten Mühle. Keiner wusste was und jeder hatte was zu sagen.«
»Oh, Ihr Geburtstag. Wie konnte ich den nur vergessen!« Lena sprang auf und streckte die Hand aus. »Meinen Glückwunsch! Alles, alles Gute für Sie!«
Hertha Weidemann lächelte nachsichtig. »Ist nicht viel Gutes übrig in meinem Alter, aber danke, Foxi … äh, oh, Verzeihung!« Die erschrockene Weidemann wusste nicht weiter, und schon gar nicht wusste sie, wie sie Lena nach ihrem Ausrutscher anreden sollte.
Sie beruhigte sich erst, als Lena herzhaft auflachte. »Ich wusste gar nicht mehr, wie nett sich mein alter Spitzname anhören kann.«
Langsam nahm das hochrote Gesicht der Witwe wieder seine gewohnt blassgraue Farbe an. Die von der Gicht verformten Hände aneinanderreibend nickte sie. »Deine Großmutter wäre auch hier gewesen, wenn sie noch leben würde.« Sie begann zu erzählen – von Pfarrer Oskar, ihrem Mann. Irgendwann unterdrückte Lena den Impuls, heimlich auf die Uhr zu sehen. Mandy tat es umso auffälliger. Hertha Weidemann, die ihre Brille wieder auf die Nase gesetzt hatte, stockte mitten im Satz. »Ich red und red und hab euch noch nicht mal was angeboten. Dabei hat Hild-chen mir frische Waffeln gebracht. Könnten ja noch Nachzügler zum Gratulieren kommen. Hast noch Zeit für’n feines Tässchen Kaffee, Lena, hm?«
Die vereinsamte Frau tat Lena leid, und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Hertha Weidemann etwas vor ihr verbarg. Etwas Wichtiges, das ihr einfach nicht über die Lippen wollte.
»Für ’nen schnellen Kaffee hätten wir schon noch Zeit«, lenkte sie deshalb ein. »Und frische Waffeln? Hört sich echt lecker an. Meinst du nicht auch, Mandy?«
Mandy, die endlich beim Zahnarzt gewesen war und den ganzen Tag über noch nichts gegessen hatte, nickte zögernd. Die Witwe tappte mit ihrem verbeulten, aber blitzsauber geputzten Kessel zum Hahn und wollte Wasser einlaufen lassen. Sofort sprang Lena auf und nahm ihr den Kessel aus der Hand. »Sie bleiben mal schön sitzen. Wer Geburtstag hatte, bekommt seinen Kaffee serviert.«
Während Lena und Mandy ihren starken, in großen Tassen auf-gebrühten Kaffee tranken und Hertha Weidemann ihren Blüm-chenkaffee schlürfte, den Lena nach Anweisung der alten Frau zubereitet hatte, fiel ihr abermals auf, wie unruhig Hertha Weidemann auf ihrem Stuhl herumrutschte. Die Witwe brach mundgerechte Stückchen von ihrer Waffel ab und ließ sie achtlos auf dem Teller liegen. Als alles zerteilt war und es nichts mehr zu brechen gab, stieß sie hervor: »Ich hab auch Angst, Lena, genau wie Sonja.«
»Angst, Frau Weidemann? Wovor haben Sie denn Angst?«
Die schlaffen Lider senkten sich, die Worte kamen nur zögernd aus dem faltigen Mund. »Als sie den Toten in der Mühle gefunden haben, konnte ich mir noch einreden, zwei von den fremden Besuchern wären sich in die Haare geraten. Der eine ist tot, der andere längst wieder fort. Was sollte mich das angehen? Aber jetzt ist auch Sonja tot! Der Mörder muss noch ganz in der Nähe sein, und das macht mir Angst, Lena, schlimme Angst.«
Lena strich über die bestickte Tischdecke und gab ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang. »Ich versteh Sie schon, Frau Weide-mann. Aber Sie müssen keine Angst haben. Für beide Morde gibt es einen Grund. Den müssen wir finden, dann kriegen wir auch den Mörder.«
»Oder die Mörder.« Mandy kaute und schluckte. Endlich konnte sie wieder ohne Schmerzen essen. Hildchens frische Waffeln waren echt lecker.
Lena nickte. »Stimmt, es könnten auch zwei Täter sein. Trotzdem läuft hier niemand herum, der aus purer Mordlust wahllos Leute umbringt.«
Die gebrechliche Frau faltete die Hände vor der Brust, als wollte sie beten, doch es kam kein Laut über ihre Lippen.
Langsam beugte Lena sich zu ihr vor. »Ich würde Ihnen gern helfen. Soll ich jemanden anrufen, der sich um Sie kümmert?«
Kaum hörbar wisperte die alte Frau: »Ich schaff’s schon, bin doch dran gewöhnt, allein zu sein. Und ich hab ja Hildchen Bülow.«
Als sie wenig später das Haus verließen, zückte Lena ihr Handy und wählte die Nummer der Auskunft. Sie ließ sich mit dem örtlichen Pfarrer verbinden und hatte Glück, denn er nahm sofort ab. Nach aufmerksamem Zuhören versprach er, sich um die Witwe seines Vorvorgängers zu kümmern. Erleichtert steckte Lena ihr Handy wieder ein, sah sich nach Mandy um und musste unwillkürlich lachen.
Auf Zehenspitzen, was bei den hohen Absätzen ihrer Stiefel nicht viel brachte, versuchte Mandy, über die gekräuselte Gardine hinweg noch einmal ins Küchenfenster zu schauen.
»Schnell! Lena, komm!«, schrie sie plötzlich auf und hetzte ins Haus zurück. Lena setzte ihr nach, und noch bevor sie Hertha Weidemann sahen, hörten sie ihr Stöhnen. In sich zusammen-gekrümmt lag die alte Frau auf dem Fußboden ihrer überheizten Küche. Die altmodische Brille, die ihr aus den grauen Löckchen geglitten sein musste, lag ein Stück abseits.
Ein Blick voller Angst traf Lena mitten ins Herz. »Keine Luft, meine Tropfen!« Selbst das heisere Krächzen fiel der Kranken schwer. Lena sah sich um, entdeckte ein braunes Medizinfläschchen neben der Spüle und hielt es fragend hoch.
»Zwanzig Tropfen, genau zwanzig!«, hauchte die Greisin zwischen pfeifenden Atemzügen mit blau angelaufenen Lippen.
Sorgsam zählte Lena die Tropfen auf einen Löffel und konnte nicht verhindern, dass ihre Hand dabei zitterte. Hertha Weidemann schluckte und hustete. Bräunliche Flüssigkeit lief ihr aus den Mundwinkeln. Gemeinsam halfen sie der alten Frau hoch, führten sie zum Bett und deckten sie bis unters Kinn zu. Selbst unter der dicken Federdecke wollte das Zittern der mageren Glieder nicht aufhören.
»War nur … ’n Schwindelanfall … mein Herz!« Langsam, geradezu in Zeitlupe, schoben sich magere Beine unter der Decke hervor. »Fahrt ihr mal ruhig los.« Rasselnder Atem. Mühsames Keuchen. »Wird schon gehen. Hab ja jetzt meine Tropfen.« Die kraftlose Stimme und das Zittern unter dem Federbett verrieten, wie es der 93-Jährigen wirklich ging.
Sanft schob Lena die spindeldürren Beine ins Bett zurück. »Sie bleiben liegen, Frau Weidemann, ich rufe Doktor Thiel an.«
Zum zweiten Mal an diesem Tag wählte sie die Nummer der Auskunft. Diesmal ließ sie sich mit dem Landarzt verbinden.
»Nicht den Doktor!«, kam es verzweifelt keuchend vom Bett her. »Der schickt mich ins Spital. Da komm ich nicht mehr raus. Lena, hörst du, nicht den Doktor!« Das ausgezehrte Gesicht, farblos wie die dünnen Löckchen, die schweißnass an den runzligen Wangen klebten, verzerrte sich voller Angst. Plötzlich schloss die Kranke die Augen und röchelte. Jeder Atemzug schien eine Qual zu sein.
Sie stirbt, dachte Lena entsetzt. Die Tropfen! Es waren die Falschen! Wenn sie jetzt stirbt, bin ich schuld.
Schreckensbleich stand auch Mandy neben dem Bett, von dem das schreckliche Geräusch ausging. Das sich nähernde Fahrzeug hörten sie erst, als Thiel schon vor dem Haus bremste.
»Der Arzt. Gott sei Dank!« Lena atmete auf.
Eilige Schritte im Flur. Thiel kam ins Zimmer gestürmt. Er stellte die Tasche vor dem Bett ab, sah die Kranke an und sagte: »Das Herz. Sie ist seit Jahren herzkrank, nimmt aber ihre Medizin nicht regelmäßig. Keine Ahnung, ob sie heute schon was genommen hat.«
Lena lief in die Küche, holte das braune Fläschchen und hielt es ihm hin. »Zwanzig Tropfen, gerade eben.«
»Gut so!« Thiel tippte auf dem Handy herum. »Sie muss ins Krankenhaus. Sofort.«
Minuten später holperte ein Krankenwagen, angekündigt von Blaulicht und Martinshorn, über den sommertrockenen Feldweg, von dem Sonja Meyer ins Rapsfeld abgedriftet war. Dahinter, deutlich langsamer, umfuhr der schon etwas klapprige Opel des Pfarrers vorsichtig die tiefen Schlaglöcher.
***
Zum x-ten Mal an diesem Abend setzte Mandy den italienischen Kaffeeautomaten in Gang.
Sechs Personen, die alle mit den beiden Mordfällen befasst waren, hatten sich im Besprechungsraum eingefunden. Den Stift in der Hand stand Lena an der Pinnwand. Konrad Haubenreißer hatte den Platz neben Mandy, ihnen gegenüber saßen Haubis junge Kollegin Anke Weißbach, die in wenigen Monaten seine Nachfolge antreten würde, und Lenas Stellvertreter Alfred Meichsner, den eingegipsten Fuß von sich gestreckt. Er hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten und wollte trotz Krankenscheins wenigstens stundenweise zur Arbeit kommen. Dann war da noch Verena Winter, ein unschlagbares Talent am Computer und beim Bezirzen schwieriger Telefonpartner, was sie im Innendienst zu einer Perle machte, mit der man höchst sorgsam hätte umgehen müssen, wäre sie nicht das unkomplizierteste Wesen der Welt.
»Klasse, Haubi! Das Handy aus der Mühle läuft wieder. Ich hab schon nicht mehr dran geglaubt«, lobte sie gerade.
Der altgediente Kriminaltechniker schmunzelte geschmeichelt, winkte aber rasch ab und sagte: »Ist nun mal mein Job, Verena. Also, laut Anrufliste hat Holger Werner am Tag seines Todes nur zweimal telefoniert. Vormittags mit einem Udo Wachtel und dann am Nachmittag mit seiner Frau in Berlin.«
»Jetzt kriegen wir endlich unsere DNA-Probe.« Mit dem Stift tippte Lena auf Wachtels Foto an der Pinnwand. »Du weißt doch, Haubi, der kleine Blutfleck im Futter von Werners Jacke. Der könnte gut und gern von unserem dubiosen Autohändler stammen.«
Zu ihrem Erstaunen hatten sie den jungen Mann am Vormittag tatsächlich noch in der alten Mühle angetroffen. Sie hätten Glück, hatte er ihr und Mandy erklärt. Schon am Nachmittag wäre er auf dem Weg nach Berlin gewesen. Auf die unbezahlte Rechnung für Werners Taxi angesprochen, schwor er Stein und Bein, er kenne Holger Werner nicht persönlich, so wie er viele seiner Kunden nicht persönlich kenne. Für Annahme und Ausgabe der Fahrzeuge sei sein Mechaniker zuständig. Ihm selbst obliege die Büroarbeit. Dazu gehöre auch das Anmahnen unbezahlter Rechnungen für ausgeführte Reparaturen.
Falls man ihm unterstelle, er habe etwas mit dem Tod eines Kunden zu tun, werde er unverzüglich seinen Anwalt informieren, hatte er die Kommissarinnen wissen lassen.
»Vertrauenswürdig wie die Hütchenspieler auf dem Ku’damm und aalglatt, der Mann«, seufzte Haubenreißer, als Lena ihren Bericht über das vormittägliche Gespräch mit Udo Wachtel beendet hatte.
Lena wies auf das Foto der toten Sonja Meyer, das sie neben das Bild des ermordeten Taxifahrers gesteckt hatte, und sagte: »Ich bin mir sicher, dass beide Todesfälle zusammenhängen. Keine Ahnung, ob Frau Meyer Werners Mörder zufällig beobachtet hat oder ob sie ihn – aus welchem Grund auch immer – von vornherein im Auge hatte. Auf jeden Fall war sie nach dem Mord im Mühlenschuppen und hat die Kamera und die Tatwaffe gefunden. Mit dem Hammer hat sie den Täter erpresst.«
Haubenreißer zuppelte an seiner grauen Strickjacke herum und sagte kopfschüttelnd: »Nicht zu glauben, wie kaltblütig diese Frau war. Sieht den übel zugerichteten Toten und klaut ihm die Kamera. Dann sackt sie auch noch die Tatwaffe ein und erpresst den Mörder. Ich fass es einfach nicht!«
»Vielleicht hat sie auch selbst zugeschlagen. Oder habt ihr Beweise für die Erpressung?«, erkundigte sich Meichsner und wackelte mit dem rechten Fuß, weil es unter dem elenden Gips mächtig juckte.
»Von Krollmann wissen wir, dass Frau Meyer deutlich zu klein war, um als Täterin infrage zu kommen«, erklärte ihm Lena. »Und für die Erpressung haben wir zumindest deutliche Hinweise. In ihrem Papierkorb lagen Zeitschriften, aus denen Etliches herausgeschnitten war, und Papierfetzen mit aufgeklebten Buchstaben. Sie hat wohl erst ein bisschen üben müssen.«
Anke Weißbach rückte ihr Basecap zurecht, das sie, wie sie es liebte, mit dem Schirm im Nacken trug. »Daraus hat sie ihr Er-presserschreiben gebastelt, ziemlich old school, muss ich sagen.«
Meichsner grinste Anke übellaunig an. »Vielleicht sollte auch bloß ’ne Wandzeitung für die Kita ihrer Nichte draus werden, falls sie eine Nichte hatte.« Dann stand er auf und humpelte ein paar Schritte durchs Zimmer, um dem elenden Juckreiz beizukommen.
»Aber klar doch, Freddy. Falls Sie meine Forderung … sehe ich mich gezwungen … Polizei!!! Mit drei Ausrufezeichen! So was passt ja auch bestens in eine Kita«, warf Anke ihm hin, als er an ihr vorbei humpelte.
Abrupt blieb Meichsner stehen. »Du hast das Erpresser-schreiben?«
»Nö, bloß weggeworfene Fetzen. Hast doch gehört. Sie musste noch üben.«
»Als Hinweis ganz brauchbar, als Beweis zu dünn«, stieß Meichs-ner schmallippig hervor und setzte sich wieder neben die junge Kriminaltechnikerin. Die nestelte an ihrem Basecap herum und hielt ihm entgegen: »Jedenfalls ist das alles sehr vielversprechend, denk ich mal. Und dieser dubiose Autohändler kann abstreiten, was immer er will, er muss Holger Werner gekannt haben.«
Lena hatte Mühe, sich ihren Frust nicht anmerken zu lassen. Es war nervig, in beiden Todesfällen mehr Fragen als Antworten zu haben. Das war zu Beginn einer Ermittlung zwar normal, aber diesmal schienen sie festzustecken. Die auf dem Hammer gefundenen Abdrücke ließen sich bisher nur Sonja Meyer zuordnen. Ansonsten waren sie verschmiert oder überlappt und wenn doch lesbar, ließen sie sich bisher niemandem zuordnen. Falls der Täter Handschuhe getragen haben sollte, war es ein wohlkalkulierter kaltblütiger Mord gewesen. Was für Mandys Theorie sprach, dass Täter und Opfer einander nicht fremd gewesen sein konnten. Aber wie war Sonja Meyer auf den Mann gekommen? Hatte sie ihn schon vor dem Fest gekannt? Einen Fremden, der nach dem Fest wieder seiner Wege ging, hätte sie kaum erpressen können. Peter Kobs kannte sie seit ihrer Kindheit und Udo Wachtel konnte sie beim Austragen der Post in der alten Mühle getroffen haben.
Lena bemerkte, dass Meichsner verwundert zu ihr herübersah, und hörte Mandy sagen: »Von ihrem Chef wissen wir, dass Frau Meyer auf ihrer letzten Tour das Fahrzeug mehrmals aus den Augen gelassen hat. Das erste Mal nach dem Beladen im Verteilzentrum. Und unterwegs immer dann, wenn sie jemandem ein Paket ins Haus getragen hat. Das waren zwar jeweils nur Sekunden oder Minuten, die aber locker ausgereicht hätten, ihre Flasche zu manipulieren. Am Tag ihres Todes hat sie acht Pakete zugestellt und drei mit zurückgenommen. Anwohner haben ihr Fahrzeug vor den Gehöften stehen sehen, aber nichts Ungewöhnliches beobachtet. Ihren Weg kennen wir bis auf den letzten Meter ziemlich genau. Trotzdem wissen wir noch immer nicht, wo und wann das Gift in ihre Flasche gekommen ist«, fasste Mandy zusammen. »Falls sie ihrem Verlobten von der Erpressung erzählt hat, könnte auch er in Gefahr sein«, schob sie nach, während sie ihren schon arg zer-fledderten Notizblock in die Tasche zurück schubste. »Wie ihr wisst, arbeitet er in der Gärtnerei Kobs, steht also in engem Kontakt mit unserem Hauptverdächtigen im Mordfall Werner.«
»Sagtest du gerade, mit unserem Hauptverdächtigen?« Lena sprach auffallend leise und deutlich akzentuiert. Jeder im Raum blickte von ihr zu Mandy, die ihre Stimme erhob und beinahe schon trotzig erwiderte: »Gegen Kobs sprechen jede Menge Indizien. Der Mann hat in beiden Fällen kein Alibi, dafür aber Motiv und Gelegenheit. Und in einer Gärtnerei kennt man sich mit allen möglichen Giften aus. Das kannst du nicht einfach ignorieren, Chefin.« Ein triumphierendes Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie sah, dass Meichsner spontan nickte. An Lena gewandt beharrte sie: »Dein Bauchgefühl in allen Ehren, aber diesmal liegst du falsch.«
»Und ich sage dir, wir haben nicht den Hauch eines Beweises gegen Peter Kobs, und deine angeblichen Indizien sind lächerlich. Alles nur Spekulation.« Lena ließ nicht gern die Chefin raushängen, aber manchmal musste es eben sein. Sie beschrieb einen Bogen vom Foto des toten Holger Werner zu dem des Autohändlers. »Ich denke, er ist der alte Bekannte, von dem Frau Werner uns erzählt hat. Vormittags haben die beiden Männer miteinander telefoniert, und am Nachmittag haben sie sich auf dem Fest getroffen. Wie es ausging, wissen wir.«
»Warum er und nicht Kobs?« Mandy klang beleidigt.
»Der Anruf von Max Lüders, dem Bruder der Wirtin. Du erinnerst dich? Auch wenn Lüders den Mann nur von hinten gesehen hat, passt seine Beschreibung auf Wachtel und nicht auf Peter Kobs.«
»Vielleicht hat Lüders absichtlich gelogen, um uns in die Irre zu führen. Immerhin ist Kobs sein bester Freund«, gab Mandy zu bedenken.
»Er müsste schon sehr dumm sein, uns wegen einer so dämlichen Lüge extra anzurufen, wenn es um Mord geht. Außerdem haben wir die Raglower zielgerichtet befragt. Jeder kennt Peter Kobs und niemand hat ihn mit Holger Werner beim Biertrinken gesehen. Nach der ganzen Aufregung wegen der Schlägerei wäre das sicher aufgefallen.«
»Er kann es trotzdem gewesen sein«, beharrte Mandy und sah Hilfe suchend hinüber zu Meichsner.
Doch der rückte nur seinen eingegipsten Fuß zurecht und meinte: »Viel habt ihr ja noch nicht, Mädels. Höchste Zeit, dass ich wieder voll mit einsteige.«