5. DEZEMBER 1193

Seyfrid schlug die Augen auf und brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, wo er war. Er hatte wieder Albträume gehabt, und sein Mund war wie ausgetrocknet. Langsam erhob er sich von seinem Lager, kleidete sich an und begab sich in die Wirtsstube. Er bat eine der Mägde um ein Stück Brot und einen Becher Wasser.

Die junge Frau mit den schiefen Zähnen strahlte ihn an und beeilte sich, seinem Wunsch nachzukommen. Danach tuschelte sie mit der anderen Magd, und sie warfen ihm immer wieder verstohlene Blicke zu, während er aß. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er ihnen wohl gefiel. Wer hätte gedacht, dass man als Medicus bei dem Weibsvolk so beliebt sein könnte?

Als er das Wirtshaus verließ, war es bitterkalt, die aufgehende Sonne vermochte die dichte Wolkendecke nicht zu durchdringen. Sein Weg führte ihn zum Hafen. Es war Sonntag, und die meisten Menschen strebten zur Messe in die Kirchen. Die Wachen hatten die Stadttore gerade erst geöffnet, und dennoch herrschte schon reger Betrieb.

Schiffe unterschiedlicher Bauarten lagen am Ufer vertäut. Die meisten waren Lastkähne mit wenig Tiefgang, die von Köln aus schwere Warenladungen über den Rhein stromaufwärts transportierten. Einige Schiffe waren jedoch deutlich größer und in der Lage, auch dem offenen Meer zu trotzen. Sie kamen aus den Niederlanden, Schweden, Frankreich und sogar Spanien gesegelt, nur die aus England blieben schon seit vielen Monaten fast vollständig aus, weil König Richard in Deutschland gefangen gehalten wurde. Davor hatten die Kölner vor allem deutschen Wein an die Themse geliefert, und im Gegenzug kauften sie dort englische Tuche und Wolle ein.

Seyfrid sah bereits die Treidler, wie sie mit ihren Pferden die ersten Kähne des Tages an langen Seilen den Rhein aufwärts zogen. Selbst am Sonntag mussten sie ihre Arbeit verrichten, denn der bevorstehende Winter trieb viele Schiffer zur Eile an. Ein Schiff mit einem großen rot-weißen Segel vollführte an einem der Stege gerade ein geschicktes Anlegemanöver. Dort standen schon die Zöllner bereit, da jedes Schiff auf dem Rhein anlanden musste, ehe es Köln passieren durfte. Die Stadt verlangte von den Händlern, dass sie ihre sämtliche Ware entluden und am Hafen anboten. Die Kölner Bürger hatten das Recht, sich die besten Stücke zuerst auszusuchen, bevor die Ware am eigentlichen Bestimmungsort angelangte. Die meisten Schiffe wollten aber ohnehin nach Köln, weil sie sich in der reichsten deutschen Stadt die besten Geschäfte erhofften.

Das Löschen der Ware übernahmen meist nicht die Schiffsmannschaften, sondern Hafenknechte, die für einen kargen Lohn schwere Lasten schleppten. Seyfrid hielt eine der zerlumpten Gestalten an. Der dürre Mann hatte kaum Muskeln auf den Armen und trug dennoch einen großen Sack auf der Schulter. »Auf ein Wort, mein Freund! Kennst du einen Heribert Grimmel?«

Der Mann witterte sofort seine Chance. Er stellte den Sack ab und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Tut mir leid, mein Herr, aber mein Gedächtnis lässt mich gerade im Stich.«

Seyfrid verdrehte die Augen und steckte ihm einen Pfennig zu.

»Jetzt fällt es mir wieder ein.« Der Hafenknecht deutete auf den nächsten Steg. »Es ist der Kerl dort drüben, der gerade seine Knechte anschreit. Er beschäftigt gleich mehrere und behandelt sie wie Leibeigene, dabei war er selber vor Kurzem noch einer von uns.«

Seyfrid erblickte einen Mann, dessen struppige Haare unter einem ausladenden Hut herausragten. Seine Kleidung unterschied ihn deutlich von den ärmlich gewandeten Gestalten, die hastig auf dem Steg umherliefen. Er stieß gerade einem Träger einen Stock in den Rücken und herrschte ihn lautstark an, sich schneller zu bewegen.

Der junge Medicus näherte sich bedächtig und musterte dabei den Antreiber. Er schätzte ihn auf vielleicht dreißig Jahre. Seyfrid erkannte die typische leicht gebeugte Körperhaltung, wie sie Menschen eigen war, die lange Zeit schwere Lasten geschleppt hatten. Der Mann war dünn, hatte pockennarbige Haut und nur noch wenige Zähne, doch seine neue Kleidung stand im Widerspruch zu der übrigen Erscheinung. Hier war jemand plötzlich zu Geld gekommen.

»Bist du Heribert Grimmel?«

Der Mann fuhr herum und wollte schon ein paar barsche Worte loswerden, als er gewahr wurde, dass er einem vornehm gekleideten Herrn gegenüberstand. Sofort setzte er ein schmieriges Lächeln auf. »Womit kann ich dienen, werter Herr? Benötigst du Träger?«

»Nein, ich erkannte dich nur just wieder. Ich war bei dem Blutgericht gegen den Ritter von Viskenich anwesend. Ohne dich wäre der Mörder des armen Hackenbroich womöglich nicht bestraft worden. Gott wird dir deine tapfere Tat sicher vergelten!«

Grimmel schien zugleich geschmeichelt und irritiert. »Es war meine Pflicht als Christenmensch.«

»Du bist zu bescheiden! Es gehört selbst vor Gericht viel Mut dazu, einen Mörder seiner Taten anzuklagen.«

»Ja, äh, da hast du recht.«

»Es muss schrecklich gewesen sein, den Mord mit ansehen zu müssen! Er hatte doch dem armen Mann den Kopf abgetrennt!«

»Nein, er hat ihm das Schwert ins Herz gestoßen.«

Seyfrid hob erstaunt die Augenbrauen. »Ich dachte, er hätte ihn geköpft! Du sagtest doch aus, der ganze Fußboden wäre voller Blut gewesen.«

Grimmel zupfte nervös an seinem Ärmel herum. »Oh ja, da war überall Blut auf dem Boden, aber der Stich ging ins Herz.«

Seyfrid wusste als schlachtenerprobter Ritter und Medicus nur zu gut, dass nach einem Stich ins Herz bemerkenswert wenig Blut floss, weil es augenblicklich aufhörte zu schlagen. »Natürlich, verzeih mein unzulängliches Gedächtnis, du hast es ja genau gesehen, schließlich standest du direkt in der Tür.«

»In der Tür?«, wiederholte Grimmel, der sich jetzt sichtlich unwohl fühlte. »Nein, ich befand mich draußen vor dem Haus. Ich war auf dem Weg vom Wirtshaus nach Hause, als ich zufällig vorbeikam.«

»Du musst doch Todesängste ausgestanden haben, dass der Ritter dich wiedererkennt. Dann wärest du deines Lebens nicht mehr sicher gewesen.«

»Ja. Ich meine, nein. Er kannte mich ja nicht.«

»Erstaunlich! Du kanntest ihn, aber er dich nicht?«

»Ja, so war es.«

»Woher kanntest du ihn denn?«

»Ich weiß nicht mehr genau. Vielleicht vom Markt.«

»Ein Ritter, der sich selber auf einen Markt begibt? Höchst eigenartig, man sollte doch meinen, dass sein Gesinde das für ihn erledigt.«

»Nein, jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte Grimmel hastig. »Es war hier am Hafen. Ja, er kaufte Waren hier an einem Schiff.«

Das hatte er ganz sicher nicht getan, dachte Seyfrid und sah zu den armseligen Gestalten hinüber, die schwere Körbe vom Schiff entluden. »Wie ich sehe, betreibst du hier am Hafen ein florierendes Geschäft.«

»Ich beschäftige ein paar Knechte.«

»Du musst ein tüchtiger Mann sein. Wenn man bedenkt, dass du vor wenigen Monaten noch selbst Hafenknecht warst.«

Grimmel räusperte sich verlegen. »Nun, das war ich einst, aber ich habe viel gespart, du verstehst schon.«

Seyfrid blickte unverhohlen auf die Kleidung Grimmels. »Das sehe ich.«

Grimmel zog seinen Mantel vorn zu, als könne er sich damit unsichtbar machen. »Verzeih, werter Herr, aber ich muss mich jetzt um wichtige Angelegenheiten kümmern!«

Er eilte an Seyfrid vorbei in Richtung des Hafentors, dabei waren seine Hafenknechte noch damit beschäftigt, Waren vom Schiff zu löschen. Sie sahen ihm mit einer Mischung aus Erleichterung und Verwunderung nach.

Grimmel hat eindeutig etwas zu verbergen, dachte Seyfrid. Und er würde herausfinden, was es war.

***

Rebecca hatte die halbe Nacht keinen Schlaf gefunden und sich auf ihrem Bett gewälzt. Wer hatte ihren Vater mit Arsenik vergiften wollen? Und was, wenn der Attentäter es erneut versuchen und dann erfolgreicher sein würde? Als der Morgen dämmerte, fasste sie einen Entschluss: Sie würde den Giftmörder suchen. Weil niemand es gutheißen würde, dass sie als Frau sich um Dinge kümmerte, für die der Büttel zuständig war, würde sie es im Geheimen tun.

Rebecca wusste auch schon, wo sie mit der Suche anfangen würde. Sie kleidete sich rasch an und eilte aus dem Haus. Ihrer Mutter hatte sie erzählt, dass sie mit ihrer Freundin Sieglinde die Messe in Sankt Maria im Kapitol besuchen wolle. Zwar lenkte sie ihre Schritte tatsächlich in Richtung der Kirche, jedoch hatte sie etwas ganz anderes vor.

Ulrich von Schwarzenberg hatte gesagt, dass ihr Vater an einer Arsenikvergiftung litt. So viel hatte sie von ihrer seligen Tante Anna gelernt, dass Arsenik teuer und selten war. Wenn überhaupt, dann würde man es bei einem Apotheker bekommen. Zwei der drei Apotheker in Köln genossen keinen guten Ruf, ihre Rezepturen waren oft geradezu grotesk, aber dafür billig. Dank ihrer Tante war Rebecca mit vielen Heilpflanzen und so manchem Rezept vertraut und konnte daher in gewissen Fällen durchaus beurteilen, ob eine Medizin helfen würde oder nicht.

Die gut betuchten Bürger Kölns konsultierten Bartholomäus Brosach im Hof von Sankt Maria im Kapitol. Allerdings war Rebecca selbst noch nie bei ihm gewesen, und so war sie sich nicht sicher, ob sie nicht gleich abgewiesen würde.

Von außen wirkte das Haus des Apothekers unscheinbar, die Fenster waren wegen der Kälte mit Stroh verstopft worden. Da Sonntag war, bestand nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass sonst noch ein Kunde dort war. Sie fasste sich ein Herz und trat ein.

In einem Sammelsurium von merkwürdigen Geräten, getrockneten Pflanzen und Teilen toter Tiere hockte ein alter Mann, der bedächtig seinen Kopf hob und sie neugierig ansah. Rebecca hatte schon viele seltsame Dinge über die Apotheke gehört und staunte, dass die Realität die Erzählungen sogar noch übertraf. Der Apotheker schien angenehm überrascht zu sein, dass eine junge Frau ihn aufsuchte.

»Sei gegrüßt, Meister Brosach«, begann Rebecca in fröhlichem Tonfall. »Du hast wahrlich ein interessantes Geschäft.«

Brosach erhob sich und strich seinen etwas fleckigen Überrock glatt. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich bin Rebecca Quentenberg und würde gerne wissen, ob du Arsenik hast.«

Er hob verblüfft die Augenbrauen. »Wozu brauchst du Arsenik?«

»Mein Vater leidet unter heftigen Schmerzen im Bauch, und ich hörte, dass pulverisiertes Arsenik dagegen hilft.«

»Ah, ich habe bereits gehört, dass dein Vater erkrankt sei. Nun, es ist zwar richtig, dass Arsenik gegen Schmerzen hilft, aber ich kann dir einige wesentlich günstigere Mittel geben. Du musst wissen, dass Arsenik recht teuer ist und vor allem auch gefährlich. Eine auch nur geringfügig zu hohe Dosis kann zum Tod führen.«

»Stimmt es, dass Arsenik aus einem Stein gewonnen wird?«

»Ja, es ist ein Erz, das nur an wenigen Orten gefunden wird, und man muss es im Feuer erhitzen, um das Arsenik zu gewinnen. Deshalb wird es auch Hüttenrauch genannt.«

»Also, hast du Arsenik hier?«

»Nein, leider habe ich das letzte Arsenikpulver schon vor einigen Monaten verkauft.«

»An wen hast du es denn verkauft?«

Brosach sah sie bekümmert an. »Es tut mir leid, Fräulein Quentenberg, aber es ist mir untersagt, darüber zu sprechen.«

Rebecca nickte verständnisvoll. »Natürlich, du hast den Apothekereid geleistet.«

»Ganz genau.«

»Der verpflichtet dich auch, alle Gifte, die du verkaufst, in ein Register einzutragen.«

»Du kennst dich erstaunlich gut aus«, sagte Brosach verblüfft.

»Oh, ich hörte zufällig davon. Verkaufen viele Apotheker in Köln Arsenik?«

Brosach warf sich in die Brust. »Ich bin in Köln der Einzige, der Arsenik beschaffen kann. Das gilt übrigens auch für viele andere medizinische Ingredienzien. Unter uns gesagt, verdienen es die beiden anderen nicht, Apotheker genannt zu werden.«

Rebecca hatte genug gehört. »Nun, so werde ich meinem Vater berichten und ihn entscheiden lassen, ob er lieber eine andere Medizin haben möchte.«

Sie verabschiedete sich ausgesucht höflich von dem Apotheker. Beim Verlassen des Ladens warf sie einen verstohlenen Blick auf ein Pult in der Ecke. Dort lag eine dicke Schriftrolle neben einem Tiegel mit Tinte, in dem eine Gänsefeder steckte. Rebecca war sich gewiss, dass es das Register des Apothekers war.

***

Seyfrid kehrte durch das Salzgassentor vom Hafen in die Stadt zurück. Er wollte nach seinem Patienten sehen und schlug deshalb den Weg über den würzig duftenden Buttermarkt ein, wo Bauern Käse und Butter feilboten.

Über der Salzgasse, wo die Fischhändler den Fang zur längeren Haltbarkeit in Salz einlegten, lag hingegen ein penetranter Gestank. Auch am Sonntag schleppten einige Knechte Kisten voller Heringe und Makrelen, die niederländische Fischer aus der Nordsee gezogen hatten, die Gasse entlang. Sie konnten nicht am Hafen liegen bleiben, sonst wären sie rasch verfault. Offenbar blühte der Handel mit den Fischen in Köln, alle angelandeten Meerestiere wurden hier kontrolliert, verpackt und die Kisten mit dem Kölner Siegel versehen. Seyfrid war froh, als er den Heumarkt erreichte und den atemberaubenden Fischgeruch hinter sich lassen konnte.

Kurz darauf klopfte er beim Haus seines Patienten in der Lintgasse, und Albert öffnete ihm die Tür. Bei seinem Anblick verzog sich das hagere Gesicht zu einem erfreuten Lächeln, unzählige Falten blühten auf.

»Werter Medicus! Sicher willst du nach dem gnädigen Herrn sehen.« Untertänig bat er ihn herein.

Kaum stand Seyfrid in der Stube, kam ihm auch schon Otto Berlicher entgegengeeilt. »Nun, ich weiß nicht, ob Meister Quentenberg gerade in der Verfassung ist, dich zu empfangen.«

Der Wichtigtuer ging Seyfrid gewaltig auf die Nerven. »Wie erfreulich, ich muss gar nicht nach dem Gesundheitszustand meines Patienten sehen, anscheinend hast du das schon für mich erledigt.«

Bevor der Secretarius antworten konnte, erscholl eine scharfe Stimme von oben. »Berlicher, bitte den Medicus gefälligst herein!« Maria Quentenberg war ganz offensichtlich nicht gut auf den Secretarius zu sprechen.

Sie erwartete Seyfrid auf der obersten Treppenstufe. »Ich bin sehr erfreut, dass du kommst. Mich dünkt, es geht meinem Gatten besser, aber das kannst nur du beurteilen.«

Seyfrid bedankte sich höflich und betrat das Schlafgemach. Matthias Quentenberg saß mit einem dicken Kissen im Rücken auf dem Bett. Seine Gesichtsfarbe war zwar immer noch blass, aber seine Augen wirkten wieder lebhaft.

»Ah, mein Medicus! Nur herein, du siehst einen wieder gesunden Menschen vor dir!«

»Das freut mich zu hören.«

Seyfrid untersuchte ihn und kam zu dem Urteil, dass es Quentenberg tatsächlich besser ging. »Nun, ganz gesundet bist du noch nicht, aber auf dem besten Weg. Bleib bitte bis morgen noch im Bett, dann darfst du aufstehen. Trink weiter viel Wasser und schon deine Kräfte.«

Quentenberg schien nicht wirklich glücklich zu sein, widersprach jedoch nicht.

»Wenn du das nächste Mal nach mir schickst, dann wirst du mich übrigens in der Severinstraße finden. Dietrich von der Mühlengasse ist so großzügig, mich in einem seiner Häuser wohnen zu lassen.«

»Dietrich hat dir ein Haus angeboten?«, fragte sein Patient verblüfft, dann schien er zu begreifen. »Der alte Fuchs will sich deine Dienste sichern.« Er hob warnend den Zeigefinger. »Hüte dich vor seiner Einflussnahme! Dietrich von der Mühlengasse tut nichts, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Er wird dir vorschreiben, wen du behandeln darfst.«

»Da kannst du beruhigt sein. Ich werde mir von niemandem verbieten lassen, Patienten zu behandeln, die meine Hilfe brauchen.«

»Missverstehe mich nicht! Dietrich von der Mühlengasse ist sicher ein honoriger Mann, aber er leidet unter Gicht. Ich vermute, er wird versuchen, dich zu seinem Leibarzt zu machen, auf dass er noch lange seinen Geschäften nachgehen kann.«

Welche Absichten Dietrich von der Mühlengasse hegte, war Seyfrid ziemlich egal, denn ihm kam das Angebot, ein eigenes Haus zu beziehen, sehr zupass, und er hatte gute Laune, als er eine Stunde später in die Mühlengasse einbog. Er musste das richtige Haus nicht suchen, es war mit Abstand das größte in der Gasse. Riesig ragte es empor, die Fassade war in jedem Stockwerk von Rundbogen und Säulen getragen. Es sollte dem Betrachter demonstrieren, dass hier eine mächtige Sippe residierte.

Seyfrid atmete einmal tief durch, sah seinem kondensierenden Atem einen Augenblick hinterher und klopfte dann energisch an. Es dauerte eine ganze Weile, ehe ein Mann mit zusammengewachsenen, buschigen Augenbrauen die massive Tür öffnete. Der Hausknecht musterte ihn misstrauisch.

Seyfrid stellte sich vor und erklärte sein Begehr. Der Mann gab kurz zu verstehen, dass er seinen Herrn fragen müsse, ob er Besuch empfangen wolle, und warf Seyfrid die Tür vor der Nase zu.

Seine Zehen begannen schon taub zu werden, als die Tür sich endlich wieder öffnete und Seyfrid eintreten konnte. Der Knecht führte ihn in einen prächtig ausgestatteten Raum mit einem prasselnden Kaminfeuer, wo Dietrich von der Mühlengasse an einem großen Tisch saß und seinem Secretarius einen Brief diktierte. Der Hausherr wirkte noch bleicher als am Vorabend, fand Seyfrid.

»Ah, der junge Medicus! Es freut mich, dich wiederzusehen.«

»Die Freude ist ganz meinerseits. Ich bin dir zutiefst dankbar, dass ich in einem deiner Häuser wohnen darf.«

Von der Mühlengasse winkte ab. »Einem so tüchtigen Medicus bin ich gerne behilflich. Wie gefällt es dir in Köln?«

»Ausgezeichnet. Eine prächtige Stadt.«

»Ganz meine Meinung. Es gibt keinen Ort, wo sich so viel erreichen lässt. Der Handel blüht, nicht nur innerhalb der Stadt, auch mit fernen Ländern. Wer kein Narr ist, kann in Köln sein Glück machen.«

Seyfrid ließ seinen Blick über das prunkvoll eingerichtete Zimmer mit seinen üppigen Wandteppichen schweifen. »Das glaube ich dir gerne.« Dann wandte er sich wieder dem Hausherrn zu, der krumm nach vorn gebeugt auf seinem Stuhl saß. »Du leidest an Schmerzen im Rücken und vermutlich in vielen Gelenken, habe ich recht?«

Dietrich von der Mühlengasse nickte bedächtig. »Ich sehe, du bist ein tüchtiger Arzt. Ja, mich plagt schon seit Jahren die Gicht.« Wie zur Erklärung bewegte er vorsichtig sein Handgelenk und verzog dabei schmerzhaft das Gesicht.

»Nun, eine völlige Heilung ist zwar leider kaum möglich, aber ich könnte dein Leiden ein wenig lindern.«

»Du wärst der erste Arzt, der das vermag, und ich habe schon einige konsultiert«, sagte von der Mühlengasse überrascht.

»Du solltest den Genuss von Fleisch weitgehend meiden.« Seyfrid wies auf ein Weinglas, das auf dem Tisch stand. »Außerdem statt Wein lieber Wasser trinken, und zwar viel Wasser. Dann werde ich dir noch einen Sud aus Brennnesseln herstellen, den du jeden Tag zu dir nehmen solltest.«

»Da wäre ich dir überaus dankbar. Ein alter Mann hat nicht mehr viel Freude an seinem Leben, wenn er sich kaum noch bewegen kann. Aber was rede ich! Du willst sicher dein neues Heim in Augenschein nehmen. Ich hoffe, es wird dir zusagen.«

»Da bin ich ganz gewiss.«

Von der Mühlengasse deutete auf den Mann, der ein paar Schritte abseits stand und demütig auf Weisungen wartete. »Mein Secretarius Waldemar wird dich hinführen. Wenn du noch etwas benötigst, lass es mich wissen!«

Seyfrid beeilte sich zu versichern, dass er die kostbare Zeit des Hausherrn nicht weiter in Anspruch nehmen wolle. Kurz darauf befand er sich mit dem wortkargen Secretarius Waldemar auf der Severinstraße. Die Häuser standen dicht gedrängt, manche krumm und schief. Seyfrid war gespannt, welches davon ihm zukünftig Obdach gewähren würde.

Ungefähr nach der Hälfte der Straße hielt Waldemar vor einem schmalen Haus, das, wie die meisten anderen, über zwei Stockwerke und einen Speicher unter dem Dach verfügte. Der Secretarius steckte einen großen Schlüssel in das Schloss, und die massive Haustür knarrte in den Angeln, als er sie öffnete.

»Dein neues Heim«, sagte er nur und überreichte Seyfrid den Schlüssel. Offensichtlich schien er seine Aufgabe damit als erfüllt zu betrachten, ließ den neuen Bewohner im Eingang stehen und machte sich wieder auf den Rückweg.

Seyfrid trat neugierig ein. Die Stube war kaum fünf Schritte breit und ebenso lang. Sie verfügte über zwei Fenster, die gegen die Kälte mit Lederhäuten verhängt waren. In einer Ecke befand sich eine Feuerstelle mit einem Kamin. Die vorherigen Bewohner hatten Stühle, einen Tisch und sogar eine große Truhe hinterlassen; Seyfrid vermutete, dass die Möbel das Eigentum von Dietrich von der Mühlengasse waren.

Eine schmale Treppe führte nach oben, wo er einen grob zusammengezimmerten und mit Stroh gefüllten Holzkasten vorfand, der als Bett diente. Über eine Leiter konnte man den Speicher unter dem Dach erreichen, der jedoch völlig leer war. Seyfrid war mehr als zufrieden, für sein Vorhaben war das Haus bestens geeignet. Jetzt galt es, den nächsten Schritt vorzubereiten.

Er kehrte zum »Wilden Eber« zurück, holte seine Sachen aus dem kleinen Zimmer und suchte den Wirt in der Schankstube auf. Er dankte Peter Cüppers für die Gastfreundschaft und bat ihn, falls jemand nach ihm fragen sollte, seine neue Adresse in der Severinstraße zu nennen, wo er zukünftig Patienten zu behandeln gedachte.

Seyfrid hatte in der neuen Unterkunft gerade seine wenigen Habseligkeiten in die Truhe gestopft und ein Feuer im Kamin entzündet, als es an der Tür klopfte. Ein wenig verwundert rief er: »Wer ist da?«

»Bruder Maternus.«

Er zögerte einen Moment, doch dann öffnete er dem Besucher die Tür. So ganz geheuer war ihm der riesige Mönch immer noch nicht. »Mein neuer Wohnsitz hat sich aber schnell herumgesprochen.«

»Ich habe mich beim Wirt vom ›Wilden Eber‹ erkundigt.«

»Was kann ich für dich tun?«

»Der Erzbischof schickt mich.«

Seyfrid ließ sich auf einen Stuhl sinken und bot dem Besucher mit einer Handbewegung den anderen an. »Also, was will der Erzbischof von mir?«

»Du warst im Haus der Bürger bei der Versammlung der Richerzeche. Hast du irgendwelche Erkenntnisse, die du dem Erzbischof mitteilen solltest?«

»Wie du weißt, bin ich erst vor wenigen Tagen in Köln eingetroffen. Die Einladung ins Haus der Bürger habe ich dem Bürgermeister von der Aducht zu verdanken. Dort hat sich nichts zugetragen, was der Erzbischof nicht ohnehin schon wüsste, denn, wie ich sehe, hat er seine Augen und Ohren überall.«

»Hast du gestern Abend mit niemanden gesprochen?«

»Selbstverständlich habe ich mich mit einigen der Anwesenden unterhalten, aber ich habe mich ihnen lediglich vorgestellt und meine Dienste angeboten. Allzu neugierige Fragen wären so früh wohl fehl am Platze gewesen.«

Maternus sah ihm forschend ins Gesicht, als er fragte: »Hat jemand etwas über drei fremde Mönche in der Stadt erzählt?«

»Drei fremde Mönche? Nein. Um was geht es?«

Maternus schien abzuwägen, bevor er erzählte: »Vor ein paar Tagen sind drei Männer in Köln aufgetaucht. Sie trugen die Habits der Benediktiner und baten an der Drachenpforte um Einlass in den Domhof, weil sie angeblich in der Kapelle des Erzbischofs für sein Seelenheil beten wollten. Stattdessen schlichen sie aber heimlich in den Palast. Doch eine Wache ertappte sie dort und fragte nach ihrem Begehr. Sie taten so, also ob sie sich verlaufen hätten, aber es kam dem Wachsoldat verdächtig vor. Als er sie zu mir bringen wollte, zückten sie alle drei Schwerter, die sie unter den Mänteln verborgen hatten, schlugen die Wache nieder und flüchteten. Der Wachsoldat überlebte schwer verletzt. Die Wachen an der Drachenpforte sagten, der eine Mönch hätte zwar Deutsch gesprochen, aber den Zungenschlag eines Fremden gehabt, die anderen beiden Mönche hätten kein Wort geredet.«

»Wenn die Männer Schwerter trugen, waren es wohl kaum Mönche«, stellte Seyfrid fest. »Ich nehme an, du hast die drei noch nicht gefunden.«

Maternus schüttelte schmallippig den Kopf. »Ich war gerade im Palast, als ich das Geschrei hörte, und bin dorthin geeilt. Nachdem ich vernahm, was vorgefallen war, habe ich die erzbischöflichen Wachen sofort zu den Stadttoren geschickt, um nach den Mönchen Ausschau zu halten, aber leider vergeblich.«

»Wollten die drei den Erzbischof töten?«

»Anscheinend nicht. Die Wache an der Drachenpforte hatte ihnen gesagt, dass der Erzbischof nicht anwesend sei, sondern sich gerade in der Kirche Sankt Alban aufhalte. Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, ihn dort zu töten, aber sie gingen in den Palast.«

»Glaubst du, dass die Männer immer noch in Köln sind?«

»Möglich. In einer so großen Stadt kann man leicht untertauchen.«

»Hegst du einen Verdacht, wer die Männer sein könnten?«

Der Mönch zögerte einen Moment zu lange mit der Antwort: »Nein.«

Seyfrid wusste im selben Augenblick, dass es eine Lüge war. Maternus’ Verhalten verhieß nichts Gutes, etwas von großer Tragweite war hier im Gange. »Bist du sicher, dass die drei Männer dem Erzbischof nicht nach dem Leben trachten?«

»Niemand würde es wagen, Hand an einen Erzbischof zu legen! Gottes Zorn würde den Frevler strafen!«, brauste Maternus auf.

Seyfrid war sich sicher, dass einige Bürger Kölns Adolf von Altena liebend gern tot sehen würden, doch dass sie Meuchelmörder beauftragen würden, hielt auch er für unwahrscheinlich, denn der nächste Erzbischof würde nur umso heftiger gegen die Kölner vorgehen. Aber warum sonst sollten drei bewaffnete Fremde den Palast auskundschaften?

»Nun, wie ich schon dem Erzbischof gesagt habe, werde ich Augen und Ohren offen halten und ihn informieren, wenn ich etwas Wichtiges höre«, erklärte Seyfrid.

Bruder Maternus sah ihn eine Weile mit unergründlichem Blick an, dann erhob er sich. »Seine Exzellenz verlässt sich auf dich. Enttäusche ihn nicht!«

***

Heribert Grimmel blickte sich immer wieder verstohlen um. Niemand schien ihm zu folgen. Seine Kapuze hatte er so tief ins Gesicht gezogen, dass er selbst kaum noch etwas sah. Trotz der schneidenden Kälte lief ihm der Angstschweiß über den Rücken.

Als er endlich sein Ziel erreicht hatte, hob er die Hand, um zu klopfen. Sie zitterte, als hätte er stundenlang Holz gehackt. Am liebsten hätte er auf der Stelle kehrtgemacht und wäre davongelaufen. Doch es nützte nichts, er musste die Warnung überbringen. Er wusste, dass sie nicht mit Begeisterung aufgenommen werden würde.

Es dauerte lange, bis sich jemand zur Tür begab. »Wer ist da?«, fragte eine ungehaltene Stimme.

»Ich bin es, Heribert Grimmel«, antwortete er leise.

Er hörte, wie der Riegel zurückgezogen wurde. »Bist du des Wahnsinns, Grimmel?«, zischte der Getreue. »Wie kannst du es wagen, hierherzukommen? Was, wenn dich jemand sieht?«

Er packte Grimmel am Arm und zerrte ihn hinein, dann schloss er rasch die Tür.

»Verzeih, aber es gab einen Vorfall, von dem ich dir unbedingt erzählen muss«, sagte Grimmel.

»Was ist so wichtig, dass du unsere Abmachung brichst? Hast du nicht genug Geld erhalten?«

»Doch, natürlich warst du sehr großzügig«, erwiderte Grimmel unterwürfig. »Aber es wird dich sicher interessieren, dass sich heute jemand nach meiner Zeugenaussage vor dem Blutgericht erkundigt hat.«

Der Zorn des Getreuen war schlagartig verflogen. »Wer?«

»Ich kenne seinen Namen nicht, aber es war ein junger Mann in guter Kleidung, der mich am Hafen ansprach.«

»Was wollte er wissen?«

Grimmel dachte angestrengt nach, bevor er antwortete: »Nun, er sagte, dass er bei dem Blutgericht dabei gewesen sei und mich als den Zeugen wiedererkannt habe, der gegen Johann von Viskenich ausgesagt habe. Dann fragte er mich, was ich bei dem Mord beobachtet habe.«

»Was hast du ihm geantwortet?«

»Nur genau das, was ich auch vor dem Blutgericht ausgesagt habe«, versicherte Grimmel eilig und blinzelte hektisch.

»Du Spatzenhirn hast ihm doch wohl sonst nichts erzählt?«

»Aber nein, ganz gewiss nicht!« Grimmel fühlte nackte Panik, er wusste, was ihm bei einem falschen Wort blühen konnte. Deshalb zog er es vor, nicht zu erwähnen, dass er sich in Widersprüche verwickelt hatte. Der junge Mann hatte ihm aber auch so geschickte Fragen gestellt, dass er darauf hereingefallen war.

»Hast du irgendeine Idee, wer der Mann gewesen sein könnte?«

»Nein, ich habe ihn noch nie gesehen.«

Der Getreue begann im Zimmer auf und ab zu schreiten, ohne Grimmel weiter zu beachten. Er knetete unbewusst sein Kinn. Plötzlich blieb er abrupt stehen. »Wohlan, du hast richtig gehandelt, mich zu unterrichten. Gehe jetzt zu deinem Haus und rede mit niemandem! Sollte der Mann noch einmal auftauchen, fragst du ihn nach seinem Namen und teilst ihn mir umgehend mit!«

Grimmel war heilfroh, glimpflich davongekommen zu sein. »Ich werde mich gewissenhaft an deine Anordnungen halten.«

Als er die Tür hinter Grimmel geschlossen hatte, lehnte der Getreue sich gegen das Holz und schloss die Augen. Wie hatte er nur so leichtsinnig sein können, ausgerechnet einen Dummkopf wie Grimmel für die Aufgabe des vermeintlichen Zeugen auszusuchen? Der Hafenknecht war zwar gierig und gewissenlos genug, aber es hätte ihm klar sein müssen, dass Grimmel bei geschickten Nachfragen überfordert war. Vor dem Blutgericht hatte niemand Verdacht geschöpft, aber jetzt schien jemand an seiner Aussage zu zweifeln. Das konnte sehr gefährlich werden. Er musste handeln, und zwar noch heute Nacht.

Der Getreue griff nach seinem Mantel. Ihm graute vor diesem Gang, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, wollte er nicht selbst in Teufels Küche kommen.