12. OKTOBER 1193
Seine Beine kamen Seyfrid bleischwer vor, als er am Morgen auf den Hof trat und an den Mauern der Schule emporblickte. Es war sein sehnlichster Wunsch gewesen, an der Scola Medica Salernitana zu studieren. Er hatte ein guter Arzt werden wollen, um Menschen zu heilen. Doch nun gab er dies alles auf, um mit Rachegedanken im Herzen in seine Heimat zurückzukehren. Ihm kamen die Worte seines Vaters in den Sinn: »Die Menschen können dir alles nehmen, nur nicht deinen Stolz. Den kannst du dir nur selbst nehmen.«
Nein, er hatte keine Wahl. Entschlossen warf Seyfrid die beiden Satteltaschen mit seinen Habseligkeiten über den Rücken des Pferds. Roger Frugardi war so großzügig gewesen, ihm eines der Pferde zu überlassen, die der Schule gehörten. Es hörte auf den Namen Giacomo und war zwar kein sonderlich edles Tier, aber ruhig und ausdauernd. Zum ersten Mal seit zwei Jahren hatte Seyfrid wieder sein Schwert umgegurtet. Etwas, das er nie wieder hatte tun wollen.
Er kämpfte gegen die Tränen, deshalb brauchte er einen Moment, ehe er sich zu Frugardi umdrehen konnte. »Hab Dank, Meister, für alles, was ich von dir lernen durfte!«
»Es schmerzt mich sehr, dich ziehen zu sehen. Trotz deiner jungen Jahre halte ich dich für einen außergewöhnlichen Medicus. Du bist hier jederzeit willkommen.«
Seyfrid stand vor ihm wie ein kleiner verlegener Junge und rang nach Worten. »Ich hoffe, dass ich eines Tages zurückkehren werde.«
Dann umarmten sie sich.
»Wir werden dich immer in Ehren halten. Schicke mir eine Nachricht, wenn du dein Ziel erreicht hast!«, sagte Frugardi mit brüchiger Stimme.
Ohne weitere Worte stieg Seyfrid hastig auf das Pferd und gab ihm die Sporen, bevor jemand die Tränen in seinen Augenwinkeln entdecken konnte.
Frugardi hob die Hand, um zu winken, aber Seyfrid blickte nicht zurück. »Lebe wohl, Seyfrid von Viskenich«, sagte der alte Medicus leise.
Seyfrid hatte sich in den schlaflosen Nächten, seit er die schreckliche Nachricht vernommen hatte, einen Plan zurechtgelegt. Ihm war klar, dass er nicht einfach in Köln auftauchen und Familien der Richerzeche für den Tod seines Vaters verantwortlichen machen konnte. Das wäre so schon gefährlich genug gewesen, aber da das Gericht die gesamte Familie des hingerichteten Ritters von Viskenich für geächtet erklärt hatte, hätte Seyfrid sich auch genauso gut selbst das Schwert in den Leib stoßen können. Jeder freie Mann durfte einen Geächteten töten, ohne dafür bestraft zu werden.
Auf keinen Fall durfte jemand in Köln seine wahre Identität erfahren. Deshalb würde er sich für seinen besten Freund ausgeben und sich als Medicus vorstellen. Ulrich von Schwarzenberg war als Knappe mit ihm zusammen ins Heilige Land gezogen und in der Schlacht bei Arsuf gestorben. Seinen Tod betrauerte Seyfrid bis heute zutiefst, und er hoffte, dass Ulrich ihm im Jenseits seine List verzeihen möge. Andererseits war er überzeugt, dass Ulrich, würde er noch leben, sich köstlich darüber amüsiert hätte.
Seyfrid beabsichtigte, auf seinem Weg nach Köln die Schwarzenburg bei Freiburg zu besuchen. Zwar hatte Ulrichs Vater, Freiherr Conrad, vermutlich schon längst die Kunde vom Tod seines Sohnes erhalten, aber wohl niemand hatte ihm Genaueres über die Umstände erzählen können. Seyfrid konnte das. Ulrich war vor seinen Augen gestorben.
Außerdem würde Seyfrid bei dieser Gelegenheit die Burg sehen und die Familienmitglieder kennenlernen, um später in Köln in der Rolle des Ulrich von Schwarzenberg glaubwürdig sein zu können. Zwar hatte sein Freund und Waffengefährte ihm auf dem langen Zug nach Palästina so oft von seiner Heimat und Familie erzählt, dass Seyfrid durchaus vertraut mit ihnen war, aber sicher war es von Vorteil, sie von Angesicht zu Angesicht zu treffen.
Die erste Etappe führte Seyfrid von Salerno nach Rom. Die Ewige Stadt hatte er bei seiner Ankunft mit dem Schiff im Hafen von Ostia vor zwei Jahren bereits kennengelernt, und dennoch war er erneut überwältigt. Welch herrliche Bauten und wie viel Geschichte schauten auf ihn herab! Er lief durch die Gassen und am Tiber entlang, bestaunte Ruinen und hohe Häuser. Schließlich reihte er sich in den steten Strom der Pilger ein und betrat die riesige Kathedrale Sankt Petrus, den Sitz des Papstes Coelestin III., wo er eine Kerze anzündete und Christus im stillen Gebet um Beistand anflehte.
Drei Tage verbrachte Seyfrid in Rom, um Vorräte für die Reise einzukaufen und sich bei einigen Pilgern aus dem Norden nach den Zuständen der Wege und Alpenpässe zu erkundigen. Wie er zu seiner Freude erfuhr, war das Wetter in den Bergen ungewöhnlich mild und der Schnee bislang ausgeblieben. Seyfrid betete, dass dies so bleiben möge, bis er dort war, sodass es ihm noch möglich sein würde, die Alpen zu überqueren.
Auf dem Weg nach Norden übernachtete Seyfrid in schäbigen Herbergen, aber auch in Klöstern, wo er die frommen Brüder mit Geschichten aus der Scola Medica unterhielt. In Mailand machte er für eine Nacht Station. Der Lombardeifeldzug Kaiser Friedrich Barbarossas vor über dreißig Jahren hatte dort seine Spuren hinterlassen, viele Häuser waren damals niedergebrannt worden und einige noch immer zerstört. Auch wenn Mailand eine wohlhabende Stadt war, würde es seine Zeit dauern, bis sie wieder vollständig hergerichtet sein würde. Nur die heiligste Reliquie, die Gebeine der Heiligen Drei Könige, würde nicht zurückkehren. Sie befand sich nun als Kriegsbeute ausgerechnet in Seyfrids Heimatstadt Köln.
Seyfrid fühlte sich ein wenig unbehaglich, denn die Einwohner waren verständlicherweise auf Deutsche nicht gut zu sprechen. Doch weil er die italienische Sprache gut beherrschte, begegnete man ihm im Gasthaus höflich.
Kurz darauf folgte er dem uralten Römerweg, der von Mailand über den San-Bernardino-Pass und das Rheintal entlang nach Bregenz führen würde. Es war für Seyfrid kaum vorstellbar, wie dieser schmale Fluss, der sich hier durch steile Schluchten und liebliche Auen schlängelte, auf dem Weg nach Köln zu dem ihm bekannten gewaltigen Strom wachsen konnte.
Zwar war der erste Schnee inzwischen gefallen, aber er bedeckte den San-Bernardino-Pass nur bis zu den Fesseln seines Pferdes, sodass Seyfrid einigermaßen gut vorankam. Giacomo stapfte tapfer durch den Schnee, und die Kälte schien ihm nicht viel auszumachen, obwohl er die milden Temperaturen Süditaliens gewohnt war. Sie übernachteten in Splügen am Hinterrhein in einer Herberge, wo sich zu dieser Jahreszeit kein weiterer Gast aufhielt. Der Wirt zeigte sich daher über Seyfrid sehr erfreut, tischte ihm Brot, Käse und Ziegenmilch auf und berichtete, dass der Weg über die Rheinbrücke von Thusis bis Chur noch nicht zugeschneit sei.
Drei Tage später brach Seyfrid von Vaduz in Richtung Bodensee auf. Das trockene Wetter blieb ihm hold, auch wenn es empfindlich kalt war. Er ritt gerade durch einen dichten Wald und hoffte, noch vor Einbruch der Dunkelheit das Kloster Sankt Gallen zu erreichen, als plötzlich vier Wegelagerer aus dem Unterholz brachen und ihn umringten. Ein einsamer Reiter erschien ihnen als leichtes Opfer.
»Dein Geld oder dein Leben!«, schrie der Anführer, ein langer Kerl, dem etliche Zähne fehlten. Alle Angreifer waren dürr, schmutzig und zerlumpt, zwei waren mit Lanzen, die anderen beiden mit Holzprügeln bewaffnet, doch Seyfrid blieb ruhig.
»Ich rate euch im Guten, mich in Frieden ziehen zu lassen! Ich bin ein Ritter aus dem Heiligen Land auf dem Weg nach Hause.«
Angesichts seiner einfachen Kleidung schallte ihm Gelächter entgegen. »Natürlich, und ich bin König Richard«, höhnte der Zahnlose.
»Da habt Ihr Euch aber seit unserer letzten Begegnung sehr zu Eurem Nachteil verändert, Majestät.«
»Es reicht, her mit deinen Sachen!«, knurrte der Mann und kam drohend näher.
»Wie du willst!«, sagte Seyfrid, riss mit einer raschen Bewegung sein Schwert unter dem Mantel hervor und trat gleichzeitig seinem Pferd in die Flanken, sodass es einen Satz vorwärts machte. Er wich der Lanze des Anführers geschickt aus und versetzte ihm einen Streich auf den Oberarm, sodass er brüllend die Waffe fallen ließ. Bei dem nächsten Räuber reichte es, ihm mit einem gewaltigen Hieb die Lanze aus der Hand zu schlagen, um den Rest der Bande zur Flucht zu bewegen. Diese Männer hatten nie zu kämpfen gelernt. Sie waren keine ernsthaften Gegner für einen Ritter.
Seyfrid sprang vom Pferd und hielt dem am Boden liegenden Anführer die Schwertspitze an die Kehle. Der jammerte laut und hielt sich den Arm. Die Wunde blutete zwar stark, aber sie war nicht tief. »Ich hatte dich gewarnt!« Im Grunde tat ihm der Mann leid, wie er sich da wimmernd vor ihm krümmte, ein armer Bauer oder entflohener Leibeigener, den die Not zum Rauben zwang.
»Gnade, Herr! Ich habe vier Kinder und weiß nicht, wie ich sie durch den Winter bekommen soll.«
»Wie wäre es mit ehrlicher Arbeit?«
»Wir bestellen die Äcker des Klosters Sankt Gallen, aber die Ernte war sehr schlecht dieses Jahr. Dennoch verlangte der Abt, dass wir ihm fast die gesamte Ernte überlassen sollen. Wir haben uns geweigert, weil wir sonst zu wenig für unsere Familien gehabt hätten, und wollten ihm nur den üblichen Zehnt geben. Daraufhin hat der Abt Soldaten geschickt und uns alles weggenommen. Jetzt wissen wir nicht, wie wir überleben sollen.«
Seyfrid zweifelte nicht, dass der Bauer die Wahrheit sprach. Das Kloster Sankt Gallen war mächtig, aber der Reichtum kam nicht von ungefähr. Dabei konnte der Mann noch von Glück reden, denn er wäre nicht der Erste gewesen, den man wegen Aufstands am nächsten Baum aufgeknüpft hätte. Da hört auch bei der Klostervogtei Sankt Gallen die christliche Nächstenliebe auf, dachte Seyfrid bitter.
Er steckte sein Schwert ein, holte aus einer Satteltasche ein Tuch und riss einen langen Streifen ab. Er forderte den Mann auf, die Jacke auszuziehen und den Hemdsärmel hochzuschieben. Seyfrid umwickelte die blutende Wunde am Oberarm sorgfältig. Dann griff er in einen Beutel und holte eine Handvoll getrockneter Blüten hervor, die er dem Verletzten in die Tasche stopfte.
»Halte den Arm die nächsten Tage ruhig, damit die Wunde nicht wieder aufreißt! Koch aus den Kamillenblüten einen Sud, tunke ein Tuch hinein und wickel es um den Arm! Das machst du jeden Morgen, und in zwei Wochen wirst du den Arm wieder ganz normal bewegen können.«
»Seid Ihr ein Ritter oder ein Medicus?«, fragte der Mann verblüfft.
»Beides«, antwortete Seyfrid lächelnd, erhob sich und schwang sich auf sein Pferd.
Völlig verdattert saß der Mann auf dem Erdboden und staunte den seltsamen Ritter an. Schließlich fand er seine Sprache wieder: »Ich danke Euch, Herr! Bitte verzeiht mir, dass ich Euch ausrauben wollte! Ich werde für Euer Seelenheil beten!«
Seyfrid nickte ihm kurz zu und gab seinem Pferd die Sporen. Am Horizont türmten sich schwarze Wolken auf. Es war das erste Mal, dass ein Unwetter auf seinem Weg drohte. Er zog seinen Umhang enger um die Schultern.
Entgegen seinem ursprünglichen Plan erreichte er am Abend völlig durchnässt den Bodensee bei Bregenz. Er hatte Sankt Gallen gemieden und das Kloster nur aus der Entfernung gesehen. Nach dem, was er von dem Bauern erfahren hatte, widerstrebte es ihm, die Mönche oder gar den Abt dort zu treffen.
In einer einfachen Gastwirtschaft in Brengenz wärmte er sich am lodernden Kamin auf. Seyfrid schätzte, dass es bis zur Schwarzenburg noch fünf Tagesritte waren.