12. DEZEMBER 1193

Wolfram Pütz verspürte in letzter Zeit häufig Schmerzen im Rücken, als würden ihm Nadeln ins Fleisch gestochen. Er streckte sich und hörte seine Wirbel knacken. Vielleicht sollte er auch einmal den neuen Medicus aufsuchen, aber er fürchtete, dass er sich die Behandlung nicht würde leisten können. So musste er wohl doch wieder zum Bader Clemens Weyeroth gehen, dessen Schröpfköpfe aber kaum Linderung brachten.

Der Büttel hätte sich am liebsten einfach auf seinem Lager ausgestreckt, aber er musste heute noch einige Gasthäuser abklappern. In letzter Zeit war es wieder vermehrt zu verbotenen Glücksspielen gekommen, und er musste bei den verdächtigen Gastwirten regelmäßig nach dem Rechten sehen. Noch dazu gab es einige Betrüger, die präparierte Würfel oder gezinkte Karten benutzten und ihre nichts ahnenden Mitspieler bis zum letzten Pfennig ausplünderten. Der Rat der Stadt Köln hatte ihn immer wieder dazu gedrängt, rigoros gegen den Betrug vorzugehen.

Er wollte gerade zu seinem Mantel greifen, als jemand vehement gegen die Haustür hämmerte. Pütz mochte es überhaupt nicht, wenn jemand so rabiat bei ihm Einlass begehrte. Mit gerunzelter Stirn zog er den Riegel zurück und erblickte Jacob Hoengen. Der Glashändler stand mit hochrotem Kopf da, als wäre er den ganzen Weg zu ihm gerannt.

»Ich vermute, dass dein Haus in Flammen steht, sonst würdest du wohl nicht versuchen, meine Tür einzuschlagen.«

Hoengen sah ihn irritiert an. »Was? Nein, ich will, dass du einen Betrüger festnimmst.«

»Hat man dich etwa beim Würfelspiel betrogen?«

Das schien den Glashändler noch mehr zu verwirren. »Was redest du da? Ich spiele keine Würfel. Es geht um den Medicus Ulrich von Schwarzenberg.«

Schlagartig wurde der Büttel hellhörig. »Hat ihn jemand betrogen?«

»Aber nein, er ist der Betrüger. Er heißt nicht so und ist auch kein Medicus. Im Namen der Richerzechen verlange ich, dass du ihn einsperrst.«

Als Pütz die Brisanz der Nachricht begriff, hielt er es für geraten, den Besucher hereinzubitten und die Tür vor neugierigen Ohren zu verschließen. »Nun mal schön der Reihe nach: Was ist passiert?«

»Der Mann, der sich in Köln als Medicus Ulrich von Schwarzenberg ausgibt, ist in Wahrheit ein Geächteter, der die Gutgläubigkeit der Menschen schamlos ausnutzt, um sich zu bereichern«, erzählte Hoengen erbost.

»Wer soll er in Wirklichkeit sein?«

»Sein Name ist Seyfrid von Viskenich, der Sohn des im letzten Sommer vom Blutgericht zum Tode verurteilten Ritters Johann von Viskenich.«

Pütz starrte ihn an, wie vom Donner gerührt. Er war schon viele Jahre Büttel von Köln und hatte so manche merkwürdigen Dinge erlebt, aber das machte sogar ihn für eine Weile sprachlos. Dann riss er sich zusammen und fragte misstrauisch: »Woher hast du deine Erkenntnis?«

»Ein fahrender Händler namens Gernot Villinger aus dem Süden Deutschlands kam vor drei Tagen mit einem Schiff nach Köln, um uns Gläser zu liefern. Er bereist auch Italien und hat in einer Taverne in Rom Seyfrid von Viskenich kennengelernt. Du kannst dir seine Überraschung vorstellen, als er Seyfrid von Viskenich gestern hier in Köln wiedertraf. Er sprach ihn an, doch seltsamerweise nannte er sich nun Ulrich von Schwarzenberg und gab vor, ihn nicht zu kennen. Weil Villinger aus der Nähe von Freiburg stammt, wusste er, dass Ulrich, der Sohn des Freiherrn von Schwarzenberg, im Heiligen Land gefallen ist. Er erzählte gestern meinem Sohn Kaspar von der seltsamen Begebenheit. Da ich mich derweil in Bonn befand, erfuhr ich leider eben erst davon.«

Entschlossen griff Pütz nach seinem Mantel. »Wo ist der Händler? Ich muss mit ihm reden«, fragte der Büttel.

Doch Hoengen schüttelte bedauernd den Kopf. »Er ist gestern schon wieder abgereist, weil er hoffte, noch vor dem ersten Schnee seine Heimat zu erreichen. Aber mein Sohn hat mir alles genau berichtet, und ich bin, wie du siehst, direkt zu dir gekommen. Als angesehenes Mitglied der Richerzeche fühle ich mich verpflichtet, meine Brüder und die Stadt vor einem Betrüger zu bewahren. Bedenke, welchen Schaden ein falscher Medicus bei der Behandlung von Kranken anrichten könnte.«

»Das sind schwere Anschuldigungen, die du da erhebst.«

»Er hat sich bei mir vor einigen Tagen auffällig nach dem Blutgericht gegen den Ritter von Viskenich erkundigt. Nun verstehe ich auch, warum: weil er sein Sohn ist. Du musst ihn umgehend festnehmen. Ich werde dich dabei begleiten.«

Der Büttel seufzte, aber er wusste, dass er keine andere Wahl hatte. Nicht wenn ein Mitglied der Richerzeche darauf bestand. Auch wenn Pütz den deutlichen Verdacht hegte, dass Hoengen in der Richerzeche vor allem Eindruck schinden wollte. Es war kein Geheimnis, dass der Glashändler dort ganz unten in der Hierarchie stand. »Gut«, brummte er, »ich hole zwei Wachen vom Frankenturm, dann werden wir den Medicus zum Verhör abholen.«

»Er ist kein Medicus!«, rief Hoengen aufgebracht.

»Das wird sich rausstellen. Immerhin kann sich der Händler auch getäuscht haben.«

Keine Stunde später marschierte der Büttel die Severinstraße herunter, dicht hinter ihm folgten Hoengen und zwei bewaffnete Wachen. Der Glashändler hatte auf dem Weg zum Frankenturm die ganze Zeit lautstark auf ihn eingeredet und die umgehende Hinrichtung von Seyfrid von Viskenich gefordert, da der ein Geächteter sei. Irgendwann wurde es Pütz zu dumm, und er wies Hoengen barsch darauf hin, dass erst ein Gericht feststellen müsse, wer der Medicus wirklich sei, schließlich gebe es in Köln immer noch Gesetze. Das sollte Hoengen als ehemaliger Schöffe wissen. Danach hatte der sichtlich eingeschnappte Glashändler kein Wort mehr gesagt.

Pütz schlug mit der Faust mehrmals gegen die Tür des Hauses, in dem der Medicus wohnte. »Aufmachen, hier ist der Büttel von Köln!«

Drinnen schreckte Seyfrid hoch und öffnete erstaunt. Als er neben dem Büttel auch noch zwei Stadtsoldaten und Jacob Hoengen erblickte, ahnte er nichts Gutes. »Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?«

Statt einer Antwort drängten sich die vier Männer in die Stube. Pütz befahl einem der Soldaten, die Tür zu schließen. Er wollte keine unliebsamen Zuschauer haben.

»Es liegen schwerwiegende Anschuldigungen gegen dich vor«, begann Hoengen.

Seyfrid entging das hämische Grinsen des Glashändlers nicht und wusste augenblicklich, wer ihn beim Büttel angezeigt hatte.

»Ein fahrender Händler behauptet, du seist nicht Ulrich von Schwarzenberg, sondern Seyfrid von Viskenich.«

Seyfrid gelang es, völlig ruhig zu bleiben. »Wie kommt er zu dieser absurden Anschuldigung?«

Hoengen machte zwei Schritte auf Seyfrid zu und drohte ihm mit dem Finger. »Ich hatte Besuch von einem ehrbaren Händler, Gernot Villinger. Er macht diesseits und jenseits der Alpen Geschäfte mit vielen anständigen Bürgern und Edelmännern. So führte ihn sein Weg auch bis nach Rom, wo er dich zum ersten Mal traf. Dort nanntest du dich Seyfrid von Viskenich.«

»Ich kenne diesen Händler nicht«, sagte Seyfrid wahrheitsgemäß.

»Als Villinger dich hier wiedertraf, hast du dich als Ulrich von Schwarzenberg ausgegeben.«

»Weil ich Ulrich von Schwarzenberg bin.«

»Lügner! Ulrich von Schwarzenberg ist tot!«, schrie Hoengen. »Villinger kennt auch Freiherr Conrad von Schwarzenberg – deinen angeblichen Vater. Sein Sohn ist im Heiligen Land im Kampf gegen die Ungläubigen gefallen.«

Seyfrid fragte scheinbar gelassen: »Ich soll also tot sein? Mache ich auf dich einen toten Eindruck?«

»Du machst auf mich den Eindruck, dass du nicht die Wahrheit sagst!«

»Warum sollte ich mich für Ulrich von Schwarzenberg ausgeben, wenn ich es nicht wäre?«

»Weil du deinen wahren Namen in Köln verbergen musst. Du bist ein Geächteter wie deine ganze Familie.«

»Wo ist denn dein allwissender Händler, der mich angeblich kennt?«, fragte Seyfrid kaltschnäuzig.

»Er musste bereits abreisen, aber ich verbürge mich für seine Vertrauenswürdigkeit.«

»Darauf beruht deine ganze Anklage?«

»Oh ja, darauf und bald sicher noch auf viel mehr, wenn ein Gericht die Wahrheit aus dir geholt hat.«

Hoengen gab Pütz einen Wink. Der Büttel trat vor und erklärte: »Die Anschuldigung gegen dich wiegt schwer. Ich bringe dich in den Frankenturm, um die Anklage zu klären.«

»Du sperrst mich ein, nur weil irgendein fremder Händler behauptet, dass ich jemand anderes sei?«

Pütz warf Hoengen einen unsicheren Blick zu, fing sich dann aber sofort wieder. »Ja, damit du nicht versuchst, aus Köln zu fliehen. Der Turmmeister wird dich verhören.«

Die beiden Stadtsoldaten nahmen Seyfrid in die Mitte und führten ihn hinter dem Büttel aus dem Haus. Seyfrid sah keine Chance zu fliehen.

Sie marschierten zum Frankenturm am Rhein. In dem hoch aufragenden Gemäuer sperrte die Stadt Köln Verdächtige ein, um sie zu befragen. Wenn der Syndicius entschied, dass Anklage beim Hohen Gericht erhoben werden sollte, mussten die Gefangenen bis zum Gerichtstermin im Turm ausharren.

Seyfrid spürte den eisigen Wind kaum, denn er überlegte fieberhaft, wie er aus der misslichen Lage wieder herauskommen konnte. Er wusste, dass das Prozedere sehr lange dauern konnte, doch Zeit war etwas, das er nicht hatte. Louis de Beauvard war da draußen und führte etwas im Schilde – und sicherlich nichts Gutes.

Der Wächter öffnete beim Anblick des kleinen Trupps wortlos die Tür zum Frankenturm, und sie marschierten die Treppe hinauf. Es gab sechs Zellen, vier zur Rheinseite, zwei lagen auf der Stadtseite. Seyfrid hätte es nie für möglich gehalten, dass er sie einmal von innen sehen würde.

»Tut mir leid, aber ich muss meine Pflicht erfüllen«, sagte Pütz fast schon entschuldigend. Dann schob er Seyfrid in die düstere Zelle.

Es war kalt und stank nach Fäulnis und Urin. Hinter ihm fiel die mit Eisen beschlagene Tür mit einem dumpfen Knall zu, und er hörte, wie der Riegel knirschend vorgeschoben wurde. Düsternis umhüllte ihn. Er war gefangen.

***

Rebecca passte einen günstigen Moment ab, als weder ihr Vater noch ihre Mutter in der Nähstube waren, und schlüpfte zur Tür heraus. Sie eilte in die Severinstraße und war sich selbst nicht ganz klar darüber, ob sie wegen der Neuigkeit von Richmodis oder wegen Ulrich so aufgeregt war. Bald darauf stand sie ein wenig atemlos vor seinem Haus und klopfte an. Doch auch beim zweiten und dritten Klopfen rührte sich nichts.

Sie wollte schon enttäuscht den Rückweg antreten, als eine alte Frau aus dem gegenüberliegenden Haus kam und sie anblickte. »Du wirst den Medicus nicht antreffen. Der Büttel hat ihn eben mit den Stadtsoldaten abgeholt«, rief sie.

Rebecca starrte die Frau wie versteinert an, unfähig, ein Wort herauszubringen. Endlich stammelte sie: »Was? Wieso denn?«

Die Alte zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sahen aber alle sehr ernst aus. Muss wohl was Schlimmes ausgefressen haben.«

Ganz langsam ging Rebecca die Severinstraße entlang. Sie fühlte sich, als wäre sie nicht mehr in ihrem Körper. Was war mit Ulrich geschehen?

***

Auf dem Boden lag nur etwas Stroh, das wie aus dem Schweinestall roch. Seyfrid rollte sich zusammen und umschlang mit den Armen seinen Körper, trotzdem fror er bald derartig, dass seine Zähne klapperten.

Was konnte er nur tun, um hier wieder herauszukommen? Es stand seine Aussage gegen die von Jacob Hoengen. Zwar war der ominöse Händler Villinger nicht mehr in Köln und konnte nicht als Zeuge auftreten, aber er selbst konnte natürlich auch nicht beweisen, dass er Ulrich von Schwarzenberg war. Seyfrid fragte sich, ob Hoengen oder der geheimnisvolle Villinger die Lüge in die Welt gesetzt hatte. Und vor allem: Warum? Was hatten sie davon?

Ihm fiel nur eine Antwort ein: weil Jacob Hoengen ebenfalls zu den Verschwörern gehörte. Dann hatte der Glashändler beim Blutgericht gegen seinen Vater Johann wohl doch auf dessen Hinrichtung gedrängt.

Immer wieder tauchte vor seinem geistigen Auge Rebecca auf. Was würde sie von ihm denken, wenn sie von der Anklage erführe? Wie könnte er es ihr erklären? Würde er sie überhaupt jemals wiedersehen?

In der Nacht fand Seyfrid kaum Schlaf und schreckte immer wieder panisch hoch, um festzustellen, dass es kein Albtraum war, sondern die schreckliche Wirklichkeit.