9. DEZEMBER 1193

Die Morgenluft war wieder schneidend kalt. Seyfrid blickte zum grauen Himmel, als er seine Haustür hinter sich schloss, und hoffte, dass der Tag trocken bleiben würde. Wie so oft drängten sich viele Bürger und deren Gesinde in den Straßen, um Einkäufe zu erledigen, sodass Seyfrid nur langsam vorankam.

Da Jacob Hoengen einer der Schöffen beim Blutgericht gegen seinen Vater gewesen war, hatte er den Plan gefasst, den Glashändler auszuhorchen. Seyfrid würde vorgeben, Gläser kaufen zu wollen, und dann irgendwie auf das Gerichtsverfahren zu sprechen kommen. Er wusste, dass er sich vor zu auffälligen Fragen hüten musste, um nicht Hoengens Misstrauen zu erregen. Es würde nicht einfach werden.

Das Haus von Jacob Hoengen lag am Ende der Glockengasse. Es war zwar nicht klein, konnte es aber an Pracht und Größe bei Weitem nicht mit den Häusern der reichen Familien aufnehmen. Was Seyfrid nicht weiter verwunderte, denn in der Gasse hatten sich schon vor langer Zeit die Glockengießer angesiedelt. Ein Glashändler konnte es, wenn er edle Ware aus einer guten Glashütte bezog, sicherlich zu einem gewissen Wohlstand bringen, aber um sich mit dem Reichtum der alteingesessenen Patrizier zu messen, bedurfte es mehr, als nur Gläser zu verkaufen. Seyfrid hatte den Eindruck, dass genau dies ein Stachel im Fleisch Jacob Hoengens war: Der Glashändler würde ihnen nur zu gern auf Augenhöhe begegnen.

Ein Knecht öffnete ihm die Tür, doch Seyfrid erblickte sogleich Jacob Hoengen, der wenige Schritte entfernt in der Stube stand.

»Der Medicus besucht uns«, stellte er grußlos fest. »Ich muss dich enttäuschen, ich bin gesund.«

»Ich bin froh, dass du dich guter Gesundheit erfreust. Ich komme aber, um mir deine Gläser anzuschauen.«

Hoengens Gesichtsausdruck wechselte schlagartig, und er machte eine einladende Geste. »So tritt bitte näher!«

Der Hausherr befahl dem Knecht in scharfem Ton, einige der besten Gläser zu bringen. Der Mann eilte zu einer Truhe an der Wand, während Hoengen dem Gast einen Stuhl am Tisch anbot. Der Knecht trug vorsichtig vier in Tücher gewickelte Gläser heran und stellte sie behutsam ab. Dennoch kippte eines um, ohne jedoch Schaden zu nehmen. Hoengen schlug dem Knecht ohne Vorwarnung ins Gesicht. »Verschwinde, du Tölpel!«

Der Knecht rannte davon und hielt sich die blutende Nase.

»Das elende Gesindel wird mich noch ruinieren«, tobte Hoengen und blickte ihm zornig nach. Dann wickelte er behutsam die Gläser aus den Tüchern und wandte sich wieder Seyfrid zu.

Er deutete auf zwei Stücke unterschiedlicher Größe und von grünlicher Farbe. »Diese stammen aus einer Abtei südlich von Bonn, wo die Mönche sich meisterhaft auf die Glasbläserei verstehen. Die Wände der Gläser sind sehr stabil.«

»Fürwahr, sie sind sehr schön«, lobte Seyfrid und nahm eines in die Hand.

Hoengen hob die anderen beiden Exemplare hoch. Sie waren durchsichtig und wirkten filigraner. »Das hier ist höchste Handwerkskunst aus Venedig. Du wirst nirgendwo etwas Vergleichbares finden, ich bin der Einzige im weiten Umkreis, der sie anbietet.«

»Ich hörte, du hast weitreichende Handelsbeziehungen.«

»Ich handele nur mit den feinsten Gläsern. Ich habe selbst in fernen Städten und Ländern Käufer. Edelmänner von höchstem Range sind darunter.«

»Ich vermute, du bringst sie ihnen persönlich?«

»Selbstverständlich, das erwartet man von mir. Ich reise in viele Orte des Reiches und bis nach Frankreich und Brabant.«

»Ich staune, dass du trotzdem bis letzten Sommer noch die Zeit hattest, dein Amt als Schöffe der Stadt wahrzunehmen.«

Hoengen fragte nicht einmal, woher der neue Medicus wusste, dass er Schöffe gewesen war. Er sonnte sich nur zu gern im Licht der Aufmerksamkeit. »Nun, wenn mich mein wichtiges Amt als Schöffe zu sehr in Anspruch nahm, ging mein Sohn Kaspar für mich auf Reisen. Er war sogar schon in Paris.«

Die Prahlereien interessierten Seyfrid nicht, und so lenkte er das Gespräch wieder auf das Schöffenamt. »Du hast sicher auch einigen schwierigen Gerichtsprozessen beigewohnt.«

»Durchaus. Es war nicht immer einfach, aber wir fanden stets ein gerechtes Urteil.«

Es war der richtige Zeitpunkt, den Köder auszuwerfen. »Ich hörte sogar von einem Blutgericht gegen einen Ritter, wenn ich mich recht erinnere.«

»Der Ritter von Viskenich. Er beging ein ruchloses Verbrechen. Er hatte Gottfried Hackenbroich, einen Bruder unserer Richerzeche, in seinem Haus überfallen und erstochen. Der Ritter konnte seine Schulden nicht begleichen und ertrug diese Schande nicht, deshalb tötete er seinen Gläubiger.«

»Wie überaus seltsam. Er musste doch damit rechnen, dass man ihn erwischt und verurteilt.«

Hoengen zuckte die Achseln. »Wer weiß schon, was in einem gekränkten Gemüt vorgeht?«

»Hat der Ritter sich denn nicht vor Gericht verteidigt?«

»Er hat die Tat geleugnet. Aber sein Schwert steckte im Toten. Der Ritter bekam den verdienten Tod durch den Henker.«

Seyfrid hatte unwillkürlich die Faust um das venezianische Glas geballt. Er lockerte den Griff und stellte es vorsichtig auf dem Tisch ab. »War es ein einhelliges Urteil?«

»Nun, zunächst gab es einige Schöffen, die von Viskenich glauben schenkten, auch der Blutrichter, Graf von Arenberg, schwankte in seiner Meinung. Der Ritter behauptete, auf dem Weg zu seiner Burg überfallen, gefesselt und seines Schwertes beraubt worden zu sein. Jemand anders hätte Hackenbroich getötet, um ihm dann den Mord in die Schuhe zu schieben. Doch dann meldete sich ein Zeuge, der beschwor, von Viskenich bei dem Mord gesehen zu haben. Das Todesurteil gegen ihn fiel dann einhellig.«

Hoengen empfand wohl, er hätte nun genug über die Vergangenheit gesprochen, und deutete etwas ungeduldig auf die Gläser. »Bist du nun an den Gläsern interessiert? Ich würde sie dir zu einem guten Preis anbieten.«

Es fiel Seyfrid schwer, sich wieder auf den Handel zu konzentrieren. Er deutete auf eines der durchsichtigen Gläser. »Wie viel willst du für das hier?«

»Ein Glas aus Venedig. Eine exzellente Wahl. Ich lasse dir dieses Glas für dreißig Gulden.«

Seyfrid stockte kurz der Atem. »Das erscheint mir recht teuer.«

»Teuer? Du hast keine Ahnung! Für den Preis bekomme ich kaum meine eigenen Kosten gedeckt. Für weniger kann ich dir die venezianischen Gläser leider nicht lassen.«

Seyfrid räusperte sich und blickte auf die beiden dickwandigeren Gläser. »Und wie viel kosten die anderen?«

Hoengen nahm das venezianische Glas rasch an sich, als wolle er es vor Seyfrid in Sicherheit bringen. »Das größere Glas kannst du für fünfzehn Gulden haben, das andere kostet nur zehn.«

Seyfrid holte tief Luft, ehe er antwortete: »Ich weiß dein großzügiges Angebot zu schätzen, möchte es jedoch gerne noch überdenken.«

Hoengen war viel zu sehr Händler, als dass er Seyfrid so schnell von der Angel lassen würde. »Nun, da ich dir als Medicus in unserer Stadt gerne ein kleines Geschenk machen möchte, würde ich sogar auf neun Gulden heruntergehen.«

Seyfrid sah das Glas lange an. Eigentlich hatte er überhaupt nicht vorgehabt, eines zu kaufen, aber jetzt zog er zum ersten Mal in Betracht, sich diesen Luxus zu leisten.

Das lange Schweigen legte Hoengen als Ablehnung seines Angebots aus. »Acht Gulden, mein letztes Wort!«

Hoengen hielt ihm die Hand hin, und Seyfrid schlug ein wenig überrumpelt ein. Erst als er wieder losließ, wurde ihm klar, dass er soeben eine stattliche Summe für etwas ausgegeben hatte, das er eigentlich gar nicht brauchte. »Ich habe das Geld nicht bei mir. Könnte ich es dir zu einem späteren Zeitpunkt bringen?«

Doch Hoengen winkte ab. »Ich lasse dir das Glas nach Hause bringen, und du übergibst dem Boten das Geld.«

Gedankenverloren schlenderte Seyfrid über den Heumarkt. Leider hatte Hoengen ihm keine wirklich neuen Erkenntnisse über das Blutgericht geliefert, aber immerhin bestätigt, dass einige Schöffen zunächst doch an der Schuld des Angeklagten gezweifelt hatten. Erst die Zeugenaussage Grimmels hatte sein Schicksal besiegelt.

Eine dichte Menschenmenge drängte sich auf dem Heumarkt um die Stände der Händler und Bauern. Seyfrid versuchte gerade, sich an einem Karren voller Getreidesäcke vorbeizuschieben, als er in der Bewegung erstarrte. Ein Mönch, der die Kapuze seines Umhangs über den Kopf gezogen hatte, ging ungefähr dreißig Schritte entfernt auf der anderen Seite des Markts entlang und sah sich kurz um. Ihre Blicke trafen sich nur für einen winzigen Moment, doch Seyfrid fühlte sich wie vom Blitz getroffen.

Aus dem Dunkeln der Kapuze funkelten stechende graue Augen, die lange Nase und die schmalen Lippen waren für einen Wimpernschlag zu sehen. Ein Gesicht, das ihn seit Jahren in seinen Albträumen verfolgte. Graf Louis de Beauvard! Sein Todfeind war hier.

Seyfrid verharrte eine Sekunde lang wie gelähmt, dann machte er einen Satz nach vorn, rannte fast einen Knecht um und quetschte sich an dem Karren vorbei. Er versuchte sich durch die Menge zu schieben, doch es war kaum ein Durchkommen. Seyfrid stieß einige Menschen rüde zur Seite und verlor dabei de Beauvard aus den Augen. Als er an die Stelle gelangte, wo er ihn eben noch gesehen hatte, war der Graf verschwunden.

Seyfrid arbeitete sich weiter vor, doch konnte er die Gestalt mit dem Mönchsgewand nirgendwo mehr entdecken. Schließlich stand er mitten auf dem Platz und sah sich hektisch um. Wo konnte de Beauvard hin sein?

Er bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Was hatte der Graf zu verbergen, dass er nicht mit einem Tross Soldaten und Dienern reiste und hoch zu Ross in die Stadt einritt? Stattdessen lief er als Mönch verkleidet zu Fuß durch die Straßen. War de Beauvard auf Pilgerreise zum Dom, um den Heiligen Drei Königen zu huldigen? Nein, selbst dann würde er nicht auf Diener verzichten.

Seyfrid fühlte sein Herz pochen und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. War es wirklich de Beauvard gewesen? Oder war er einem Trugbild aufgesessen? Je länger Seyfrid darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er. Er hatte das Gesicht des Mannes nur für einen ganz kurzen Augenblick aus einiger Entfernung gesehen. Vielleicht war es nur eine zufällige Ähnlichkeit. Und hätte de Beauvard nicht ein Zeichen des Erkennens zeigen müssen?

Schließlich brach Seyfrid die Suche ergebnislos ab. Der Mann blieb verschwunden.

Er war es! Es war Seyfrid von Viskenich! Außer Atem drückte sich Louis de Beauvard an eine Hausmauer und spähte um die Ecke nach seinem Verfolger. Er schien ihn abgehängt zu haben.

Als der Blick Seyfrids ihn traf, hatte de Beauvard instinktiv zu Boden geblickt und war ganz gegen seine Gewohnheit hektisch und gebückt durch die dichte Menschenmenge geeilt, in die nächste Seitengasse abgebogen und dann losgerannt, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Erst viele Straßen später hatte er innegehalten.

Langsam ließ er den Griff seines Schwertes wieder los, das er versteckt unter dem weiten Mantel trug. Es war Jahre her, und Seyfrid hatte sich verändert, aber de Beauvard hatte ihm direkt in die Augen geschaut. Er war sich sicher, dass Seyfrid ihn auch erkannt hatte. De Beauvard stieß einen leisen Fluch auf Französisch aus. Seyfrid lebte noch und war in Köln! Man hatte ihm versichert, dass der Sohn Johann von Viskenichs tot sei.

Der Graf war unschlüssig, was er nun tun sollte. Er durfte auf keinen Fall den Plan gefährden.

Ihm hatte es damals gefallen zu hören, dass ausgerechnet der Vater Seyfrids von Viskenich als Opfer dienen sollte. Welch überaus willkommener Zufall, der Familie des verhassten Feinds Leid zuzufügen! Weil seit Jahren niemand in Köln etwas von Seyfrid von Viskenich gehört hatte, galt er als tot. Gefallen im Heiligen Land oder auf dem Rückweg ums Leben gekommen. Nun, in Akkon hatte sich Seyfrid bester Gesundheit erfreut, dank eines ungläubigen Arztes, wie de Beauvard nur zu gut wusste.

Über das weitere Schicksal des jungen Deutschen hatte der Graf seit seiner hastigen Abreise aus Palästina nichts mehr erfahren. Doch da der Heimweg voller Gefahren steckte, hatte auch er angenommen, dass Seyfrid tot wäre. Erschlagen von Räubern, ertrunken im Meer, von einer Krankheit dahingerafft – es gab mannigfaltige Möglichkeiten, auf der langen Reise zu sterben.

Aber hier war Seyfrid von Viskenich, mitten in Köln und sehr lebendig! De Beauvard ballte wütend die Fäuste. Am liebsten wäre er umgekehrt und hätte ihm mit dem Schwert ein schnelles Ende bereitet, doch er durfte um nichts in der Welt auffallen. Zu viel stand auf dem Spiel.

Langsam konnte de Beauvard wieder vernünftig denken. Seyfrid hatte sich in Köln niemandem zu erkennen gegeben, sonst hätte sich das schon längst herumgesprochen. Natürlich, die Familie von Viskenich war vom Blutgericht für geächtet erklärt worden, erinnerte sich der Graf. Seyfrid durfte seine wahre Identität nicht preisgeben, sonst konnte er von jedem Bürger ungestraft getötet werden. Dennoch wagte der Hund sich wieder nach Köln. Offensichtlich wollte er die Ehre seines Vaters wiederherstellen, um sein Erbe anzutreten.

Ein neuer Gedanke durchfuhr de Beauvard siedend heiß: Wusste Seyfrid von dem Plan? Hatte er sich bereits einiges zusammengereimt und war ihnen auf der Spur? Auch wenn de Beauvard ihn abgrundtief hasste, so musste er doch zugeben, dass der junge von Viskenich Mut hatte und nicht dumm war. Im Heiligen Land wäre ihm das beinahe zum Verhängnis geworden, erinnerte er sich bitter.

De Beauvard löste sich von der Hausmauer und versuchte gemächlich voranzuschreiten, wie ein Pilger, der zum ersten Mal die beeindruckende Stadt Köln bewunderte. Doch warf er immer wieder misstrauische Blicke über die Schulter. Je länger er nachdachte, desto mehr fürchtete er, dass Seyfrid von dem Plan ahnte. Doch der Graf hatte die Überraschung in seinen Augen gesehen, offensichtlich hatte Seyfrid nicht mit ihm gerechnet. Allzu viel konnte er somit noch nicht wissen.

Es half nichts, er musste sich wieder mit dem Getreuen treffen. Seyfrid durfte nicht am Leben bleiben.

***

Seyfrid schloss die Tür hinter sich und legte den Riegel vor. Vorsichtshalber rüttelte er noch einmal daran, nur um sicherzugehen, dass sie auch wirklich hielt. Er hatte ein ungutes Gefühl, auch wenn er sich inzwischen einzureden versuchte, dass er wahrscheinlich einen völlig harmlosen Mönch mit Graf de Beauvard verwechselt hatte. Auf die Entfernung konnten einem die Augen schon mal einen Streich spielen.

Er entledigte sich seines Mantels und warf ihn auf die Truhe, in der er auch sein Schwert aufbewahrte. Im selben Augenblick durchzuckte es ihn wie ein Blitz. Heribert Grimmel war durch einen sehr geschickten Stich mit dem Schwert getötet worden. Die Kreuzritter hatten genau diese Technik im Heiligen Land vervollkommnet, um feindliche Wachen sofort geräuschlos auszuschalten. Seyfrid bezweifelte, dass jemand in Köln diesen schwierigen Stich beherrschte, es sei denn, er war ein Kreuzritter. Ein Kreuzritter wie Louis de Beauvard. Seyfrid fühlte eine eisige Kälte sein Rückgrat hochkriechen. Graf de Beauvard hatte Grimmel getötet! Er gehörte zu den Verschwörern, die seinen Vater auf dem Gewissen hatten.

Auf einmal fiel ihm wieder ein, was Maternus erzählt hatte: Drei fremde Mönche waren in den Domhof gekommen und hatten sich heimlich im Palast umgesehen. Warum war ihm das nicht gleich eingefallen? Sie hatten Schwerter mit sich geführt und damit Soldaten des Erzbischofs niedergeschlagen – dazu wären Mönche wohl kaum in der Lage. Seyfrid zweifelte nicht daran, dass es Louis de Beauvard mit zwei Gefährten gewesen war.

Er ließ sich auf dem Hocker am Tisch nieder. Aber wieso war der Franzose an der Intrige gegen seinen Vater beteiligt? Die Burg de Beauvards lag viele Tagesreisen entfernt, irgendwo östlich von Paris. Hatte er den Plan ausgeheckt, nur um sich wegen der Schmach in Palästina an ihm zu rächen? Seyfrid schüttelte unwillkürlich den Kopf. Auch wenn der Graf zutiefst hinterhältig war, kam es ihm absurd vor. Alle hielten Seyfrid von Viskenich für tot, da machte es keinen Sinn, so viel Aufwand zu betreiben, nur um seinen Vater umzubringen. Nein, es musste einen anderen Grund geben, warum Johann von Viskenich hatte sterben müssen. Irgendetwas von großer Tragweite.

Seyfrid starrte auf die noch leicht glimmende Feuerstelle, ohne sie wirklich wahrzunehmen. De Beauvard hatte ihn auch erkannt, deshalb war er so schnell vom Heumarkt verschwunden. Das bedeutete, dass nun die anderen Verschwörer, wer auch immer dazugehören mochte, es erfahren würden. Sie würden nach ihm suchen und seine Tarnung als Ulrich von Schwarzenberg aufdecken. Dann war sein Leben nicht mehr viel wert. Die Zeit spielte nun gegen ihn. Er musste bald herausbekommen, wer hinter der Sache steckte.

***

Es war Mittagszeit, und der Getreue verspürte Hunger. Er wollte gerade zum letzten Stück Brot greifen, als es unerwartet an der Tür klopfte. Auf seine Frage, wer da sei, bekam er nur einen leisen Fluch auf Französisch zu hören. Eine böse Vorahnung überfiel ihn, und er öffnete rasch.

Vor ihm stand ein Mönch mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze. Im nächsten Moment hatte sich Louis de Beauvard schon an ihm vorbeigedrängt und in seinem singenden Akzent gezischt: »Schließ die Tür!«

Er folgte der Aufforderung. »Was machst du hier? Wir hatten doch ausgemacht …«

Der Graf baute sich vor ihm auf, nur eine halbe Armlänge von seinem Gesicht entfernt. »Seyfrid von Viskenich ist in Köln!«

Sein Gegenüber brauchte einige Augenblicke, um die Nachricht zu verarbeiten. »Der Sohn Johann von Viskenichs? Es hieß, er sei auf dem Rückweg von Palästina ums Leben gekommen.«

»Da täuschst du dich, ich habe ihn eben auf dem Heumarkt gesehen. Unglücklicherweise hat er mich auch erkannt.«

»Bist du sicher, dass es Seyfrid von Viskenich war, es könnte doch –«

»Ich kenne ihn, du Trottel! Er war es«, herrschte ihn der Graf an.

Der Getreue versuchte, vor dem Franzosen keine Furcht zu zeigen und mit ruhiger Stimme zu antworten. »Gut, selbst wenn er es war, wie könnte er uns schaden? Er ist geächtet und muss um seinen eigenen Kopf fürchten.«

»Wenn er auf die Burg seines Vaters zurückkehrt, wird er alles aufdecken«, erregte sich de Beauvard, während er sich an den Tisch setzte, wo ein Krug mit Wein stand. Er schüttete sich ungefragt ein Glas ein und leerte es mit einem tiefen Zug zur Hälfte.

»Dann lass um die Burg Wachen aufstellen! Wenn er kommt, ergreift und tötet ihn!«, meinte der Getreue.

»Für wie dumm hältst du mich? Natürlich werden Wachen aufgestellt, aber unterschätze Seyfrid von Viskenich nicht! Er hat im Heiligen Land in vielen Schlachten gekämpft und wird sich nicht so leicht töten lassen. Wenn er uns entkommt, ist unser Vorhaben in Gefahr.«

»Übertreibst du nicht ein wenig? Er ist nur ein einzelner Mann.«

»Du hast keine Ahnung, wie gefährlich Seyfrid von Viskenich ist! Und dein Plan ist Mist! Du warst dir sicher, dass niemand zu der Burg kommen würde, nachdem du hast verbreiten lassen, dass der Geist des Ritters von Viskenich dort umgeht. Aber jetzt ist sein Sohn hier, und er wird sich sein Erbe nicht einfach nehmen lassen.«

Der Getreue hob beschwichtigend die Hände. »Um Seyfrid von Viskenich werde ich mich kümmern. Du hast ihn also auf dem Heumarkt gesehen. Hast du eine Ahnung, wo er jetzt sein könnte?«

»Natürlich nicht, Dummkopf! Ich hatte genug damit zu tun, ihm zu entkommen. Auch wenn ich den Bastard viel lieber im Zweikampf gestellt und ihm den Kopf abgeschlagen hätte.« Er hob drohend den Finger. »Wenn er den Plan vereitelt, haftest du mit deinem Kopf dafür!«

Der Getreue wurde blass. »Er wird uns gewiss nicht mehr in die Quere kommen. Wenn ich ihn gefunden habe, wird er eines raschen Todes sterben. Wie sieht Seyfrid von Viskenich denn aus?«

Der Graf gab eine kurze Beschreibung, die aber auf Hunderte Männer in Köln passte, wie der Getreue zu seinem Leidwesen feststellen musste.

Dann sprang de Beauvard auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du solltest ihn so schnell wie möglich finden!«, knurrte er.

Für einige Sekunden starrte de Beauvard sein Gegenüber an, bevor er sich wortlos umdrehte und das Haus verließ. Der Getreue stieß hörbar die Luft aus und ließ sich auf den Stuhl sinken. Wie sollte er Seyfrid von Viskenich finden?

Wenn Seyfrid etwas über die Verschwörung gegen seinen Vater erfahren wollte, musste er Fragen stellen, doch er durfte als Geächteter dabei auf keinen Fall seinen Namen nennen. Wo konnte er sich verstecken, ohne aufzufallen? Der Getreue rieb sich das Kinn, wie immer, wenn er intensiv nachdachte. Es half nichts, er musste die Gasthäuser und Herbergen aufsuchen und sich dort nach einem Mann umsehen, auf den die Beschreibung passte.

Er erhob sich, kletterte auf den Speicher und öffnete eine Truhe. Aus einem Tuch wickelte er ein Schwert aus. Er zog es aus der ledernen Scheide und hielt es hoch, sodass sich das Flackern der Öllampe auf dem blank polierten gestählten Eisen widerspiegelte. Vorsichtig strich er mit der Hand die Klinge entlang bis zur Spitze. Die Waffe war von Meisterhand gefertigt. Der Getreue konnte von ihrem Anblick nie genug bekommen. Die Klinge war so scharf, dass sie mühelos einen Arm abtrennen konnte. Gleichzeitig lag das Schwert mit dem eingravierten Schriftzug »+VLFBERH+T« perfekt in der Hand. Auch wenn der geheimnisumwobene Schmied Ulfberht schon lange tot war, hatte es nie jemand geschafft, an seine Kunstfertigkeit heranzureichen.

In die Parierstange war ein zweiter Namen eingraviert: »VISKENICH«. Ein Lächeln überzog das Gesicht des Getreuen. Er würde nur zu gern den Sohn mit dem Schwert des Vaters töten.

***

Seit Rebecca aufgestanden war, kam sie aus dem Grübeln nicht mehr heraus. Sie konnte sich auf nichts richtig konzentrieren, und ihre Mutter, der sie beim Zusammenfalten der fertigen Kleider zur Hand gehen sollte, schalt sie mehrmals wegen ihrer Unachtsamkeit. Das gestrige Gespräch mit der Witwe Hackenbroich hatte Rebecca wütend gemacht. Sie war überzeugt, dass die alte Ziege ganz genau über das Arsenik Bescheid wusste, aber mit der Wahrheit nicht herausrücken wollte. Nur wie sollte sie das beweisen?

Noch mehr zu denken gab ihr aber der Besuch der Hoengens. Tief in ihrem Inneren hatte Rebecca ein ungutes Gefühl. Wollte ihr Vater sie etwa aus geschäftlichen Gründen mit Kaspar Hoengen verloben? Sie hatte sich immer gegen die Vorstellung gewehrt, ihre Eltern könnten sie zu einer Heirat mit einem Mann zwingen, den sich nicht wollte. Rebecca wusste, dass ihr Vater sie, sein einziges Kind, über alles liebte und ihr keinen Wunsch abschlagen konnte. Doch sollte er zum ersten Mal in ihrem Leben etwas von großer Tragweite gegen ihren Willen entscheiden?

Nein, das würde er nicht tun, sagte sich Rebecca zum wiederholten Male. Außerdem hatte der Pfarrer in Sankt Brigiden erst vor einigen Wochen noch gepredigt, dass Gott nur einen Mann und eine Frau in den heiligen Stand der Ehe erheben würde, die sich von ganzem Herzen liebten. Die Kirche würde es nicht dulden, wenn zwei Menschen zur Ehe gezwungen würden, die sich nicht aufrichtig zugetan seien.

Andererseits kannte Rebecca genügend Fälle in der Richerzeche, bei denen die Söhne und Töchter vor der Heirat nicht gefragt worden waren, ja sogar erst kurz vor der Hochzeit davon erfahren hatten. Die Väter hatten in der Vereinigung der beiden Familien einen geschäftlichen Vorteil gesehen und es deshalb so entschieden. Es floss reichlich Geld seitens des Brautvaters an die Familie des zukünftigen Ehegatten, so wie es die Tradition verlangte. Letztlich profitierten aber beide Familien, weil man als Verbündete im Wettbewerb gegenüber anderen Häusern nun stärker war.

Nein, das kann er nicht tun, dachte Rebecca erneut. Ihr Vater wollte nur, dass Jacob Hoengen zukünftig Gewänder von ihm mit auf Reisen nahm, um sie zum Verkauf anzubieten, das war schon alles. Es ging nur ums Geschäft.

Sie klammerte sich an den Gedanken, dass weder ihr Vater noch Jacob Hoengen während des Besuchs auch nur ein Wort über eine mögliche Verlobung verloren hatten. Außer dieser kleinen Andeutung von Hoengen …

Bei dem Gedanken, mit Kaspar Hoengen verheiratet zu werden, schüttelte es Rebecca. Er war ein komischer Kauz, zwar nicht unfreundlich, aber linkisch und schüchtern. Außerdem fand sie seine eng zusammenstehenden Augen, die lange Nase und die dünnen Lippen nicht gerade attraktiv. Irgendwie tat er ihr auch leid, weil sein Vater ihn immer schlecht behandelte, oft schlug und vor anderen Leuten verspottete. Aber eine Vermählung mit Kaspar Hoengen? Niemals!

Unwillkürlich hatte sie das Kleid, das sie in der Hand hielt, sinken lassen und ihre Mutter angestarrt. Als Maria Quentenberg es bemerkte, rief sie ungehalten: »Was ist?«

Rebecca war schon versucht zu fragen, ob ihre Eltern tatsächlich vorhatten, sie zu verheiraten, überlegte es sich aber im letzten Moment anders. »Ach, nichts«, murmelte sie und fuhr fort, die Kleider zu falten.

***

Mechthild Hackenbroich ging zum wiederholten Male die Straße hinauf und hinunter, ohne dabei eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite aus den Augen zu lassen. »Irgendwann muss er das Haus verlassen«, sagte sie sich.

Die Kälte kroch ihr trotz des warmen Mantels mit dem Pelzkragen langsam unter die Haut, doch sie musste ihn unbedingt sprechen. An die Tür zu klopfen kam für sie nicht in Frage, denn sie wollte auf keinen Fall von jemandem dabei gesehen werden. Zu schnell würde der Tratsch durch die Stadt getragen werden.

Zu ihrer Überraschung erblickte sie den Mann, auf den sie gewartet hatte, plötzlich auf der Straße. Er näherte sich zielstrebig dem Haus, und die Witwe musste sich sputen, ihm den Weg zu verstellen. »Auf ein Wort«, sagte sie.

Der Getreue zuckte zusammen und sah sie verblüfft an. »Witwe Hackenbroich! Was soll der Überfall?«

»Ich muss dich dringend sprechen, aber nicht hier auf der Straße.«

Er zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Warum die Geheimnistuerei?«

Sie beugte sich vor und zischte leise: »Es geht um das Arsenik.«

Der Getreue warf rasche Blicke nach rechts und links, um sicherzugehen, dass sie auch niemand beobachtete, ehe er ebenso leise antwortete: »Was soll damit sein? Ich habe es dir doch gut bezahlt.«

»Du hast mir nicht die Wahrheit gesagt! Es war nicht für deinen erkrankten Großonkel gedacht, sondern für Matthias Quentenberg. Aber du wolltest ihn nicht heilen, du wolltest ihn damit umbringen.«

Die Körperhaltung des Getreuen versteifte sich schlagartig. »Wie kommst du auf diese absurde Anschuldigung?«

Ein bösartiges Lächeln erschien auf ihrem feisten Gesicht. »Halte mich nicht für dumm! Ich weiß, dass du mit dem Arsenik jemand aus dem Weg räumen wolltest, aber bevor mein Gatte es dir übergeben konnte, ist er vom Ritter von Viskenich ermordet worden.«

Er blickte sie einige Sekunden stumm an. Dann sagte er langsam: »Was willst du?«

»Komm heute Abend zur Vesper zu mir nach Hause, dort können wir ungestört reden.«

Sie tat so, als wolle sie gehen, doch dann drehte sie sich noch einmal abrupt um. »Ehe ich es vergesse: Es gibt noch jemand, der weiß, dass mein Gatte das Arsenik gekauft hatte.«

Die Gesichtsfarbe des Getreuen war um eine Nuance blasser geworden. »Wer?«

»Rebecca Quentenberg«, sagte sie mit Triumph in der Stimme. Dann schritt sie hastig von dannen.

Trotz der Kälte fühlte sie sich euphorisch, endlich konnte sie ihr Wissen zu Geld machen und sich so ihren Lebensabend sichern. Seit ihr Mann gestorben war, liefen die Geschäfte nur noch schleppend, auch wenn sie jedem das Gegenteil erzählte. Sie musste unwillkürlich lachen. Diesen Glücksfall hatte sie ausgerechnet der Tochter von Matthias Quentenberg zu verdanken, der mit dem Arsenik fast umgebracht worden wäre.

***

Als Seyfrid die Lintgasse entlanglief, um erneut nach seinem Patienten zu sehen, öffnete sich unmittelbar vor ihm die Tür des Hauses, und ein alter Mann mit hagerem Gesicht und gebogener Nase trat hinaus. Er trug eine Pelzmütze, um sich gegen die Kälte des Winters zu schützen. Die beiden Männer begrüßten sich aus Höflichkeit, auch wenn sie sich nicht kannten.

Als Seyfrid eintrat, saß Quentenberg am Tisch über ein Schriftstück gebeugt. Er machte einen sehr gut gelaunten Eindruck. »Du bist ja schon wieder nicht im Bett«, tadelte Seyfrid ihn.

Quentenberg blickte hoch. »Ah, mein Medicus! Setz dich zu mir!«

Seyfrid sah ihn prüfend an. »Dir scheint es bedeutend besser zu gehen.«

Der Hausherr lachte kurz auf und bestätigte: »Das kann man wohl sagen!« Er wedelte mit dem Schriftstück herum. »Das hier ist die beste Nachricht seit Langem.«

»Darf ich fragen, worum es sich dabei handelt?«

»Nun ja, bisher habe ich es streng geheim gehalten, aber da es sowieso bald offiziell wird, kann ich es dir ja verraten, wenn du mir versprichst, es noch nicht weiterzuerzählen.«

»Du hast mein Wort.«

Quentenberg lehnte sich verschwörerisch über den Tisch und gab Seyfrid mit einer Handbewegung zu verstehen, es ihm gleichzutun. »Mir wird bald eine Burg gehören!«

Seyfrid zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Der Mann, der soeben das Haus verließ, ist der Richter Hermann Eppendorf. Auch nach intensiver Suche konnte das Gericht niemanden finden, der Anspruch auf die Burg Viskenich stellen könnte. Also wird der Erzbischof sie mir zum Lehen geben.«

Seyfrid fühlte sich wie zu Eis erstarrt. Er war unfähig, ein Wort herauszubringen. Quentenberg bemerkte es in seiner Euphorie nicht.

»Ich habe den Erzbischof bereits vor einigen Wochen darum ersucht, und er war einverstanden, vorausgesetzt, ich kann nachweisen, dass niemand sonst Anspruch auf die Burg hat. Aber da die gesamte Familie des Ritters von Viskenich vom Blutgericht für geächtet erklärt worden ist, gibt es da keine Schwierigkeiten. Dieses Schriftstück des Gerichts bestätigt mir das endlich, und nun steht dem Lehen nichts mehr im Wege.«

Er tippte vergnügt mit dem Zeigefinger mehrfach auf das Dokument. »Halte mich nicht für hochmütig, aber von einer eigenen Burg träume ich schon seit meiner Kindheit. Als ich hörte, dass der Erzbischof die Burg Viskenich nach dem Tod des Ritters Johann von Viskenich – Gott sei seiner armen Seele gnädig – erneut als Lehen vergeben will, habe ich die Gelegenheit ergriffen und seine Eminenz in einer privaten Audienz aufgesucht, um ihm ein Angebot zu machen. Adolf von Altena hat natürlich Interesse daran, dass sich so bald wie möglich wieder jemand um die Ländereien kümmert.«

Seyfrids Hände umklammerten die Lehne des Stuhls vor ihm, als wolle er sie zerquetschen.

Quentenberg lachte vergnügt auf. »Nun, mein lieber Ulrich, da du selber auf einer Burg aufgewachsen bist, wirst du meine Freude sicher verstehen.«

Seyfrid versuchte sich ein Lächeln abzuringen. Es gelang ihm nicht. Er schaffte es gerade noch, sich einigermaßen höflich zu verabschieden, damit es nicht zu sehr nach Flucht aussah.

Seyfrid war kaum zu Hause angekommen, als es an der Tür klopfte. Ein junger Mann in seinem Alter mit hellbraunen Haaren und grauen, eng zusammenstehenden Augen stand vor der Tür. Er erinnerte Seyfrid an jemanden, er kam aber nicht darauf, an wen.

Der Besucher hielt etwas in der Hand, das in ein Stück Stoff eingewickelt war, und sah ihn verlegen an. »Verzeih die Störung! Bist du Ulrich von Schwarzenberg?«

Seyfrid bejahte, und der Mann hielt ihm den Gegenstand hin. »Ich bin Kaspar Hoengen. Du hast von meinem Vater ein Glas gekauft, das ich dir bringen möchte.«

Seyfrid riss sich zusammen, er musste seine wirren Gedanken über den Burgverkauf und den Grafen de Beauvard zurückdrängen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. »Hab Dank! Komm doch bitte herein!«, forderte er den Besucher auf.

Zögerlich trat Kaspar ein. Er machte auf Seyfrid einen schüchternen Eindruck. Ein Wesenszug, der in der Richerzeche eher selten anzutreffen ist, dachte Seyfrid.

Kaspar ließ sich auf einem der beiden Hocker am Tisch nieder, holte behutsam das Glas aus dem Tuch und stellte es vor Seyfrid hin, der auf der anderen Seite Platz genommen hatte.

»Ein sehr schönes Glas«, stellte Kaspar fest. »Es stammt aus einer Abtei auf der gegenüberliegenden Rheinseite von Bonn. Die Mönche dort sind wahre Meister in der Glasbläserei. Das Glas hier ist leicht, mit dünn gezogenen Wänden und dennoch stabil.«

»Du kennst dich gut aus.«

»Natürlich, das muss ich doch, wenn ich einmal das Geschäft meines Vaters übernehmen möchte.«

»Ich hörte von ihm, dass du weit gereist bist.«

Kaspar nickte eifrig. »Ja, mein Vater nahm mich schon früh mit, um Gläser einzukaufen oder sie an Edelleute zu verkaufen, die den weiten Weg nach Köln nicht auf sich nehmen wollten. Als mein Vater sein Schöffenamt ausübte, mangelte es ihm oft an Zeit, und daher unternahm ich dann einige Reisen ohne ihn.«

»Bemerkenswert«, sagte Seyfrid. Er fing an, den schüchternen Kaspar zu mögen, er war so wohltuend anders als sein mürrischer Vater.

»Aber man sagt, dass auch du schon weit gereist seist, du stammest aus der Nähe von Freiburg und hättest in Italien studiert«, sagte Kaspar.

»Ja, an der Scola Medica Salernitana.«

»Dann musst du ein wahrlich ein guter Medicus sein.«

»Ich gebe mir Mühe.«

»Ich hörte, du hättest Matthias Quentenberg in nur wenigen Minuten vor dem Tode bewahrt.«

»Die Leute übertreiben.«

»Aber er war doch sterbenskrank. An welcher Krankheit litt er denn?«

»Es tut mir leid, aber darüber darf ich nicht reden.«

»Oh, natürlich. Verzeih meine Neugier!« Kaspar räusperte sich und wechselte rasch das Thema. »Gefällt dir Köln?«

»Ja, ganz vorzüglich. Es ist eine beeindruckende Stadt mit vielversprechenden Möglichkeiten.«

»Welche Möglichkeiten meinst du?«

Seyfrid lächelte ihn an. »Nun, ein Medicus braucht Patienten, und in einer reichen Stadt gibt es viele Menschen, die sich einen Medicus leisten können.«

»Ich verstehe.«

»Deine Familie gehört zur Richerzeche?«, fragte Seyfrid, obwohl er die Antwort kannte.

»Ja, aber wir haben das Privileg erst seit ein paar Jahren. Mein Vater hat lange dafür gearbeitet, dort aufgenommen zu werden.«

»Aber wenn er bereits Schöffe war, dann muss er inzwischen hohes Ansehen genießen.«

»Das ist richtig. Dennoch können wir uns nicht mit den alteingesessenen Patrizierfamilien messen.«

»Betrübt dich das?«

»Mich weniger als meinen Vater.« Kaspar zögerte kurz. »Darf ich dich noch etwas fragen? Du bist von adligem Geblüt, wieso lebst du nicht auf der Burg deines Vaters und genießt dort das herrliche Leben mit all seinen Privilegien?«

Seyfrid überlegte sich die Antwort einige Augenblicke. »Mich dürstete nach Wissen, nicht nach Prunk.«

»Ich würde gerne auf einer Burg leben.«

»Glaube mir, dort herrschen auch nicht immer paradiesische Zustände«, lachte Seyfrid. »Die Stadt bietet durchaus ihre Vorteile.«

Kaspar blickte zu Boden und schien eine Weile darüber nachzudenken. Dann erhob er sich. »Ich muss leider wieder gehen, mein Vater erwartet mich bald zurück. Er mag es nicht, wenn ich lange wegbleibe.« Dann streckte er seine Rechte mit Handfläche nach oben aus.

Seyfrid blickte ihn irritiert an.

»Mein Vater sagte mir, dass er dir das Glas für acht Gulden überlassen habe«, erklärte Kaspar.

»Oh, natürlich!« Seyfrid erhob sich und holte aus einem Lederbeutel ein paar Geldstücke. Kaspar steckte sie dankend ein. Als er schon die Tür geöffnet hatte, drehte er sich noch einmal um.

»Wenn du magst, kann ich dir gerne die eine oder andere Taverne in Köln zeigen. Auch wenn es in unserer Stadt kein Problem ist, Bekanntschaften zu machen, ist es doch einfacher, wenn man weiß, wo man hingehen sollte.«

Seyfrid sah ihn überrascht an, nickte dann aber. »Ich nehme dein Angebot gerne an.«

»Wann wäre es dir recht?«

»Komm einfach vorbei.«

Auch wenn Seyfrid eigentlich keine Zeit für abendliche Vergnügungen hatte, erschien ihm der junge Hoengen doch ganz sympathisch. Außerdem konnte er auf die Weise vielleicht einige interessante Dinge über Kaspars Vater erfahren, der am Blutgericht gegen den Ritter von Viskenich beteiligt gewesen war und sicher nicht alles erzählt hatte, was er wusste.

***

Der Erzbischof überquerte in Begleitung zweier seiner Soldaten mit langen Schritten den Platz zwischen der Drachenpforte und Gerhards Hof. Es wurmte ihn, dass er zu Gerhard musste. Er hatte heute Morgen einen Diener zu ihm geschickt, mit der Bitte an Gerhard, sich zu einem Gespräch in den Palast zu begeben. Das Ansinnen hatte Gerhard höflich abgelehnt, er habe heute dringende Geschäfte zu erledigen und werde erst morgen Zeit finden. Doch der ungeduldige Erzbischof wollte nicht so lange warten, er musste endlich Klarheit haben. Also biss er in den sauren Apfel und begab sich selbst zu Gerhard. Der würde den Erzbischof nicht an der Tür abweisen, das wäre sogar für den reichsten Mann Kölns unziemlich.

Gerhard vom Hof empfing Adolf von Altena in einem prunkvollen Raum, der mit seiner hohen Decke und den Holzvertäfelungen auch ohne Weiteres als Halle durchgegangen wäre. Es versetzte von Altena jedes Mal einen Stich, wenn er sie betrat.

Nachdem Gerhard das große Haus vom damaligen Erzbischof Philipp übernommen hatte, war es aufwendig umgebaut worden. Hätte sein Vorgänger sich damals nicht finanziell übernommen, wäre das immer noch sein Haus, dachte Erzbischof von Altena bitter.

Gerhard bat ihn, sich an einer riesigen Tafel niederzulassen, und befahl einem Diener, zwei Becher vom besten Wein zu holen.

»Nun, Adolf, du wolltest mich sprechen?«

Tatsächlich war Gerhard vom Hof der einzige Mensch, der den Erzbischof ungestraft duzen durfte. Er hatte Adolf von Altena schon gekannt, bevor der in den Stimmbruch kam, und es nach dessen Amtsantritt als neuer Erzbischof rundweg abgelehnt, ihn auf einmal anders anzusprechen, obwohl von Altena zunächst darauf bestanden hatte. Doch bei Gerhard hatte er auf Granit gebissen, und von Altena war klug genug, es sich nicht mit ihm zu verscherzen, schließlich stand er tief bei Gerhard in der Kreide.

»Ich bin sicher, du hast bereits die Kunde vernommen, dass die Königsmutter Eleonore sich auf dem Weg nach Köln befindet«, begann von Altena.

»Natürlich. Ihre Schiffe sind mittlerweile an der Rheinmündung angelandet. Sie wird mit ihrem Tross in ein paar Tagen in Köln eintreffen.«

»Ganz recht. Ich werde der Königsmutter einen gebührenden Empfang in meinem Palast bereiten und würde es sehr zu schätzen wissen, wenn auch du uns die Ehre gibst.«

Gerhard zog fragend eine Augenbraue hoch, ehe er antwortete. »Deiner freundlichen Einladung werde ich gerne entsprechen. Doch für gewöhnlich schickst du für solche Zwecke einen Boten und bemühst dich nicht selbst zu mir. Ich vermute, dir liegt noch etwas anderes von großer Wichtigkeit auf der Seele.«

Von Altena hasste die direkte Art von Gerhard. Sie machte es ihm schwer, nicht als Bittsteller dazustehen. Er ließ sich Zeit mit der Antwort.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass du dich in der Richerzeche gegen eine Beteiligung am zusätzlichen Lösegeld für König Richard ausgesprochen hast. Alle deine Mitbrüder waren dafür, sich mit einer bescheidenen Summe an den weiteren fünfzigtausend Silbermark zu beteiligen, bis du deine Stimme dagegen erhoben hast. Danach sollen sich etliche deiner Meinung angeschlossen haben. Würdest du mir erklären, warum du dich gegen die Interessen Kölns stellst?«

»Die Interessen Kölns?«, wiederholte Gerhard in leicht spöttischem Tonfall. »Sind es nicht vielmehr die Interessen des Kölner Erzbischofs?«

»Du kannst es nennen, wie du willst«, schnarrte von Altena ungehalten. »Aber wenn die Königsmutter nicht wenigstens einen Teil der zusätzlichen Forderung auftreibt, könnte Richard vielleicht weiter auf der Burg Trifels festsitzen.«

»Heinrich hat doch bereits eingewilligt, Richard freizulassen, sobald die hunderttausend Silbermark bei ihm eingetroffen sind, und auf die zusätzlichen fünfzigtausend Silbermark geduldig zu warten, wenn ihm bis dahin Geiseln gestellt werden. Ich hörte, dass sich die vornehmsten englischen Familien darum reißen, ihre Söhne dafür anzubieten.«

»Wir brauchen dringend Garantien, dass Eleonore die fünfzigtausend Silbermark auch wirklich zusammenbekommt, sonst fällt es Heinrich noch ein, doch auf das verruchte Angebot König Philipps einzugehen und Richard weiter in Haft zu belassen.«

»Und wer garantiert uns, dass wir unser Geld je wiedersehen?«

Der Erzbischof fasste sein Gegenüber scharf ins Auge. »Gerhard, ich kenne dich schon zu lange, um nicht zu wissen, dass es dir nicht um den möglichen Verlust einer für dich geradezu lächerlichen Summe von ein paar Silbermark geht.«

»Sondern?«

Von Altena beugte sich angriffslustig über den Tisch. »Du befürchtest, dass König Philipp es den reichen Kölner Geschäftsleuten übel nehmen könnte, wenn sie sich direkt an der Freilassung Richards beteiligen, und er allen Handel mit Frankreich unterbindet.«

»Es erfüllt mich mit Freude, zu vernehmen, dass der Erzbischof Verständnis für die Bürger Kölns aufbringt.«

»Der Handel mit England wird wieder aufblühen, sobald Richard zurückgekehrt ist, und er wird Köln mehr einbringen als die Geschäfte mit Frankreich.«

»Du redest von dem ausgeplünderten England, das gerade die unfassbare Summe von hundertfünfzigtausend Silbermark verloren hat?«

»Es wird sich bald von dem Verlust erholen, schließlich ist es reich an Zinn und Kupfer, und die englische Wolle ist auch in Köln begehrt.«

»Ich wünschte, ich könnte deine Zuversicht teilen.«

Der Erzbischof lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück. So kam er nicht weiter. »Gut, auch wenn du dich selbst nicht beteiligen willst, kannst du mir wenigstens versprechen, dass du nicht weitere deiner Mitbrüder der Richerzeche an einer Beteiligung hinderst.«

»Es steht mir nicht zu, irgendjemanden daran zu hindern. Wir sind freie Bürger«, gab sich Gerhard unschuldig.

»Kannst du mir auch zusagen, dass niemand in der Richerzeche Böses gegen die Verhandlungen zwischen dem englischen Königshaus und dem Kaiser im Schilde führt?«

Diesmal war es an Gerhard, sich vorzubeugen und die Ellenbogen auf den Tisch zu legen. »Was willst du damit andeuten?«

»Du weißt, dass drei fremde Mönche heimlich in meinen Palast eingedrungen sind und dort mit dem Schwert eine Wache niedergestreckt haben. Der tapfere Soldat hat schwer verletzt überlebt und konnte mir von den Mönchen berichten.«

»Ja, eine schreckliche Sache. Die Richerzeche war sehr froh, dass ihrem Erzbischof nichts passiert ist.«

Es war schwer zu beurteilen, ob es ironisch gemeint war. Von Altena ignorierte es. »Niemand hat die Mönche danach gesehen oder weiß, was sie eigentlich im Palast wollten. Ich war zu der Zeit nicht anwesend, und das hatten die drei Fremden vorher von der Wache an der Drachenpforte erfahren, dennoch sind sie heimlich eingedrungen.«

»Das ist in der Tat rätselhaft. Doch wo soll die Verbindung zu den Verhandlungen mit dem Kaiser sein?«

Der Erzbischof bedachte Gerhard mit einem langen Blick, aber der Hausherr ließ sich nicht aus der Reserve locken. »Ich werde herausbekommen, was die drei Mönche vorhatten, verlass dich darauf«, sagte er schließlich.

»Ich hoffe sehr, dass du der drei dreisten Eindringlinge habhaft wirst und sie dafür bestrafst.«

Adolf von Altena erhob sich. »Als mein Untervogt wärst du für die Verurteilung zuständig.«

Gerhard stand aus Höflichkeit ebenfalls auf, allerdings nur langsam. »Dessen bin ich mir bewusst.«

Der Erzbischof verabschiedete sich äußerst knapp, und Gerhard erwiderte den Gruß mit einem Nicken. Er blickte seinem Gast mit ausdruckslosem Gesicht nach.

Von Altena war sichtlich ungehalten über das Ergebnis der Unterhaltung.

***

Der Getreue verspürte gleichzeitig Furcht und Wut, doch beherrschte er sich eisern. Nichts durfte den Plan gefährden, schon gar nicht eine allzu gierige Witwe, sagte er sich zum wiederholten Male.

Er klopfte pünktlich zur Vesper an die Tür des Hauses Hackenbroich.

Die Witwe öffnete persönlich und blickte nach beiden Seiten die Straße herunter, ob sie jemand beobachtete, erst dann ließ sie ihn herein. Mechthild Hackenbroich schloss die Tür rasch wieder und legte den Riegel vor. Sie hatte ihrem Gesinde verboten, heute Abend ins Haus zu kommen, sodass sie ungestört waren. »Gut für dich, dass du gekommen bist«, begrüßte sie ihn lakonisch.

»Wie könnte ich eine so freundliche Einladung abschlagen?«, sagte der Getreue lächelnd und zog einen Trinkbeutel aus Leder unter seinem Mantel hervor. »Als Geschenk habe ich dir einen vorzüglichen Wein mitgebracht.« Ohne Aufforderung setzte er sich an den Tisch. »Hast du Gläser?«, fragte er.

»Nein, ich bevorzuge Becher«, antwortete sie schroff. Sie holte zwei Zinnbecher und stellte sie auf den Tisch.

Er zog den Korken aus dem Beutel und füllte die Becher. »Auf dein Wohl!«, prostete er ihr zu.

Doch sie zögerte. Erst als der Besucher einen Schluck genommen hatte, führte sie ebenfalls ihren Becher zum Mund. Sie traute dem Mann nicht über den Weg. Doch wenn er trank, konnte der Wein nicht vergiftet sein. Nach dem ersten Schluck musste sie sogar feststellen, dass der Wein ihr wirklich ausgezeichnet mundete.

»Also, verehrte Witwe, was willst du von mir?«

Sie hatte sich die Worte genau parat gelegt und war froh, sie jetzt endlich loswerden zu können. »Als du vor einigen Wochen zu mir gekommen bist und sagtest, mein Gatte hätte Arsenik gekauft und es in einem der Salzfässer versteckt, um es an dich weiterzugeben, habe ich dich für verrückt gehalten. Meine Überraschung, als ich es tatsächlich fand, war deshalb groß. Du hast behauptet, es wäre für einen erkrankten Großonkel von dir bestimmt, doch das war nicht die Wahrheit. Du hast es Matthias Quentenberg verabreicht.«

»Was kümmert es dich? Ich habe dir einen guten Preis für das Arsenik bezahlt.«

»Nein, das hast du nicht«, ereiferte sie sich. »Unter diesen Umständen wäre es viel mehr wert gewesen.«

»Ich frage dich noch einmal: Was willst du von mir?«

»Ich weiß, dass es um eine Verschwörung ging und mein Gatte auf eine große Summe Geld hoffte. Ich werde mein Wissen für mich behalten, aber ich will dafür den Anteil bekommen, der ihm zugestanden hat.«

Er lehnte sich zurück, nahm seinen Becher und blickte hinein, als könne er dort eine Antwort auf die Forderung finden. »Darüber muss ich nachdenken«, sagte er schließlich. »Könntest du so gütig sein und mir etwas Wasser für meinen Wein bringen? Ich finde ihn ein wenig zu stark und würde ihn gerne verdünnen.«

Es verwirrte Mechthild Hackenbroich, wie er bei so einer wichtigen Sache an Wasser für seinen Wein denken konnte, erhob sich dann aber, um dem Wunsch nachzukommen. Ein Krug mit Wasser stand in der Küche nebenan.

»Darf ich dir helfen?«, fragte der Getreue höflich, als sie zurückkam, nahm ihr den Krug ab und schüttete das Wasser zunächst in ihren, dann in seinen Becher.

»Nun, ich denke, es hat keinen Sinn zu leugnen«, begann er schließlich. »Und wenn ich darüber nachdenke, ist es nur recht und billig, dass du das Erbe deines Gatten antrittst.« Er hob den Becher. »So sei es! Du wirst Teil unserer gerechten Sache und reich belohnt werden.«

Voller Freude stieß sie mit ihm an und nahm einen tiefen Schluck. »Ich wusste, du würdest erkennen, dass ich genauso gut bin wie mein Gatte. Aber nun sag mir, wie viel steht mir zu?«

»Du hast keine Ahnung, um was es geht.« Es war weniger eine Frage als vielmehr eine Feststellung.

»Ich habe sehr wohl eine Ahnung«, log sie. »Aber ich will die genaue Summe wissen.«

»Nun, wenn es so weit ist, bekommst du deinen Anteil von fünfzig Silbermark.«

»Fünfzig Silbermark!«, rief sie. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, ergriff erneut den Becher und trank ihn mit einem Zug fast leer. »Wann bekomme ich das Geld?«, fragte sie atemlos.

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ich sage dir, wenn es so weit ist. Sei unbesorgt, es dauert nicht mehr lange.«

»Denk nicht falsch von mir, aber ich muss als arme Witwe sehen, wo ich auf meine alten Tage bleibe«, versuchte sie sich zu rechtfertigen. Sie leerte ihren Becher.

»Natürlich«, sagte er zufrieden und tat es ihr gleich. »Ich freue mich, dass wir die Sache geklärt haben. Ich werde nun gehen, es ist schon spät.«

Er erhob sich, und Mechthild Hackenbroich verabschiedete ihn unter eifrigen Dankesbezeugungen. »Ich werde schweigen wie ein Grab«, versicherte sie ihm.

Er drehte sich in der Tür noch einmal um und sagte amüsiert: »Dessen bin ich mir sicher.«

Als sie den Riegel wieder vorschob, konnte sie nicht anders, als in Lachen auszubrechen. Fünfzig Silbermark würde sie bekommen. Sie trommelte vor Freude gegen die dicken Holzbohlen der Tür. Das Beste war, dass der Dummkopf noch nicht einmal gemerkt hatte, dass sie keine Ahnung hatte, um was für eine Verschwörung es eigentlich ging. Es hatte gereicht, Matthias Quentenberg zu erwähnen, und schon hatte der Kerl ihr alles geglaubt.

Zufrieden mit sich, holte sie weiteren Wein aus dem Keller und schenkte sich noch einen Becher nach. Dabei fiel ihr ein, dass sie sich nun endlich ein paar teure Gläser leisten konnte, gegen die sich ihr geiziger Gatte stets gewehrt hatte.

Sie genoss den süffigen Tropfen und malte sich aus, was sie alles mit dem Geld machen würde. Schließlich entfaltete der Wein seine ermüdende Wirkung, und sie beschloss, schlafen zu gehen.

Sie ist beim Geld genauso gierig wie beim Trinken, dachte der Getreue. Wenn sie wüsste, um wie viel es wirklich geht, hätte sie mir den Wein ins Gesicht geschüttet.

Er fühlte sich euphorisch, als er durch die dunklen Straßen lief. Sein Plan hatte geklappt, genau wie er es sich vorgestellt hatte. Die Witwe war ihm auf den Leim gegangen und hatte das Arsenik arglos getrunken. Die Gier macht Menschen unvorsichtig, dachte er. Mechthild Hackenbroich würde niemandem mehr von dem Geheimnis erzählen können.

In dem Moment, als sie den Raum verlassen hatte, um Wasser zu holen, hatte er bereits einen kleinen Lederbeutel in der Hand gehalten und den Inhalt mit einer raschen Bewegung in ihren Becher geschüttet. Das gräuliche Pulver versank im Wein und war in dem Zinnbecher nicht mehr zu sehen. Als die Witwe zurückkehrte, war der Beutel längst wieder in seiner Tasche verschwunden.

Zwar hatte sie viel weniger gewusst, als sie behauptet hatte, wie dem Getreuen durchaus klar war, aber schon ein einziger verräterischer Satz hätte alles gefährden können. Er hatte richtig gehandelt. Doch es gab noch jemand, der um das Arsenik von Hackenbroich wusste, wie die Witwe ihm hämisch mitgeteilt hatte. Rebecca Quentenberg.

Wie hatte sie nur davon erfahren?, überlegte der Getreue. Es musste mit der Vergiftung ihres Vaters zusammenhängen. Hatte der neue Medicus etwa Verdacht geschöpft, dass Arsenik die Ursache gewesen war, und es Rebecca mitgeteilt? Das würde aber bedeuten, dass die beiden sich äußerst nahestanden.

Seine gute Laune war abrupt verflogen. Noch konnte er nichts unternehmen, doch er musste Rebecca im Auge behalten.

Die Schmerzen kamen, kaum dass Mechthild Hackenbroich im Bett lag. Zunächst wurde ihr übel, dann hielt sie sich den Bauch vor Krämpfen. Sie erbrach sich und rief mit ermatteter Stimme nach ihrem Knecht Simon. Der kam im Nachthemd aus seiner Kammer im Hinterhof, wo er mit seiner Frau und den drei Kindern lebte, angerannt.

»Hol von Schwarzenberg!«, befahl sie stöhnend.

Der Knecht guckte dümmlich. »Wen?«

»Den neuen Medicus, du Trottel! Er wohnt in der Severinstraße.«

Simon warf sich in seine Kleidung und rannte durch die Nacht zu dem Haus.

***

Jemand schlug mit der Faust gegen die Tür. »Meister, schnell, es eilt!«

Schlaftrunken öffnete Seyfrid und blinzelte den aufgewühlten Mann an. »Wer bist du, und was willst du?«

»Ich bin Simon, der Knecht der Witwe Hackenbroich. Ihr geht es sehr schlecht, sie braucht dringend deine Hilfe.«

Seyfrid war schlagartig wach. »Warte hier. Ich bin gleich fertig.«

Hastig suchte er seine medizinischen Geräte und einige Arzneien zusammen und stopfte sie in eine Ledertasche. Sie hasteten durch die Nacht. Die beiden Männer konnten in der Dunkelheit kaum sehen, wo sie ihre Füße hinsetzten, und rutschten auf dem nasskalten Boden mehrmals fast aus.

Als sie das Haus der Hackenbroichs endlich erreichten, fand Seyfrid die Witwe in einem fiebrigen Dämmerzustand vor. Er versuchte sie anzusprechen, doch es kamen nur noch Wortfetzen über ihre Lippen. Mit einer Öllampe leuchtete er ihr ins Gesicht. Sie war schweißgebadet, die Augen verdrehte sie wie im Wahn, und sie stöhnte immer wieder markerschütternd. Plötzlich packte sie seine Hand und riss die Augen weit auf. »Arsenik«, röchelte sie.

Seyfrid begriff sofort. »Wer hat dich mit Arsenik vergiftet?«, fragte er.

Sie verkrampfte erneut und hielt sich den üppigen Bauch. »Im Wein …«, brachte sie kaum hörbar hervor.

»Wer war es?«, wiederholte Seyfrid seine Frage eindringlich.

Die Witwe schien mit den Lippen ein Wort formen zu wollen, doch im nächsten Moment verlor sie das Bewusstsein. Seyfrid versuchte verzweifelt, sie wieder wach zu bekommen, doch all seine medizinischen Kenntnisse halfen nichts mehr. Mechthild Hackenbroich verstarb kurz darauf unter schrecklichen Schmerzen. Ihr Gesicht war eine verzerrte Maske. Der Knecht floh beim Anblick der toten Frau entsetzt aus der Kammer.

Seyfrid blickte fassungslos auf den Leichnam. Er war so kurz davor gewesen, den Namen des Mörders zu erfahren.

Er zog das Laken über die Leiche und verließ die Kammer. In der Stube schlug er wütend mit der Faust auf den Tisch, auf dem er seine Tasche abgestellt hatte. Dort standen außerdem zwei Becher. Eine Idee durchfuhr ihn, und er holte rasch die Öllampe. In einem der Becher entdeckte er auf dem Boden neben einem Rest Wein ein paar winzige graue Krümel. Er holte einen davon heraus, betrachtete ihn ausgiebig, roch daran und rieb ihn zwischen den Fingern. Seyfrid war sich absolut sicher, dass es Arsenik war. Der Giftmörder war heute Abend hier gewesen.

Er rannte durch das Haus und stieß die Tür zum Hof auf, wohin der Knecht verschwunden war. Dort stand ein Holzverschlag, kaum mehr als ein Stall. Als Seyfrid eintrat, hielt Simon seine Frau und drei verängstigte Kinder umschlungen. »Wer war vorhin bei ihr?«, fragte er.

»Wir wissen es nicht. Sie hatte uns heute Abend verboten, das Haus zu betreten, sie wollte ungestört sein«, antwortete Simon.

»Hast du denn niemanden gesehen oder gehört?«

Der Knecht und die Magd schüttelten den Kopf.

Seyfrid versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. »Hol den Büttel!«, befahl er dem Knecht schließlich. »Sag ihm, die Witwe Hackenbroich ist tot.«

Die Magd begann zu weinen und schluchzte. »Erst wird unser Herr erstochen, dann stirbt seine Witwe. Das Haus ist verflucht!«

Als Büttel Pütz eintrat, blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Blick wechselte zwischen der toten Witwe und Seyfrid hin und her. »Du bist schon wieder bei einem Leichnam? Ich habe dich doch neulich erst bei dem toten Grimmel angetroffen.«

»Ich bin Medicus, falls du das vergessen haben solltest. Die Witwe Hackenbroich ließ mich rufen, weil es ihr schlecht ging. Doch ich konnte nichts mehr tun, sie starb kurz nach meinem Eintreffen.«

Der Büttel bekreuzigte sich. »Woran ist sie gestorben?«

»Sie hatte hohes Fieber. Zu dieser Jahreszeit kann es dazu kommen«, erklärte Seyfrid vage.

Pütz gab sich damit zufrieden. Ihm war es höchst unangenehm, sich auf engstem Raum mit einer Toten zu befinden. »Dann werde ich den Totengräber beauftragen, sie rasch abzuholen.«

Der Medicus nickte. »Ein tragisches Schicksal, dass sie so früh ihrem verstorbenen Gatten folgt.«

Durch die Bemerkung erst fiel dem Büttel der Zusammenhang auf. Der Ritter von Viskenich war des Mordes an Gottfried Hackenbroich durch eine Zeugenaussage von Grimmel überführt worden. Nach dem gewaltsamen Tod von Grimmel tauchte der neue Medicus dort auf, und nun fand er ihn im Haus des erschlagenen Hackenbroichs erneut neben einer Leiche. Pütz betrachtete den Medicus stirnrunzelnd. Zwar war dessen Erklärung, die Witwe hätte ihn kurz vor ihrem Tod rufen lassen, absolut plausibel, aber dennoch war es ein merkwürdiger Zufall. Er musste unbedingt nähere Erkundigungen über von Schwarzenberg einholen.

Seyfrid hatte den kritischen Blick des Büttels wohl bemerkt und beschlossen, dass es Zeit war, das Haus der Witwe Hackenbroich zu verlassen. Mit einem knappen Gruß verabschiedete er sich und entschwand in die Nacht.