15. DEZEMBER 1193
Seyfrid schreckte aus dem Schlaf hoch. Er fühlte sich schrecklich. Alle Muskeln taten ihm weh, aber immerhin fror er nicht mehr. Es dauerte eine Weile, ehe seine Lebensgeister erwachten.
Er sah auf das schlafende Paar und den kleinen Ludwig. Er durfte hier nicht bleiben. Wenn man ihn in ihrem Haus fand, würde man sie anklagen, einem entflohenen Gefangenen Unterschlupf gewährt zu haben.
Er brauchte einen Plan, wie er Louis de Beauvard zu fassen kriegen und die Verschwörung in Köln beweisen konnte. Doch dafür benötigte er Hilfe. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Rasch zog er seine getrockneten Kleider an, wobei Karl und Hedwig wach wurden.
»Ich muss fort. Habt Dank, dass ihr mich aufgenommen und vor dem eisigen Tod gerettet habt! Ich werde es euch nie vergessen, aber um eurer eigenen Sicherheit willen erzählt niemandem, dass ich hier war. Ihr habt mich nicht gesehen!«
»Du hast unseren Sohn gerettet, dafür sind wir dir ewig dankbar«, sagte Hedwig.
Bevor Seyfrid die Tür öffnen konnte, trat Karl ihm in den Weg. »Du kannst nicht ohne Mantel in die Kälte, du würdest erfrieren«, sagte er und hielt ihm seinen abgetragenen Mantel hin.
Seyfrid dankte Karl lächelnd für seine Mildtätigkeit. Dann spähte er vorsichtig nach draußen. Es war noch dunkel und keine Menschenseele zu sehen. Seyfrid zog die Kapuze tief ins Gesicht, trat hinaus und entfernte sich so schnell wie möglich.
Er schlug den Weg nach Westen ein. Immer wieder sah er sich um, doch er erblickte niemanden, der ihn verfolgte. Er hoffte, die Burg Viskenich bald zu erreichen, aber der Weg nahm mehr Zeit in Anspruch, als er gedacht hatte. Immer wieder musste er sich rasch im Unterholz verstecken, wenn er Stimmen von Leuten vernahm, die ihm entgegenkamen. Niemand durfte ihn sehen.
Endlich erreichte er am späten Vormittag das Land derer von Viskenichs. Sein Land. Hier kannte er immer noch jeden Pfad und kam im Wald rasch voran, überquerte einen kleinen Bach und konnte schließlich den Burgturm über den Baumwipfeln aufragen sehen. Dort würde er Zuflucht suchen. Niemand traute sich dorthin, da der Geist seines Vaters dort nachts umgehen sollte. Doch Seyfrid fürchtete sich nicht. Selbst wenn es wahr sein sollte, würde er seinem Sohn nichts tun.
Er stand am Waldrand und wollte schon die Wiese betreten, die sich in einem weiten Bogen rund um die Burg spannte, als er dort einen Ritter erblickte. Seyfrid sprang hinter den nächsten Baum und verharrte ein paar Sekunden. Weil er keinen Alarmschrei hörte, spähte er vorsichtig um den Stamm herum. Der Mann ging gemächlich in Richtung des Tors. Er trug Kettenhemd und Kettenhose sowie einen mit bunten Federn geschmückten Helm unter dem Arm. Sein Waffenrock zeigte einen roten Stierkopf auf weißem Grund. Ein Wappen, das Seyfrid schon einmal im Heiligen Land gesehen hatte. Es gehörte einem französischen Adligen, dessen Name ihm inzwischen entfallen war.
Seyfrid war wie vor den Kopf geschlagen. Was zum Teufel hatte der hier verloren?
Der Ritter überquerte die Zugbrücke, klopfte kurz an das Tor, und zu Seyfrids Verblüffung wurde es umgehend aufgezogen. Für einen Moment konnte er einen Blick auf einen weiteren Mann erhaschen. Auch der trug ein Kettenhemd und einen Waffenrock mit Wappen. Von jenseits der Burgmauer erscholl ein Wiehern, und sogleich stimmten mehrere Pferde in das Konzert ein. Die beiden Ritter waren nicht allein.
Als Seyfrid konzentriert lauschte, konnte er leise Wortfetzen vernehmen. Dann entdeckte er eine Wache, die sich hinter einer Zinne des Burgturms verbarg. Wäre Seyfrid nicht durch den Wald, sondern über den Weg zur Burg gekommen, hätte der Mann ihn längst gesehen. Dann durchzuckte Seyfrid die Erkenntnis, dass der englische Tross nicht weit von hier auf dem Hürther Feld am Duffesbach lagerte.
Wie von selbst formte sich in seinem Kopf endlich die Wahrheit: Die Franzosen wollten das Lösegeld für König Richard rauben. Dafür brauchten sie ein sicheres Versteck, und die Burg Viskenich war im weiten Umkreis der einzige Ort, wo sich eine große Schar Ritter vor neugierigen Augen verbergen konnte. Darum ging es die ganze Zeit!
Graf de Beauvard war nach Köln gekommen, um zusammen mit Hoengen dafür zu sorgen, dass die Burg leer bliebe, wurde Seyfrid klar. Als Matthias Quentenberg unerwartet die Burg Viskenich kaufen wollte, mussten die Verschwörer handeln und beschlossen, ihn heimtückisch mit Arsenik zu vergiften. Was ihnen auch beinahe gelungen wäre.
Seyfrid ließ sich auf das weiche Moos zu seinen Füßen sinken und überlegte fieberhaft, was er nun tun sollte. Wenn er nach Köln ginge, würde ihm niemand zuhören und er direkt wieder im Frankenturm landen. Er brauchte jemanden, dem er vertrauen konnte, der sich auch in Köln Gehör verschaffen konnte. Welchen Mann kannte er, der das zustände brächte?
Dann kam ihm eine Erleuchtung. Nein, kein Mann, eine Frau!
***
Rebecca war verzweifelt. Welch schreckliches Unheil war über sie hereingebrochen! War Seyfrid am Leben? Hatte er die Flucht durch die Teufelskall und den Rhein überlebt? Und warum nur hatte er seine wahre Identität ihr gegenüber verborgen gehalten? Vertraute er ihr nicht? Hatte er ihre Liebe doch nicht erwidert, wie sie sich eingebildet hatte, und sie nur ausgenutzt?
Sie war in ihren Gefühlen hin- und hergerissen. Einerseits war sie schrecklich enttäuscht worden. Andererseits liebte sie den Mann, den sie für Ulrich von Schwarzenberg gehalten hatte, so sehr, dass sie ihm zur Flucht vor seinen Häschern verholfen hatte. Wenn die erzbischöflichen Soldaten sie dabei erwischt hätten – und dazu hatte nicht viel gefehlt –, wäre sie vermutlich ebenfalls in den Frankenturm gesperrt worden. Ganz zu schweigen von der Bestrafung durch ihren Vater. Doch merkwürdigerweise war sich Rebecca sicher, dass sie es für Ulrich oder Seyfrid oder wie auch immer er wirklich heißen mochte, wieder tun würde.
Maternus war letzte Nacht unverrichteter Dinge abgezogen, als er Seyfrid nicht gefunden hatte. Er hatte sich bei ihrem Vater für die Durchsuchung des Hauses entschuldigt und um Verständnis gebeten, dass er den entflohenen Betrüger einfangen musste. Doch ihr erzürnter Vater hatte sich ob der Unverschämtheit kaum beruhigen lassen.
In der Nacht hatte Rebecca kein Auge zugetan und hätte sich am liebsten schon beim ersten Sonnenstrahl auf die Suche nach Seyfrid gemacht. Die Ungewissheit über sein Schicksal brachte sie fast um den Verstand.
Jetzt hielt sie es zu Hause nicht mehr aus. Ihrer Mutter erzählte sie, dass sie in die Kirche gehen wolle, um der heiligen Ursula, der Schutzpatronin von Köln, im Gebet für die Genesung ihres Vaters zu danken. Sie wusste, dass ihre fromme Mutter es mit Wohlwollen aufnehmen würde, und tatsächlich ließ sie ihre Tochter gewähren.
Rebecca eilte zum Rheinufer. Es zog ihr vor Angst, dass sie dort Seyfrids Leiche finden würde, den Magen zusammen. Doch auch nachdem sie zweimal das gesamte Ufer entlang der Stadtmauer abgelaufen war und ganz genau darauf geachtet hatte, ob etwas im Wasser trieb, hatte sie nichts entdeckt. Was längst nicht bedeutete, dass Seyfrid überlebt hatte, wurde ihr schmerzlich bewusst, denn die mächtige Strömung des Rheins konnte ihn meilenweit mitgerissen haben.
Sie stand eine Weile unschlüssig vor einem der Anlegestege, als sie plötzlich den Büttel Pütz erspähte, der durch das Hafentor trat. Zu ihrem Erstaunen lief neben ihm jemand, den sie nicht in seiner Begleitung erwartet hätte: Kaspar Hoengen. Er redete auf Pütz ein und deutete dabei auf den Anleger, der nur wenige Schritte von Rebecca entfernt lag. Die beiden Männer hielten zielstrebig darauf zu.
Rebeccas Neugier war geweckt. Was hatte Kaspar mit dem Büttel der Stadt Köln zu schaffen?
Gleich vier Schiffe wurden gerade entladen, und einige der Hafenknechte hatten Fässer am Ufer neben dem Anlegesteg in zwei Reihen übereinandergestapelt. Kaspar und Pütz hielten direkt hinter den Fässern an, Rebecca schlich sich von der anderen Seite ungesehen heran.
»Genau dort hat sein Schiff gelegen. Aber wie ich dir schon sagte, musste er vorgestern wieder aufbrechen«, hörte sie Kaspar sagen.
»Und du hast keine Ahnung, wann dieser Gernot … Gernot …«
»Gernot Villinger«, half ihm Kaspar.
»… Villinger das nächste Mal nach Köln kommt?«
»Nein, er handelt nur selten mit unserem Haus. Vor dem nächsten Sommer kommt er gewiss nicht wieder.«
»Sehr ärgerlich«, brummte Pütz. »Wenn wir ihn als Zeugen hätten, könnte das Gericht auch in Abwesenheit von Ulrich von Schwarzenberg ein Urteil fällen.«
»Er ist nicht Ulrich von Schwarzenberg, sondern Seyfrid von Viskenich«, betonte Kaspar ungehalten. »Wenn ich dir doch sage, dass Villinger ihn in Rom kennengelernt und hier in Köln ohne Zweifel wiedererkannt hat. Ich kann das vor Gericht beschwören.«
Rebecca traute ihren Ohren kaum. Kaspar hatte Seyfrid an den Büttel verraten.
Pütz stieß hörbar die Luft aus und erklärte: »Das Gericht wird einen eindeutigen Beweis fordern.«
»Aber Seyfrids Flucht ist doch ein klares Schuldbekenntnis! Ein Unschuldiger hätte sich dem Gericht gestellt.«
Rebecca vernahm ein heiteres Glucksen des Büttels. »Glaub mir, keiner der je von mir Festgenommen war erpicht darauf, vor Gericht zu kommen, auch die Unschuldigen nicht.«
»Dort wird Seyfrid auch nie zur Rechenschaft gezogen werden, wenn du ihn nicht bald findest. Es ist unglaublich, dass er aus dem Frankenturm entkommen konnte, und dafür trägst du die Verantwortung.«
Rebecca war erstaunt über Kaspars barschen Tonfall. Sie kannte ihn nur als schüchternen Jungen, der sich kaum traute, mit ihr zu reden.
»Wir haben ganz Köln nach ihm abgesucht, aber er kann inzwischen schon in Neuss oder Bonn oder auf der anderen Rheinseite sein«, erklärte Pütz ungehalten.
»Du hast die Worte meines Vaters vernommen: Die Richerzeche will Seyfrid vor Gericht sehen.«
»Seit wann ist dein Vater der Sprecher der Richerzeche?«, fragte der Büttel mit spöttischem Unterton.
»Jede anständige Familie in Köln will, dass der Betrüger verurteilt wird.«
Es herrschte einen Moment Schweigen, ehe Pütz brummte: »Ich tue, was ich kann.«
Dann vernahm Rebecca Schritte, die beiden Männer entfernten sich. Sie spähte um die Fässer und sah Pütz und Kaspar in Richtung des Hafentores marschieren. Einer spontanen Eingebung folgend, ging sie ihnen in gebührendem Abstand hinterher.
Unmittelbar hinter dem Tor trennten sich die beiden. Während der Büttel dem Frankenturm zustrebte, schlug Kaspar den Weg in Richtung Dom ein. Rebecca überlegte nicht lange und folgte Kaspar. Um unentdeckt zu bleiben, achtete sie darauf, dass sich möglichst immer ein paar Menschen zwischen ihnen befanden. Er schritt zügig aus, anscheinend hatte er es eilig. Sie passierten den Dom, doch Kaspar würdigte ihn keines Blickes. Er lief weiter bis zur Stadtmauer und folgte der Straße davor eine Weile in Richtung Westen. Schließlich bog er noch einmal ab und hielt nach wenigen Schritten vor einem Haus.
Rebecca war es noch nie aufgefallen, obwohl sie ihr ganzes Leben in Köln verbracht hatte. Das Haus war schmal, zwei Stockwerke hoch, und oben vor dem Speicher befand sich ein Flaschenzug. Damit sah es aus wie unzählige andere Häuser in Köln auch. Das einzige Fenster im Erdgeschoss war wie üblich gegen die Kälte mit einem Ziegenfell verhangen, dahinter war Stroh gestopft.
Kaspar klopfte nicht an, sondern zückte einen Schlüssel und öffnete die Tür. Rebecca blieb überrascht stehen. Was machte Kaspar dort? Und wem gehörte das Haus?
Unschlüssig verharrte sie einige Minuten in der Gasse, nur etwa zwei Dutzend Schritte von dem Haus entfernt, und wartete, ob Kaspar wieder herauskäme. Schließlich siegte ihre Neugier. Sie ging vorsichtig bis zum Fenster und hoffte, durch einen Spalt zwischen Leder und Rahmen ins Haus hineinblicken zu können, doch leider vergeblich. In dem Moment öffnete sich die Tür wieder.
Rebecca drehte sich rasch zur anderen Seite und eilte zwei Häuser weiter, ehe sie es wagte, über die Schulter zu blicken. Kaspar trat mit einem hochgewachsenen Mann aus der Tür und ging mit ihm in die andere Richtung. Er schien sie nicht gesehen zu haben.
Erleichtert seufzte Rebecca auf. Erneut wartete sie an der Ecke der Gasse, bis die beiden Männer außer Sichtweite waren. Dann kehrte sie um und drückte gegen die Tür des Hauses. Sie war nicht verschlossen. Rebecca lauschte in die Dunkelheit des Raums, doch sie vernahm kein Geräusch. Das Haus schien verlassen. Sie nahm allen Mut zusammen und trat ein.
Die Stube war sehr einfach eingerichtet, es standen ein Tisch und zwei Hocker in dem Zimmer. Die Bewohner schienen weder sonderlich reich noch auf Reinlichkeit bedacht zu sein, denn im Kamin lag noch erkaltete Asche, und ein dreckiger Teller stand auf der abgenutzten Tischplatte. Vorsichtig ging sie die Treppe zum ersten Stock hoch und versuchte möglichst das Knarren der Stufen zu vermeiden.
Oben waren drei strohbedeckte Nachtlager errichtet, aber auch hier erblickte sie keine Menschenseele. Was sie wunderte, war, dass keinerlei Geräte des täglichen Bedarfs zu sehen war, auch keine Truhe mit Kleidung. Lediglich eine kleine Öllampe und ein Feuerstein wiesen daraufhin, dass sich Menschen hier aufhielten. Eine wackelige Leiter führte zu einer Luke in der Decke. Dort war der Speicher. Ein plötzlicher Schauer durchlief Rebecca, als würde dort oben Unheil auf sie lauern.
Es ist nur ein Speicher, sagte sie sich und stieg die Leiter empor. Behutsam öffnete sie die Holzluke und spähte durch den Spalt. Es war vollkommen finster. Sie stieg wieder hinab, holte die Öllampe und entzündete den Docht mit dem Feuerstein. Mit pochendem Herzen kletterte sie erneut hoch und betrat den Speicher. Es lagen ein paar ausgediente Seile des Flaschenzugs auf dem Boden und einige Stofffetzen. Doch es war eine große Truhe, die ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie war einfach gezimmert und besaß noch nicht einmal ein Schloss.
Rebecca öffnete den Deckel und leuchtete hinein. Obenauf lagen drei Mönchsgewänder aus derbem Leinen. Das löste etwas in Rebeccas Kopf aus, doch sie brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, woran es sie erinnerte. Die drei geheimnisvollen Mönche, die in den Palast des Erzbischofs eingedrungen waren! Ihr Vater hatte von dem Vorfall erzählt. Der Erzbischof hatte versucht, die Sache unter dem Deckel zu halten, weil es ihn schwach erscheinen ließ. Aber in Köln ließ sich so etwas nicht geheim halten.
Es konnte kein Zufall sein, dass hier genau drei Habits lagen. Dieses Haus musste das Versteck der Männer sein. Kein Wunder, dass man sie nicht gefunden hatte, niemand wäre auf die Idee gekommen, sie hier zu suchen.
Sie schob die Mönchsgewänder beiseite. Darunter kam ein länglicher Gegenstand zum Vorschein, der in ein dunkles Tuch gewickelt war. Der Stoff war sehr fein gewebt. Welche Kostbarkeit mochte er verbergen? Als sie ihn hochheben wollte, stellte sie fest, dass der Gegenstand sehr schwer war. Sie schlug den Stoff auseinander und stieß einen Laut des Erstaunens aus. Ein Schwert!
Es war aufwendig bearbeitet, feine Gravuren zierten die Klinge und den Knauf, der Griff war mit weich gegerbtem Leder umwickelt. Doch erst als sie zwei Namen auf der Klinge las, begriff Rebecca, was sie da gefunden hatte: Ulfberht und Viskenich.
Sie hatte vernommen, dass das Ulfberht-Schwert des Ritters von Viskenich aus dem Haus der Bürger gestohlen worden war, doch wie kam es hierher? Hatten die drei Mönche es gestohlen? Doch nein, sie wären beim Betreten des Hauses der Bürger gewiss aufgefallen. Sollte etwa Kaspar etwas damit zu tun haben? Er hatte dort ungehinderten Zutritt.
In dem Moment hörte Rebecca eine Diele im Erdgeschoss knarren. Jemand war im Haus. Erschrocken stopfte sie das Schwert wieder in die Truhe und schloss hastig den Deckel, wobei sie aber ein dumpfes Geräusch verursachte. Sie verwünschte sich dafür und blies die Öllampe aus.
Sie hörte, wie jemand langsam die Treppe in den ersten Stock hochging. Wer immer es auch war, er versuchte sich so leise wie möglich zu bewegen. Rebecca schlüpfte hinter die Truhe und drückte sich an das Holz. Sie spürte, wie ihr Herz bis zum Hals schlug.
Die Luke, durchfuhr es Rebecca. Wenn er nach oben blickte, musste er sehen, dass sie offen stand. Kaum hatte sie es gedacht, hörte sie auch schon, wie jemand die Leiter vorsichtig, Sprosse für Sprosse, erklomm. Rebecca duckte sich bis auf den Boden.
Dann stand er auf dem Speicher. Sie wagte nicht zu atmen. Eine schier endlose Zeit regte er sich nicht, schien einfach nur zu warten. Rebeccas Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt und erkannten schemenhaft die Truhe und die Dachbalken, doch der Unbekannte befand sich außerhalb ihres Sichtfeldes. Dann vernahm sie, wie eine der Leitersprossen knarrte. Er steigt wieder hinab, frohlockte sie.
Im nächsten Moment erklangen drei schnelle Schritte, und ein Rascheln erfüllte den Raum. Gnadenlose Hände packten Rebecca. Sie schrie laut auf.
***
»Die Königsmutter naht!«, erscholl ein Ruf.
Severin fuhr hoch. Sein Vater hatte ihn zum Schrubben der Tische im »Wilden Eber« verdonnert, und er hasste diese Tätigkeit.
»Kommt schnell! Die Engländer nähern sich der Stadt!«
Severin hörte das Getrampel zahlloser Füße, die an dem Wirtshaus vorbeiliefen. Er warf einen Blick zur Küchentür – von seinem Vater war nichts zu sehen. Hastig rannte er nach draußen und schloss sich dem Strom der Menschen an, die in Richtung des Tors bei Sankt Aposteln strebten.
Er hatte bereits am Morgen im Schankraum gehört, dass der Tross von zweihundert englischen Rittern, Fußsoldaten und Bogenschützen sein Lager auf dem Hürther Feld am Duffesbach aufgeschlagen hätte. Die Königsmutter Eleonore war mit hundert Rittern vom Lager nach Köln aufgebrochen, wo sie als Gast des Erzbischofs in dessen Palast wohnen würde. Die anderen hundert bewachten das immense Lösegeld. Es war so viel, dass dafür elf Karren nötig waren.
Severin hatte in Köln auf dem Alter Markt schon Turniere gesehen, wo stolze Ritter in Kettenhemden auf Schlachtrössern gegeneinander antraten, um sich mit ihren Lanzen gegenseitig aus dem Sattel zu stoßen. Dennoch war er überwältigt von dem Anblick, der sich ihm vor den Toren Kölns bot. Die englischen Ritter näherten sich in einer exakten Zweierreihe. Ihre Helme glänzten im Sonnenlicht, die Waffenröcke waren mit Wappen bestickt, und der Hufschlag der hundert Pferde erzeugte ein Dröhnen, das den Zuschauern eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
Angeführt wurden die Ritter von einer Frau, deren Erscheinung sich niemand entziehen konnte. Noch nie hatte Severin einen Menschen erblickt, der mit so viel Anmut und Stolz daherritt.
Er hatte am vorigen Abend im »Wilden Eber« gebannt den Worten des alten Sattlers Hyronimus gelauscht, der in seinem Leben viel rumgekommen war. Er hatte den anderen Gästen am Tisch berichtet, dass Eleonore von Aquitanien bereits einundsiebzig Jahre alt war, aber allein ihr Blick ausreichte, um selbst Fürsten zum Verstummen zu bringen. Sie war die mächtigste Frau der Welt.
Eleonore hatte schon in jungen Jahren den französischen König Ludwig VII. geheiratet, doch der fromme Monarch ertrug das selbstbewusste Auftreten seiner Gemahlin nicht und ließ die Ehe nach fünfzehn Jahren auflösen, hatte Hyronimus erzählt. Noch im selben Jahr vermählte sich Eleonore mit Heinrich Plantagenet, dem Grafen von Anjou, der später zum König von England gekrönt wurde. So konnte sich Eleonore rühmen, als Königin über zwei der bedeutendsten Reiche mitgeherrscht zu haben, wobei schon ihr eigenes Herzogtum Aquitanien recht einflussreich war.
Doch auch ihrer zweiten Ehe war auf Dauer kein Glück beschieden. Als Eleonore die Rebellion ihrer Söhne gegen den Vater unterstützte, ließ König Heinrich sein aufsässiges Eheweib für sechzehn Jahre unter Hausarrest stellen, der erst mit seinem Tod 1189 endete. Ihr Sohn Richard folgte auf den englischen Thron, und Eleonore hatte sich endlich Ruhe erhofft. Doch dann war vor einem Jahr die Hiobsbotschaft über die Gefangenschaft Richards eingetroffen. Das von Kaiser Heinrich VI. verlangte Lösegeld von hunderttausend Silbermark war eine so unvorstellbare Summe, dass viele es für unmöglich hielten, sie aufzubringen.
»Doch nicht so Eleonore!«, hatte Hyronimus lachend verkündet. »Sie verkaufte so ziemlich alle wertvollen Gegenstände des englischen Königreichs, erhob neue Steuern und ließ sogar Kirchenschätze einziehen. Nach nicht einmal einem Jahr hatte sie die hunderttausend Silbermark zusammen und ist nun aufgebrochen, um sie persönlich dem Kaiser zu überbringen.«
Die ganze Geschichte ging Severin erneut durch den Kopf, als er die Königsmutter auf einem schneeweißen Pferd das Tor bei Sankt Aposteln passieren sah. Als sie an ihm vorbeiritt, musste er plötzlich an seinen Freund Ulrich von Schwarzenberg denken. Oder war er doch Seyfrid von Viskenich? Aber egal, wie sein richtiger Name nun auch lautete, er war ein guter Mensch, der den kleinen Ludwig geheilt hatte.
Die Besucher aus England ritten bis zum Palast des Erzbischofs. Die Wachen standen stramm, als die Königsmutter und ihr Gefolge die Drachenpforte passierten und auf dem Hof des bischöflichen Palasts anhielten. Adolf von Altena erwartete Eleonore von Aquitanien in festlichem Gewand vor dem Eingang. Es war das erste Mal, dass er sich für einen Empfang persönlich nach draußen begab, normalerweise ließ er sich die Aufwartung in seinem Palast machen, um die Rangordnung klarzustellen. Doch er wusste, was er der Königsmutter schuldig war.
»Willkommen in Köln, Eure Majestät! Es ist mir eine Ehre, Euch mein Haus als Unterkunft anzubieten«, begrüßte er sie in holprigem Französisch, als sie ihr Pferd vor ihm zügelte.
Eleonore von Aquitanien ließ einen Augenblick verstreichen, ehe sie in hervorragendem Deutsch antwortete: »Mein lieber Erzbischof, es freut mich, Euch endlich persönlich danken zu können. Ihr habt Euch um die englische Krone sehr verdient gemacht. Auch weiß ich Eure großzügige Gastfreundschaft zu schätzen.«
»Euer Deutsch ist vorzüglich«, bemerkte der Erzbischof mit ehrlichem Respekt.
»Danke, ich übe mich seit über fünfzig Jahren darin.«
»Wir waren schon in Sorge um Euch, denn wir hatten Euch früher erwartet.«
»Die Wege waren tief verschlammt, ein Vorwärtskommen mit den Pferdekarren war nicht einfach.«
Ein Diener des Erzbischofs eilte herbei, um einen Schemel als Tritt vor das Pferd der Königin zu stellen. Der Ritter hinter ihr war von seinem Pferd gestiegen und reichte Eleonore die Hand, damit sie würdevoll von ihrem Ross hinabsteigen konnte.
Als sie sicher auf dem gepflasterten Hof stand, strich sie ihr grünes Kleid mit den eingearbeiteten Goldfäden glatt, das sie unter dem mit Pelz besetzten Mantel trug. Eleonore hielt sich trotz ihres Alters sehr gerade, um größer zu wirken, obwohl sie dem Erzbischof nur bis zur Nasenspitze reichte.
»Nun, ich hoffe, Ihr habt etwas Anständiges zu essen auftragen lassen, ich verspüre nämlich nach der langen Reise großen Hunger«, sagte sie fröhlich lächelnd.
Der Erzbischof und sein Gefolge waren erstaunt über ihre offene und direkte Art.
»Selbstverständlich, Majestät, wir haben für das Festmahl fünf Kühe, zehn Schweine und hundert Hühner gebraten, und meine Jäger haben reichlich Wild aus den Wäldern gebracht. Außerdem habe ich zehn Fässer des besten Rheinweins kommen lassen.«
»Das klingt köstlich!«
Wie es die Etikette vorsah, reichte sie ihm elegant ihre Hand, die in einem Seidenhandschuh steckte. Der Erzbischof hielt ihre Hand auf Schulterhöhe und führte die Königsmutter sichtlich stolz in seinen Palast. Ihre Eskorte war inzwischen ebenfalls abgestiegen und folgte Eleonore in gebührendem Abstand. Die Kettenhemden und Waffen klirrten dabei vernehmlich. Eine martialische Geräuschkulisse, die vor dem Dom eher despektierlich wirkte.
Adolf von Altena geleitete Eleonore an den Kopf des größten der festlich gedeckten Tische. Als sie dort angekommen waren, schoben zwei Diener ihnen die hohen Lehnstühle zurecht, sodass sie Platz nehmen konnten. Der Saal war zwar riesig, doch durch den Hofstaat des Erzbischofs, dazu zwei Dutzend Ehrengäste aus der Richerzeche und die hundert englischen Ritter war er brechend voll. Als der Erzbischof die Hand hob, verstummte das Gemurmel.
»Meine Herren, erhebt die Becher! Auf Ihre Majestät Eleonore von England!«
Alle erhoben sich.
»Möge Gott seine schützende Hand über Euch und Euren Sohn König Richard halten!«
Während die einheimischen Gäste ihr auf Deutsch zuprosteten, taten die englischen Ritter dies in ihrer Sprache, sodass ein vielstimmiger Chor entstand. Eleonore nickte hoheitsvoll.
Auf einen Wink des Erzbischofs begannen die Diener hin und her zu eilen, um für stetigen Nachschub an Wein zu sorgen. Die Unterhaltungen wurden wieder aufgenommen und verschmolzen zu einem merkwürdigen Singsang aus beiden Sprachen.
Der Erzbischof wartete höflich, bis Eleonore einige Bissen des Rehrückens zu sich genommen hatte.
»Der Braten ist vorzüglich«, lobte sie.
»Hattet Ihr eine angenehme Reise?«
»So angenehm, wie eine Schifffahrt über die Nordsee im Winter sein kann.«
»Ah, ich verstehe! Ein wenig rau um die Jahreszeit. Aber wenigstens der Ritt bis Köln ist friedlich verlaufen.«
»Ja, aber es sorgt nicht gerade für einen ruhigen Schlaf, den größten Schatz seit Menschengedenken mit sich zu führen.«
»Die hunderttausend Silbermark! Aber sie werden doch gut von Euren Rittern bewacht?«
»Ja, zweihundert meiner tapfersten Ritter begleiten mich, hundert Fußsoldaten und fünfzig Bogenschützen. Das beruhigt ein wenig.«
»Nun, in Köln seid Ihr in Sicherheit, dafür verbürge ich mich.«
»Wie Ihr wisst, sind die elf Karren mit dem Silber nicht hier, sondern lagern mit dem übrigen Tross außerhalb der Stadt.«
Die Königsmutter tat so, als würde sie den Umstand bedauern, dabei hätte sie die gewaltige Summe von hunderttausend Silbermark um nichts in der Welt in eine fremde Stadt gebracht. Zu groß wäre da die Verlockung, einfach die Tore zu schließen, die Ritter niederzumetzeln und das Geld zu behalten. Auch wenn der Erzbischof viel für die Freilassung Richards getan hatte, würde Eleonore niemandem wirklich vertrauen. Außerdem wusste sie genau, dass weder der Erzbischof noch die Bürger eine so schlagkräftige Truppe in der Stadt geduldet hätten. Die Kölner hatten die riesige Stadtmauer schließlich nicht gebaut, um ein fremdes Heer kampflos hineinzulassen.
»Ja, ich bedaure sehr, dass selbst in der größten Stadt diesseits der Alpen für einen so großen Trupp nicht genügend Platz ist«, entschuldigte sich der Erzbischof. »Aber der von mir sehr geschätzte Dietrich von der Mühlengasse hat Euch ja großzügig sein Land auf dem Hürther Feld als Lagerplatz überlassen.«
Er deutete an das andere Ende der Tafel, wo von der Mühlengasse saß und bedächtig an einem Stück Wildschweinbraten kaute. Er schien völlig in Gedanken versunken zu sein und beteiligte sich an keinem Gespräch.
»Unser Lager ist am Bach aufgeschlagen, und es ist genügend Brennholz dort, um die kalten Nächte zu überstehen. Ich hoffe, es hat Dietrich von der Mühlengasse keine allzu großen Kosten bereitet.«
»Aber nein, er hat uns von sich aus den Lagerplatz geradezu aufgedrängt. Ihm gilt Gastfreundschaft als höchstes Gut, wie er mir versicherte.«
Der Erzbischof verkniff sich die Bemerkung, dass von der Mühlengasse wohl sichergehen wollte, dass die englische Krone ihn zukünftig bei Geschäften besonders berücksichtigen würde. »Das gilt selbstverständlich auch für mich, mein Palast steht Euch zur Verfügung, solange es Euch beliebt«, beeilte er sich hinzuzufügen.
»Ich bin Euch überaus dankbar.«
»Es ist mir eine Ehre. Ihr beabsichtigt sicher, die Messe zu besuchen?«
In die Augen der Königin trat ein Glanz. »Ja, die Messe im Dom in Gegenwart der Heiligen Drei Könige zu erleben, wäre mein Wunsch.«
»Ich verspreche Euch, dass es eine wunderbare Messe werden wird«, versicherte der Erzbischof. »Nirgendwo fühlt man sich Gott näher als im Dom zu Köln. Zumindest außerhalb von Rom.«
»Ich freue mich sehr darauf.«
»Das ist aber noch nicht alles. Wir haben für den Nachmittag ein Turnier zu Euren Ehren auf dem Alter Markt angesetzt.«
Die Königin war erstaunt. »Ihr veranstaltet ein Turnier im Winter?«
»Genau genommen haben die vornehmsten Bürger von Köln es organisiert, aber ohne meine Hilfe wäre es selbstverständlich nicht möglich gewesen«, behauptete er dreist. »Für Euch habe ich keine Mühen gescheut.«
»Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte Eleonore höflich, aber ihr Gesichtsausdruck ließ einen gewissen Zweifel an der Durchführbarkeit erkennen. Das Wetter war zwar strahlend schön an diesem Morgen, aber wenn plötzlich der Winter mit Schnee Einzug halten sollte, wäre es sehr gefährlich für die Teilnehmer, die Kämpfe auf dem rutschigen Boden auszutragen.
»Seid unbesorgt, ich habe den heiligen Petrus um Beistand angefleht, dass er den Winter dieses Jahr noch einige Tage zurückhalten möge.«
Eleonore hob vielsagend die Augenbrauen. »Nun, dann wird es wohl ein schönes Turnier werden.«
»Doch kommen wir zu wichtigeren Dingen. Ihr trefft Euch mit dem Kaiser in Speyer?«
»Ja, dort erwartet er mich, oder sollte ich lieber sagen: Er wartet auf das Lösegeld?«
»Nun, sagen wir: Er erwartet Euch und das Lösegeld.« Sein Schmunzeln erinnerte an das eines Wolfes.
»Ich bin um Eure Hilfe bei den Verhandlungen mit dem Kaiser sehr dankbar. Ich weiß, ohne Euch müsste mein Sohn vielleicht noch lange Zeit in Gefangenschaft verbleiben.«
Statt einer Antwort beugte der Erzbischof nur stumm sein Haupt.
»Wie Ihr wisst, hat Kaiser Heinrich mehrmals im Laufe der Verhandlungen plötzlich noch mehr verlangt als zuvor«, fuhr sie fort. »Ich bete zur Heiligen Jungfrau, dass er es sich bei meinem Eintreffen in Speyer nicht noch einmal anders überlegt.«
Adolf von Altena neigte sich leicht in ihre Richtung und senkte die Stimme. »Macht Euch keine Sorgen! Ich habe seine engsten Berater auf unsere Seite gebracht, damit Heinrich der Versuchung widersteht.«
»Wollt Ihr damit andeuten, König Philipp hat erneut versucht, den Kaiser zu drängen, Richard weiterhin gefangen zu halten?«
Der Erzbischof lehnte sich genüsslich zurück. »Natürlich hat er das. Heinrich war schwankend, aber dann hat sein Bruder ihm klargemacht, wie es im Reich aufgenommen würde, wenn der Kaiser sein Wort bräche.«
»Konrad von Schwaben hat sich für uns eingesetzt?«, fragte Eleonore überrascht.
»Das hat er. Allerdings erst, nachdem ich ihm eine gewisse Summe versprochen habe.«
Eleonore verdrehte die Augen und seufzte. »Was ist bloß aus den ritterlichen Tugenden geworden?«
»Ich bedauere, aber ich bin nur für die geistlichen Tugenden zuständig.«
***
Als Seyfrid endlich die Mauern des Klosters zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria vor sich auftauchen sah, kamen ihm auf einmal Zweifel, ob es klug wäre, einfach an das Tor zu klopfen. Er war zuversichtlich, dass er der Äbtissin Kathryn vertrauen konnte, aber galt das auch für jede der Nonnen? Einige hatten ihn bei seinem ersten Besuch gesehen und kannten seinen Namen. Oder besser den Namen Ulrich von Schwarzenberg, des Mannes, der nun überall gesucht wurde. Dann würden sie ihm ganz sicher den Eintritt verwehren. Also sollte er sich besser anders Zugang verschaffen.
Er schlich auf die Rückseite des Klosters und achtete penibel darauf, dass ihn niemand beobachtete. Dann nahm er Anlauf und sprang an der Mauer hoch. Er bekam die Kante zu packen und zog sich nach oben. Im Hof war keine der Nonnen zu sehen. Entweder waren sie alle bei der Arbeit oder beim Beten in der Kapelle. Vorsichtig ließ er sich auf der anderen Seite der Mauer so leise wie möglich herunter.
Er wusste noch, wo das Zimmer lag, in dem er bei seinem ersten Besuch die Äbtissin getroffen hatte. Es war das hinterste in dem großen Hauptgebäude. Seyfrid rannte geduckt über den Hof an den Stallungen vorbei bis zu dem Fenster der Äbtissin, vor das ein Stück Ziegenleder gespannt war. Er drückte es zur Seite und hatte sich im nächsten Augenblick kopfüber durch das Fenster gezwängt. Unsanft landete er auf dem Boden.
Mit einem Schrei sprang Kathryn von ihrem Stuhl auf und ließ die Schreibfeder fallen.
»Erschrick nicht, Schwester Kathryn! Ich bin es, Seyfrid.«
Kathryn fasste sich an ihr Herz und stieß hörbar die Luft aus. »Kannst du nicht durch die Tür kommen wie jeder anständige Mensch?«
»Verzeih mein ungebührliches Eindringen, aber ich hielt es für geraten, dass mich niemand sieht.«
»Wieso bist du überhaupt frei?«
»Nun, ich habe mir sozusagen die Freiheit genommen.«
»Du bist ausgebrochen?«, fragte sie mehr erstaunt als vorwurfsvoll.
»Nicht direkt. Sagen wir: Ich bin von einem nächtlichen Spaziergang nicht mehr zurückgekehrt. Doch das ist jetzt alles nicht so wichtig, ich brauche deine Hilfe, weil das Lösegeld für König Richard gestohlen werden soll.«
Die Äbtissin starrte ihn ungläubig an. »Was sagst du da?«
Seyfrid holte tief Luft und erklärte: »Französische Ritter wollen den englischen Tross überfallen und das Lösegeld rauben. So will König Philipp verhindern, dass Richard freikommt.«
Kathryn zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen. »Woher willst du das wissen?«
»Weil die Ritter bereits heimlich in der Burg Viskenich lagern. Außerdem habe ich einen der Franzosen, Graf Louis de Beauvard, in Köln gesehen, er ist ein Vertrauter von König Philipp. Ich kenne ihn vom Kreuzzug im Heiligen Land. Leider hat er mich auch erkannt. Ich bin sicher, dass er es war, der mich an Jacob Hoengen verraten hat. Sie wollen mich töten, weil ich ihren Plan scheitern lassen könnte. Mich einfach auf offener Straße anzugreifen, haben sie sich nicht getraut, deshalb haben sie einen raffinierteren Weg gesucht, um mich verhaften und wegsperren zu lassen. Es hat leider funktioniert, wie du weißt.«
»Jacob Hoengen soll so etwas Schändliches getan haben?«
»Louis de Beauvard und zwei weitere französische Ritter sind als Mönch verkleidet nach Köln gekommen, um die Lage auszukundschaften. Sie haben sich wohl bei Hoengen versteckt, deshalb konnte der Erzbischof sie nicht finden.«
»Ich hörte von drei Mönchen, die Bruder Maternus überall suchen ließ. Aber warum sollte Jacob Hoengen seine Heimatstadt verraten? Er ist ein Mitglied der Richerzeche, der Raub des Lösegelds würde Köln einen immensen Schaden bescheren und damit auch seinem Glashandel. Keiner würde mehr mit den Kölner Händlern Geschäfte machen wollen, ganz zu schweigen vom Zorn der Engländer und des Kaisers. Vielleicht würden sie sogar aus Rache eine Armee entsenden, um Köln zu bestrafen.«
»Ich glaube nicht, dass Jacob Hoengen der Kopf hinter dem Plan ist, dafür ist er nicht einflussreich genug. Jemand anderer in Köln hat ihn für das Vorhaben gewonnen. Ein sehr mächtiger Mann, der einen Handlanger brauchte, um selbst im Verborgenen bleiben zu können. Jemand, der mit dem französischen König eine Intrige geschmiedet hat, um das Lösegeld der Engländer zu rauben.«
»Wen meinst du?«
»Jemand, der die Richerzeche und den Erzbischof schwächen will, um noch mächtiger zu werden: Gerhard vom Hof.«
»Habe ich auf dich einen so niederträchtigen Eindruck gemacht?«, erklang eine Stimme hinter ihm.
Seyfrid fuhr herum. Gerhard vom Hof stand in der offenen Tür. Ein Schwert hing an seinem Gürtel. Hektisch sah sich Seyfrid nach einer Waffe um, doch da er keine fand, griff er nach dem Hocker und hielt ihn schlagbereit hoch. Es würde ein ungleicher Kampf werden. Doch Gerhard rührte sich nicht.
»Stell ihn wieder hin und setz dich darauf!«, befahl er.
»Das könnte dir so passen«, entgegnete Seyfrid aufgebracht.
»Du irrst dich in ihm, Seyfrid!«, rief Kathryn. »Nachdem ich bei dir im Frankenturm war, habe ich Gerhard eine Botschaft zukommen lassen, dass ich mich unbedingt wegen dir mit ihm treffen muss. Er soll sich vor Gericht für dich einsetzen. Doch ich wollte nicht, dass man mich bei ihm sieht, daher bat ich ihn, hier ins Kloster zu kommen.«
»Du machst mit dem Verräter gemeinsame Sache?«, empörte sich Seyfrid, der Gerhard nicht aus den Augen ließ.
Gerhard ging seelenruhig zu dem nun einzigen freien Hocker am Tisch und setzte sich. Er blickte Seyfrid gelassen an. »Eines muss ich dir lassen, Seyfrid von Viskenich, du bist ein kluger Kopf. Dich als der Medicus Ulrich von Schwarzenberg auszugeben, um unentdeckt in Köln nach den Verrätern zu suchen, die deinen Vater dem Henker ausgeliefert haben, ist eine Meisterleistung.«
Seyfrid ließ langsam den Hocker sinken. »Was willst du?«
»Gar nichts«, sagte Gerhard fast schon erheitert. »Die Frage ist, was du von mir willst.«
»Ich von dir?«, rief Seyfrid entgeistert.
Kathryn trat zwischen die Kontrahenten und streckte die Arme in beide Richtungen aus. »Gerhard ist der Einzige, der dir helfen kann, Seyfrid. Wenn Gerhard dem Gericht erklärt, was deine Beweggründe waren, haben sie vielleicht ein Einsehen, denn sein Wort hat Gewicht in Köln.«
»Ich traue ihm nicht!«
»Dann werde ich dir beweisen, dass du ihm vertrauen kannst. Ich werde euch kurz alleine lassen. Habe ich dein Wort, Seyfrid, dass du dich so lange friedlich verhältst?«
Seyfrids Blick glitt zwischen Kathryn und Gerhard hin und her. Schließlich nickte er. »Du hast mein Wort.«
Die Äbtissin verließ eilig das Zimmer, und Seyfrid stellte den Hocker wieder hin, um sich ebenfalls zu setzen. Die beiden Männer starrten einander eine ganze Weile stumm an.
»Warum solltest du mir helfen wollen?«, fragte Seyfrid schließlich.
»Weil du einem ungeheuerlichen Verrat auf die Spur gekommen bist, wie ich gerade vernahm, als ich vor der Tür stand.«
Noch bevor Seyfrid etwas erwidern konnte, kehrte Kathryn zurück. Ihr folgte eine Novizin im weißen Habit mit züchtig gesenktem Kopf. Die Äbtissin stellte sich vor Seyfrid und wies mit der Hand auf die Frau neben sich. »Das ist Schwester Genoveva.«
Seyfrid erinnerte sich, die junge Frau vor einigen Tagen in der Küche gesehen zu haben, als er mit Rebecca hier gewesen war. Auch wenn er damals ihr Gesicht nicht hatte erkennen können, war er sicher, dass es sich um dieselbe Frau handelte.
Doch als sie nun ihren Kopf hob und ihn aus grünen Augen anblickte, begriff Seyfrid schlagartig, wer sie war. »Isolde!«, rief er.
Tränen standen der jungen Frau in den Augen, ihre Lippen bebten. »Seyfrid, bist du es wirklich?«, schluchzte sie.
Er stürzte auf sie zu und schloss sie fest in die Arme. »Ich habe dich gefunden, du lebst! Der Herr sei gepriesen!«
»Ich habe immer gewusst, dass du kommen würdest!«
Seyfrid blinzelte durch einen Tränenschleier, trat einen Schritt zurück, ließ aber ihre Hände nicht los. »Lass dich ansehen! Du bist eine wunderschöne Frau geworden.«
»Und auch du bist nicht mehr der Junge, den ich in Erinnerung habe«, gab sie lächelnd zurück.
»Du hast so viel Schreckliches durchgemacht! Geht es dir gut?«
»Schwester Kathryn hat sich liebevoll um mich gekümmert.«
Die Äbtissin hob abwehrend die Hände. »Das war das Mindeste, was ich für meine liebe Freundin Lucretia noch tun konnte. Es erfüllt meine Seele mit Freude, euch wiedervereint zu sehen.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Kathryn«, sagte Seyfrid.
»Da gibt es noch jemand, dem du danken solltest.« Die Äbtissin wies auf Gerhard. »Ich hatte Furcht vor dem, was passieren würde, wenn jemand die Novizin Genoveva als Isolde von Viskenich erkennen sollte. Daher habe ich Gerhard eingeweiht, und er sagte mir gleich seine Hilfe zu. Falls es nötig gewesen wäre, hätte er Isolde sofort an einen anderen Ort bringen lassen und unser Kloster beschützt.«
Seyfrid starrte ihn einige Sekunden an, ehe er die passenden Worte fand. »Dann bin ich dir zu tiefstem Dank verpflichtet, Gerhard. Verzeih, dass ich dir misstraut habe!«
»Ich kann es dir nicht verdenken, schließlich ging es mir ebenso.«
Seyfrid wandte sich wieder seiner Schwester zu. »Doch erzähl mir: Was ist wirklich geschehen? Warum hat man unseren Vater eines Mordes bezichtigt, den er nicht begangen hat?«
Isoldes hübsches Gesicht wurde schlagartig wieder traurig. »Er schwor beim Grab unserer Mutter, dass er unschuldig sei. Doch niemand in Köln wollte ihm glauben.« Sie atmete tief durch, um gegen die aufkommenden Tränen anzukämpfen.
»An dem Tag im Juli, als Vater zu dem Fest von Berthold Fursach nach Köln ritt, kehrte er abends nicht zurück, aber tief in der Nacht stand sein Pferd Totila alleine vor dem Tor. Ich machte mir große Sorgen und bat Eckard, gleich bei der ersten Morgendämmerung nach Vater zu suchen. Doch kaum war Eckard in aller Frühe losgezogen, tauchte Vater auf und sah furchtbar aus. Er berichtete, wie er auf dem Heimweg von Räubern überfallen worden war und sie sein Schwert gestohlen hatten. Er hatte die ganze Nacht gefesselt an einem Baum im Wald verbracht. Erst im Morgengrauen war ein vermummter Mann aufgetaucht und hatte das Seil durchgeschnitten, ohne ein Wort zu sagen. Noch bevor Vater sich von allen Fesseln befreien konnte, war der Mann auch schon wieder verschwunden. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, bis mittags der Büttel Pütz mit den Stadtwachen aus Köln auf unsere Burg kam.«
Isolde schien die Erinnerung an den schrecklichen Tag sehr mitzunehmen.
»Er warf Vater vor, Gottfried Hackenbroich getötet zu haben. Sie hatten Vaters Ulfberht-Schwert bei dem Leichnam im Hause Hackenbroichs gefunden. Vater erzählte ihm natürlich, was ihm in der Nacht widerfahren war, doch Pütz nahm ihn dennoch als Gefangenen mit nach Köln und sperrte ihn in den Frankenturm. Das Blutgericht erwartete ihn.«
Kurz versagte Isolde die Stimme, und Seyfrid legte sanft seine Hände auf ihre Schultern.
»Ich war völlig verzweifelt. Am Nachmittag tauchte Eckard wieder auf. Er hatte in Köln nach Vater gesucht und dort erfahren, was mit ihm geschehen war. Er sagte, wir seien auf der Burg nicht sicher und müssten sofort fliehen. Eckard ahnte, dass jemand Mächtiges unseren Vater aus dem Weg haben wollte und auch ich in Gefahr sei. Wir packten das Notwendigste auf einen Ochsenkarren und kamen unerkannt hierher. Schwester Kathryn hat uns aufgenommen, ohne zu zögern.«
Isolde warf der Äbtissin einen dankbaren Blick zu. »Sie gab mir den weißen Habit der Novizinnen, und ich war fortan Genoveva aus Aachen. Eckard erhielt den Namen Friederich und arbeitete im Stall. Er ging immer wieder als Knecht verkleidet nach Köln, um zu erfahren, wie es um Vater stand, und nach dessen Tod versuchte er herauszufinden, wer der wahre Mörder war.«
»Hat er es herausgefunden?«, fragte Seyfrid aufgeregt.
Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Leider nein. Als das Blutgericht zusammentrat, waren fast alle Schöffen von der Schuld unseres Vaters überzeugt. Besonders die Richerzeche wollte die Tat an ihrem Mitbruder gesühnt sehen. Der Richter war zunächst geneigt, den Worten unseres Vaters zu glauben. Aber dann tauchte auf einmal ein Hafenknecht namens Grimmel auf und behauptete, unseren Vater in jener Nacht gesehen zu haben, wie er Hackenbroich tötete.«
Als seine Schwester den Namen Grimmel erwähnte, zog es Seyfrid vor Wut den Magen zusammen, doch er unterbrach sie nicht.
»Daraufhin sprach der Richter unseren Vater für schuldig … und verurteilte ihn zum Tode.« Isoldes Stimme versagte.
Seyfrid blickte zu Gerhard hinüber. »Jacob Hoengen ist nicht einflussreich genug, um mit dem französischen König einen Pakt zu schließen. Er wäre nicht einmal zu Philipp vorgelassen worden. Hoengen ist nur ein willfähriger und gieriger Helfer. Aber wer steckt dann hinter dem bösen Plan?«
»Kannst du dir das nicht denken?«, sagte Gerhard ruhig. »Jemand, der schon lange versucht, der reichste und mächtigste Mann in Köln zu werden. Jemand, der es meisterhaft versteht, Menschen etwas vorzuspielen und sie wie eine Spinne in sein Netz zu locken. Auch dich hat er geschickt umgarnt.«
In dem Moment erschien es Seyfrid, als ob sich in seinem Kopf eine Nebelwand verflüchtigte und ein Bild klar wie die Morgensonne aufging. »Dietrich von der Mühlengasse«, flüsterte er.
»Ganz genau. Er verfolgt gleich zwei Ziele. Zum einen will er den Erzbischof entscheidend schwächen. Wenn direkt vor dessen Nase das Lösegeld für König Richard gestohlen wird, kann Adolf von Altena sich von dieser Schmach nicht mehr erholen. Nicht nur in Köln, sondern im gesamten Reich wird er beträchtlich an Einfluss verlieren. Außerdem hat der Erzbischof auf lukrative Geschäfte mit England gesetzt, sobald Richard wieder nach Hause zurückkehrt. Er braucht nämlich dringend Geld, weil er bei Dietrich hoch verschuldet ist. Kann er das Geld nicht zurückzahlen, hat Dietrich ihn in der Hand und wird zukünftig alle seine Interessen beim Erzbischof durchsetzen können.«
Seyfrids betroffener Gesichtsausdruck sprach Bände.
»Zum anderen hat Dietrich leider herausbekommen«, fuhr Gerhard fort, »dass auch ich der Königsmutter Eleonore heimlich einen hohen Geldbetrag für die Freilassung von Richard geliehen habe und sie mir im Gegenzug gute Handelsbeziehungen zu England versprochen hat. Doch wenn das Lösegeld gestohlen wird und Richard weiter in Gefangenschaft verbleibt, werde ich von meinem Geld nichts wiedersehen. Dietrich hingegen wird einen ansehnlichen Anteil vom gestohlenen Lösegeld bekommen und sicherlich darüber hinaus einträgliche Geschäfte mit dem französischen Hof ausgehandelt haben. Somit hätte Dietrich sein Ziel erreicht, und er würde zum mächtigsten Mann in Köln aufsteigen.«
»Ich war so dumm!«, sagte Seyfrid zerknirscht.
»Gräm dich nicht, dass du Dietrichs Ränkespiel erlegen bist, auch ich habe es nicht durchschaut«, sagte Gerhard. »Dietrich gab dir scheinbar großzügig ein Haus und erwartete dafür von dir vordergründig nur Dankbarkeit. Nicht wie der Erzbischof, der dir Gehorsam befahl und verlangte, dass du die Richerzeche für ihn aushorchst.«
»Woher weißt du …?«, fragte Seyfrid verblüfft, aber Gerhard winkte ab.
»Das ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass du begreifst, was Dietrich für ein heimtückisches Spiel treibt.« Gerhard lachte bitter auf. »Ich ahnte, dass Dietrich etwas von großem Ausmaß plant, aber fand nicht heraus, um was es ging. Dass er mit König Philipp paktieren würde, um dreist das Lösegeld zu rauben, wäre mir im Traum nicht eingefallen. Die Erkenntnis habe ich dir zu verdanken.«
»So wusstest du nicht, dass Hoengen zu den Verrätern gehört?«
»Dietrichs Secretarius versorgt mich gelegentlich gegen Geld mit Nachrichten aus dem Hause von der Mühlengasse. Überhaupt trifft es auf einige Häuser der Richerzeche zu, dass der Secretarius eine ergiebige Quelle ist, aber das hat unter uns zu bleiben.« Gerhard vom Hof zwinkerte ihm zu.
»Leider wusste auch der Secretarius nicht, was eigentlich vor sich ging. Dietrich hatte im Sommer zweimal Besuch von einem geheimnisvollen Mann, der stets mit verhülltem Gesicht das Haus betrat. Dietrich sprach nur mit ihm allein, selbst sein Secretarius, der sonst bei geschäftlichen Verhandlungen immer anwesend war, durfte nicht dabei sein. Er lauschte an der Tür, konnte aber kaum etwas vom Gespräch verstehen. Jedoch vernahm er deutlich, wie Dietrich einmal unvorsichtigerweise den Namen des Gastes nannte …«
»… Hoengen«, vollendete Seyfrid den Satz.
»Richtig. Dann hörte er noch, dass über Frankreich gesprochen wurde, verstand jedoch nicht den Zusammenhang. Als mir dann Wochen später zu Ohren kam, dass drei als Mönche verkleidete Fremde heimlich im Palast des Erzbischofs spioniert hatten, war mir klar, dass es kein Zufall war. Zu dem Zeitpunkt vermutete ich aber noch, dass sie etwas gegen den Erzbischof planten. Nachdem du wenige Tage später in Köln auftauchtest und Dietrich dir eines seiner Häuser überließ, dachte ich, dass du mit ihm unter einer Decke steckst. Erst als Hoengen dich als Betrüger enttarnte und in den Frankenturm sperren ließ, war mir klar, dass du für Dietrich – verzeih den Ausdruck – nur ein nützlicher Narr warst.«
Unter normalen Umständen wäre Seyfrid über die Beleidigung wütend geworden, aber jetzt ging ihm so viel gleichzeitig durch den Kopf, dass er keine Zeit für einen Streit hatte.
»Dietrich hat also mit König Philipp einen Pakt geschlossen, das Lösegeld zu stehlen, und Jacob Hoengen fungiert in Köln als Handlanger und Bote zwischen Graf de Beauvard und ihm«, versuchte Seyfrid seine Gedanken zu ordnen.
»Dietrich hat sein Land auf dem Hürther Feld dem Erzbischof als Lager für die Engländer geradezu aufgedrängt«, fuhr er fort. »Doch nicht als freundliche Geste, sondern damit die Franzosen sie dort überfallen und ausrauben können. Philipps Ritter brauchten dafür ein Versteck in der Nähe, und Dietrich verfiel auf die Burg meines Vaters. Der eigentliche Plan sah wohl vor, meinen Vater, der hohe Schulden bei Hackenbroich hatte, mit Arsenik zu töten, um der Burg habhaft zu werden. Hackenbroich hätte nach dem Tod meines Vaters darauf bestanden, dass die Nachkommen des Ritters von Viskenich die Schulden begleichen müssten. Da Isolde aber über kein Geld verfügte, hätte Hackenbroich beim Erzbischof Ansprüche auf die Burg angemeldet und sie von ihm gewiss als Lehen bekommen.«
»Aber stattdessen haben sie Hackenbroich umgebracht«, stellte Gerhard fest.
»Mit irgendwas hat Hackenbroich den Zorn Dietrichs auf sich gezogen, und er beschloss, Hackenbroich töten zu lassen und es meinem Vater anzuhängen, damit die Burg frei würde«, vermutete Seyfrid. »Wahrscheinlich hat Dietrich Berthold Fursach gedrängt, sowohl meinen Vater als auch Hackenbroich zu seinem Fest einzuladen. Dort war es ihm ein Leichtes, sie beide anzustacheln, sodass sie vor aller Augen in Streit gerieten. Als mein Vater daraufhin wütend das Bankett verließ, lauerten ihm Graf de Beauvard und seine Schergen auf, fesselten ihn, raubten sein Ulfberht-Schwert und übergaben es Hoengen. Sie waren sicher, dass Hackenbroich seinem Mitverschwörer auch noch mitten in der Nacht vertrauensvoll die Tür aufmachen würde. Hoengen erstach ihn mit dem Schwert meines Vaters.«
Gerhard pflichtete ihm nickend bei. »Es war zwar Zufall, dass Jacob Hoengen zu dem Zeitpunkt zu den Schöffen gehörte, aber es spielte den Verschwörern in die Karten.«
»Hoengen drängte während des Blutgerichts die anderen Schöffen, meinen Vater schuldig zu sprechen. Als jedoch der Richter zögerte, kam Hoengen auf die Idee, einen falschen Zeugen zu präsentieren.« Seyfrid sah seine Schwester an. »Wahrscheinlich kannte er Grimmel schon länger und wusste, dass der verschlagene Hafenknecht für Geld alles tun würde, auch einen Unschuldigen durch einen Meineid in den Tod zu schicken.«
»Das war alles so entsetzlich!«, sagte Kathryn mitfühlend. »Ich habe seitdem jeden Tag für die Seele deines Vaters gebetet.«
»Oh ja, seine Seele!«, sagte Seyfrid voller Bitterkeit. »Nach der Hinrichtung ließ Hoengen das Gerücht verbreiten, dass auf der Burg der Geist des Ritters von Viskenich ruhelos umgehen würde. Niemand traute sich mehr dorthin. Alles lief nach Plan, doch dann wollte Matthias Quentenberg unbedingt die Burg kaufen und stand bereits in Verhandlungen mit dem Erzbischof. Das musste Dietrich natürlich verhindern und trug Hoengen auf, das Arsenik, das ursprünglich dafür gedacht war, meinen Vater zu vergiften, auf der Versammlung im Haus der Bürger heimlich ins Essen oder in den Wein von Quentenberg zu mischen.«
»Doch die Verschwörer konnten nicht ahnen, dass ein tüchtiger Medicus in die Stadt kommen würde«, warf Kathryn ein und sah Seyfrid dabei wohlwollend an.
»Du hast ohne Zweifel Matthias das Leben gerettet, was Dietrich gar nicht gefallen hat«, erklärte Gerhard. »Also beschloss er, dich eng an sich zu binden, indem er dir ein Haus zur Verfügung stellt. So konnte er dich im Blick behalten, damit du seinen Plan nicht noch einmal durchkreuzt. Für Matthias Quentenberg war es ein Glück, dass er noch eine Weile krank im Bett lag und so nicht mit dem Erzbischof weiter über die Burg Viskenich verhandeln konnte, sonst hätten die Verschwörer wohl umgehend erneut versucht, ihn zu töten.«
»Eines verstehe ich nicht: Warum ist Graf de Beauvard in den Palast des Erzbischofs geschlichen und hat riskiert, gefangen genommen zu werden? Oder gehört von Altena doch zu den Verrätern?«
»Nein, der Erzbischof tobte vor Wut, als er von den Eindringlingen hörte«, sagte Gerhard bestimmt. »Er hat alles darangesetzt zu erfahren, wer die drei waren. Es ist auch für ihn ein Rätsel, was sie im Palast wollten.«
»Vielleicht wollten sie den Ort kennenlernen, für den Fall, dass die Engländer das Lösegeld mit in die Stadt brächten, um es im Palast des Erzbischofs zu lagern«, schlug Kathryn vor.
Seyfrid schüttelte den Kopf. »Sie könnten das Lösegeld nicht in Köln stehlen, es sind elf schwere Karren. Sie kämen damit nicht lebend aus der Stadt. Nein, es muss einen anderen Grund haben. Ich habe nur leider keine Ahnung, welchen.«
***
Als Rebecca entsetzt aufschrie, hielt ihr der Angreifer sofort den Mund zu und drückte sie mit Gewalt zu Boden. Der Schreck ließ sie zunächst erstarren. Als er ihr jedoch sein Knie schmerzhaft zwischen die Schultern bohrte, um ihre Handgelenke mit einem Seil auf dem Rücken zu fesseln, begann sie sich nach Kräften zu wehren, aber es war vergebens.
Als er ihre Hände gefesselt hatte und sie auf den Rücken rollte, konnte sie endlich einen Blick auf ihren Angreifer erhaschen und hielt entgeistert inne. »Kaspar! Was ist in dich gefahren? Binde mich sofort los!«, rief sie wütend.
»Du hast gedacht, ich hätte dich eben vor dem Haus nicht erkannt«, antwortete Kaspar gepresst. »Aber du wirst mich nicht noch einmal verraten.«
»Was soll das heißen? Ich habe dich nicht verraten!«
»Warum hast du dich mit ihm eingelassen?«, zischte er böse.
»Von wem redest du?«, fragte sie verblüfft.
»Von diesem betrügerischen Medicus.«
»Ich habe doch gar nicht …« Sie stockte, dann brach erneut die Empörung aus ihr heraus. »Und selbst wenn, geht dich das nichts an!«
Kaspar schrie fast hysterisch: »Ihr habt geglaubt, ihr könntet euch heimlich lieben und ich würde es nicht sehen. Aber du bist mir versprochen, ich werde es nicht zulassen, dass du dich mit ihm vermählst!«
»Dir versprochen? Du bist ja von Sinnen!«
»Du gehörst mir!«, sagte Kaspar. Dann beugte er sich zu ihr herunter und versuchte sie zu küssen, doch sie wandte angewidert den Kopf ab.
»Geh weg von mir!«
Mit einem Wutschrei packte er ihren Rock und schob ihn über ihre Beine hoch bis zur Hüfte. »Ich werde es nicht zulassen, dass er dich mir wegnimmt!« Kaspar begann seine Hose auszuziehen.
Entsetzt blickte Rebecca ihn an. »Das wagst du nicht!«
»Wir gehören zusammen! Wenn wir erst ein Kind haben, wirst auch du es begreifen.«
Er wollte sich erneut auf sie stürzen, doch Rebecca nahm all ihre Kraft zusammen und trat ihm bei seinem ungestümen Angriff gezielt zwischen die Beine. Sie hatte schon als Kind beim Spielen mit allzu wilden Jungs gewusst, wie sie sich wehren konnte.
Kaspar heulte auf und brach zusammen. Schreiend wälzte er sich auf dem Boden und hielt sich die Hände in den Schritt.
»Du Dummkopf! Ich werde dir niemals gehören! Wenn mein Vater davon erfährt, wird er dir den Kopf abreißen!« Rebecca versuchte aufzustehen, doch mit auf den Rücken gefesselten Händen gelang es ihr nicht sogleich. »Dein Vater wird dich dafür totprügeln«, fauchte sie, doch hielt dann inne. »Oder weiß dein Vater, was du hier tust?«
»Er hasst mich!«, stieß Kaspar keuchend hervor. »Ich würde ihm niemals das Geheimnis anvertrauen. Aber es wird der Tag kommen, da werde ich ihn für immer los sein, und mein wahrer Vater wird mich zu sich auf seine Burg nehmen.«
»Dein wahrer Vater? Du redest wirr!«
Kaspar hatte sich wieder hochgerappelt, doch sein Gesicht war immer noch schmerzverzerrt. »Jacob Hoengen ist nicht mein Vater! Mein Vater ist Graf Louis de Beauvard. In Wahrheit bin ich Franzose. Ich bin der Getreue. Ich werde König Philipp immer treu ergeben sein. Wir werden siegen.«
»Du bist völlig wahnsinnig!«, sagte Rebecca, doch dann ergab plötzlich alles einen Sinn. »Du hast die Morde begangen! Du hast Hackenbroich getötet und begehrtest das Ulfberht-Schwert, mit dem du ihn erstochen hast, so sehr, dass du es erneut gestohlen hast. Dann warst du es auch, der versucht hat, meinen Vater mit Arsenik zu vergiften. Die Witwe Hackenbroich ist dir auf die Schliche gekommen, und du hast sie ebenfalls umgebracht.«
»Die sind alle völlig unwichtig! Es geht hier um viel mehr, es geht um ein ganzes Königreich! Aber das wird ein dummes Weib wie du nie begreifen.«
»Ein Königreich?«, fragte Rebecca.
»König Richard wird für immer in Gefangenschaft verbleiben und König Philipp das Englische Reich erobern.«
»Das hättest du wohl gerne, aber Eleonore wird das Lösegeld schon bald dem Kaiser überreichen.«
»Nein, das wird sie nicht«, kreischte Kaspar triumphierend. »Sobald mein Vater heute bei seinem Trupp auf der Burg Viskenich angekommen ist, werden sie sich die hunderttausend Silbermark holen. Ohne das Lösegeld lässt Kaiser Heinrich Richard nicht frei, und Philipp wird mit dem vielen Geld ein gewaltiges Heer aufstellen, das die Engländer überrennen wird. Und nicht nur die Engländer, wir werden uns alle Länder mit Gewalt nehmen, die sich uns nicht freiwillig unterwerfen.«
»Ihr werdet das Lösegeld nicht bekommen, es wird von zweihundert englischen Rittern bewacht.«
Trotz seiner Schmerzen lachte Kaspar kurz gequält auf. »Es sind nur noch hundert Ritter, die anderen sind mit der Königsmutter Eleonore hier in Köln, als Gäste des Erzbischofs. Wir sind mit zweihundert der edelsten französischen Ritter in der doppelten Überzahl und werden die verfluchten Engländer abschlachten.«
»Gehört der Erzbischof auch zu den Verschwörern?«, fragte Rebecca bestürzt.
»Rede keinen Unsinn! Der Narr will Richard unbedingt freibekommen, weil er auf große Geschäfte mit England hofft.«
»Es wird rauskommen, dass ihr das Lösegeld gestohlen habt! Die Königsmutter Eleonore wird euch verfolgen und alle aufhängen lassen!«
Kaspar hatte es endlich geschafft, wieder aufrecht zu stehen und sich die Hose hochzuziehen. Sein Gesicht verwandelte sich in eine bösartige Grimasse. »Die Königsmutter wird keine Befehle mehr erteilen.« Er trat auf Rebecca zu und achtete tunlichst darauf, nicht erneut von ihrem Fuß getroffen zu werden. »Sie ist eine Hexe! Sie will König Philipp mit einem tödlichen Fluch belegen, mein Vater hat es mir eben gesagt.«
»Dann war es der Graf, der vorhin mit dir das Haus verlassen hat. Du kannst ihm diese Lüge doch nicht glauben!«
»Sie muss sterben! Mein Vater wollte selbst für ihren verdienten Tod sorgen, doch jetzt muss er dringend zu unseren Rittern, um sie vor dem Verräter Seyfrid zu warnen. Daher hat mein Vater mir die Ehre übertragen, Eleonore zu töten! Sobald sie heute nach der Messe den Dom verlässt, wird sie sterben. Alle werden mir dankbar sein, wenn ich die Welt von der Hexe befreit habe.«
Das teuflische Funkeln in seinen Augen flößte Rebecca plötzlich entsetzliche Angst ein. »Du bist von einem Dämon besessen«, flüsterte sie.
Kaspar lachte nur. »Ein Dämon? Ja, von dem Dämon, der mich schon mein Leben lang quält: mein falscher Vater. Doch ich werde mich endlich von ihm befreien!«
Plötzlich packte er Rebecca, riss sie erneut zu Boden und begann, ihre Füße mit einem weiteren Strick zu fesseln. Diesmal war ihre Gegenwehr zwecklos.
»Du stößt dich selbst ins Unglück! Dafür wirst du ewige Qualen in der Hölle leiden!«, rief sie.
»Nein, ich streite für die gerechte Sache, und Gott wird mir beistehen!«
Er griff einen der herumliegenden Stofffetzen und beugte sich über Rebeccas Kopf. Zuerst dachte sie, er würde wieder versuchen, sie zu küssen, doch stattdessen stopfte er ihr gewaltsam das Tuch in den Mund. Es schmeckte abscheulich. Dann legte Kaspar ein weiteres Tuch quer über ihren Mund und verknotete es hinter ihrem Kopf. So konnte sie den Knebel nicht mehr ausspucken.
»Mach dir keine Hoffnungen, hier wird dich niemand finden! Einen Schlüssel besitze nur ich.«
Rebecca schrie in den Knebel hinein, doch es hörte sich an wie ein dumpfes Grunzen.
»Ich komme wieder. Wenn du Vernunft angenommen hast und meine Frau wirst, nehme ich dich mit nach Frankreich. Doch falls du dich weigerst, wirst du hier sterben.«
Sein Gesichtsausdruck ließ bei Rebecca keinen Zweifel daran aufkommen, dass er es ernst meinte. Kaspar stieg die Leiter hinunter und ließ die Luke mit einem Knall zufallen.
***
»Die Zeit drängt, denn die Franzosen werden gewiss bald zuschlagen«, sagte Seyfrid entschlossen. »Gerhard, wärest du bereit, nach Köln zu reiten, um Eleonore und den Erzbischof von dem Verrat zu unterrichten? Mich würden sie wohl leider nicht vorlassen.«
»Ich werde sie warnen. Und du begibst dich ins Lager der Engländer, um sie vor den Franzosen zu warnen und das Lösegeld zu verteidigen.«
»Das werde ich gerne tun. Zu schade, dass ich ihnen ohne Waffen und Rüstung nicht weiter von Nutzen sein kann«, sagte Seyfrid bedauernd.
Kathryn musterte ihn, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Nun, da könnte ich dir vielleicht behilflich sein.«
Sie gab Seyfrid, Isolde und Gerhard ein Zeichen, ihr zu folgen, und führte sie aus dem Hauptgebäude über den Hof in den Stall. Das Kloster hielt dort ein paar Milchkühe, ein Ackerpferd und ein Dutzend Hühner. Am hinteren Ende ragte ein Heuhaufen bis an die Decke, der jetzt im Winter an das Vieh verfüttert wurde. Als sie dort angekommen waren, drückte die Äbtissin Seyfrid eine Heugabel in die Hand und deutete auf die Rückseite des Haufens. »Grab dort!«
Seyfrid sah sie verwirrt an, aber tat, wie ihm geheißen. Es dauerte nicht lange, bis die Spitzen der hölzernen Heugabel auf etwas Hartes stießen. Seyfrid griff in das Heu und bekam einen großen, flachen Gegenstand zu fassen. Als er ihn herauszog, klappte ihm die Kinnlade herunter. Das Wappen der Viskenichs prangte auf dem Metallschild. »Der Schild meines Vaters!«, rief er aus.
Seyfrid war als kleines Kind dabei gewesen, als sein Vater ihn in der Schildergasse zu Köln bei einem Meister seines Handwerks in Auftrag gegeben hatte. Der Schildermaler hatte mit feinen Linien den springenden Fisch und das Ulfberht-Schwert auf den schwarzen Untergrund aufgetragen.
»Eckard hatte ihn in weiser Voraussicht auf den Karren gepackt, als er Isolde zu uns brachte«, erklärte die Äbtissin. »Und nicht nur das. Du musst nur noch ein wenig weitergraben.«
In Windeseile warf Seyfrid das Heu beiseite und legte den Helm, das Kettenhemd, die Kettenhose und den Waffenrock seines Vaters sowie eine Lanze und schließlich sogar den Sattel frei.
»Eckard war überzeugt, dass du eines Tages kommen würdest, um das Erbe unseres Vaters anzutreten«, sagte Isolde feierlich.
»Es ist alles hier!«, rief Seyfrid ergriffen aus.
»Nun, fast alles«, wandte Gerhard ein. »Das Schwert deines Vaters ist vom Büttel in das Haus der Bürger gebracht worden, dort aber verschwunden.«
Seyfrid nickte ernst. »Ja, ich hörte es.«
»Ein Schwert von Ulfberht weckt bei so manchem finsteren Gesellen Begehrlichkeiten«, meinte die Äbtissin. »Gott wird den Dieb dafür seinen Zorn spüren lassen.«
»Jetzt fehlt mir nur noch ein Pferd«, sagte Seyfrid und sah kritisch zu dem alten Ackergaul hinüber, der vielleicht noch einen Pflug ziehen, aber gewiss keinen Ritter in die Schlacht tragen konnte.
Doch Gerhard deutete stattdessen auf sein Pferd, das neben dem Eingang des Stalls angebunden stand. »Nimm meines. Alarich ist zwar kein schweres Schlachtross, aber schnell und ausdauernd. Er wird dir von Nutzen sein.«
»Du willst mir wirklich –«, begann Seyfrid, doch Gerhard gebot ihm mit einer Geste zu schweigen, löste die Schnalle seines Gurts, an dem das Schwert hing, und reichte es ihm. Es war eine kostbare Waffe mit aufwendig verziertem Griff. »Das wirst du brauchen, um gegen die Diebe des Lösegelds zu kämpfen!«
»Das ist überaus großzügig von dir«, sagte Seyfrid dankbar.
»Nicht nur das Schicksal von Richard Löwenherz liegt in deinen Händen, auch das von Köln! Nicht auszudenken, was unsere Stadt erwartet, wenn die Franzosen die hunderttausend Silbermark stehlen. Weder der Kaiser noch die Engländer würden uns das verzeihen.«
»Ja, aber wie kommst du zurück in die Stadt?«
»Ich möchte zu Fuß nach Köln gehen«, sagte Gerhard und lächelte Kathryn an. »Dabei werden wunderbare Erinnerungen wach.«
Die Äbtissin warf ihm einen dankbaren Blick zu. Nein, nicht dankbar, liebevoll. In dem Moment begriff Seyfrid, dass zwischen den beiden mehr bestand als nur Freundschaft. Er wusste von Richmodis, dass Gerhard, seit seine zweite Gattin gestorben war, sich nie wieder mit einer Frau in der Öffentlichkeit hatte sehen lassen. Jetzt verstand er auch, warum. Die Liebe zu einer Äbtissin durfte niemals bekannt werden.
So schnell es ging, zog Seyfrid das Kettenhemd und die Kettenhose an und rüstete sich zum Kampf. Zum Schluss reichte ihm Isolde den Helm. Er griff danach, doch sie hielt ihn fest. Seyfrid sah sie fragend an.
»Komm unversehrt wieder, Seyfrid! Ich würde es nicht ertragen, dich erneut zu verlieren, so kurz nachdem du endlich zurückgekehrt bist. Ich habe sonst niemanden mehr.«
Seyfrid beugte sein Knie vor Isolde. »Ich schwöre dir, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um zu dir zurückzukommen.«
Isolde küsste ihn auf die Stirn und setzte ihm den Helm auf. »Gott beschütze dich!«
Seyfrid erhob sich und schwang sich auf das Pferd. »Ich hoffe nur, ich komme nicht zu spät.«
Kathryn persönlich öffnete die Klosterpforte und sah Seyfrid zusammen mit Isolde und Gerhard nach, wie er den Weg entlangpreschte, bis er außer Sicht war. Isolde liefen Tränen die Wangen hinunter. Auch der Äbtissin trat das Wasser in die Augen. Gerhard nahm sie vorsichtig in die Arme.
Kathryn wischte sich über die Augen. »Er wird es schaffen! Ich werde mit allen Schwestern zur Heiligen Jungfrau um Beistand für ihn beten.«
Gerhard löste sich von ihr. »Und ich werde mich jetzt nach Köln aufmachen, um die Königsmutter von dem schändlichen Verrat in Kenntnis zu setzen. Doch vorher werde ich mir Hoengen schnappen und ihn dem Büttel übergeben.«
***
Kaspar Hoengen hetzte zum Haus in der Glockengasse. Die Zeit drängte, er musste jetzt schnell handeln. Nach Seyfrids Flucht war der Plan in Gefahr. Graf de Beauvard war überzeugt, dass Seyfrid von den französischen Rittern auf der Burg Viskenich wusste und er nur geflohen war, um die Engländer zu warnen.
»Wie dürfen nicht zulassen, dass der Betrüger im letzten Moment noch alles vereitelt, Kaspar«, hatte ihm sein Vater heute Morgen noch eingeschärft.
Sein Vater, der Graf! Das klang für Kaspar immer noch fast zu schön, um wahr zu sein. Sein Leben lang hatte er unter Jacob Hoengen gelitten, und dann tauchte im letzten Sommer wie aus dem Nichts Graf de Beauvard auf und eröffnete ihm, dass er sein wahrer Erzeuger sei. Ein Edelmann, der höchstes Ansehen in Frankreich genoss, ja sogar ein enger Vertrauter von König Philipp war.
Louis de Beauvard hatte ihm erzählt, dass seine Mutter Gundula von ihrem Mann Jacob zum Selbstmord getrieben worden sei, weil er ihr nicht verzeihen konnte, dass sie einen anderen liebte. Dabei habe auch er, Louis de Beauvard, Gundula aufrichtig geliebt. Er sei von dem Moment an, als sie seine Burg in Frankreich betreten hatte, in Liebe zu ihr entbrannt, und sie habe Jacob Hoengen für ihn verlassen wollen. Doch der ruchlose Hoengen habe sie mitten in der Nacht von der Burg entführt. Kaspar war entsetzt über das abscheuliche Verhalten des Mannes gewesen, den er bislang für seinen Vater gehalten hatte.
Der Graf hatte versprochen, dass er Kaspar als seinen rechtmäßigen Erben anerkennen und ihn mit auf seine Burg nehmen wolle. Doch zuvor mussten sie noch einen überaus wichtigen Plan für König Philipp ausführen, und er, Kaspar, würde dabei eine entscheidende Rolle spielen.
Kaspar war mehr als bereit dazu und dankte Gott, dass er seine Gebete endlich erhört hatte. Er hatte Jacob Hoengen von klein auf gehasst und schon immer geahnt, dass er nicht sein wirklicher Vater sein konnte. Jetzt hatte er die Bestätigung bekommen. Er war von adligem Blut. Er war der Getreue.
Der Graf würde nun mit seinem Trupp französischer Ritter die Burg Viskenich verlassen und die Engländer umgehend angreifen, bevor sie gewarnt werden konnten. Jetzt lag es an ihm, Kaspar de Beauvard, die schwere Bürde seines Vaters in Köln auf sich zu nehmen. Er würde ihn nicht enttäuschen.
Voller Wut dachte Kaspar an diesen widerlichen Seyfrid von Viskenich. Nicht nur, dass der Kerl seinen Traum vom Leben als Edelmann auf der Burg seines Vaters in Frankreich durchkreuzte, nein, Seyfrid hatte auch noch das Herz von Rebecca erobert. Der Frau, nach der sich Kaspar seit Jahren verzehrte und die ihm versprochen war. Jedenfalls war sich Matthias Quentenberg mit Jacob Hoengen – er konnte ihn nicht mehr als seinen »Vater« bezeichnen – einig gewesen, dass er Rebecca heiraten sollte. Er wusste, er würde Köln heute für immer verlassen und nie mehr zurückkehren, doch Rebecca würde er mit sich nehmen, ob sie wollte oder nicht.
Kaspar betrat das Haus, in dem er aufgewachsen war. Von dem er sein Leben lang angenommen hatte, es wäre das Heim seiner Familie. Welch eine Lüge!
Es war niemand in der Stube, stellte er mit Erleichterung fest und rannte die Treppe hoch. Dort lag sein Dolch in einer Truhe, die einst seiner Mutter gehört hatte. Er betrachtete die Klinge, suchte nach Blutresten und fand keine. Er hatte sie gründlich abgewischt. Dennoch bildete er sich manchmal ein, noch das Blut von Eckard daran zu riechen.
»Was machst du da?«, erscholl die Stimme Jacob Hoengens hinter ihm.
Erschrocken wirbelte Kaspar herum, er hatte ihn nicht kommen hören.
»Habe ich dir nicht aufgetragen, dich anständig zu kleiden? Das Turnier ist heute, und du läufst rum wie einer der verlausten Bettler, die an der Stadtmauer hausen.«
Dann registrierte er den Dolch in der Hand von Kaspar. »Was hast du mit dem Dolch vor? Willst du ihn bei dir tragen, damit du dich endlich wie ein Mann fühlst? Das wird dir nichts nützen, du bleibst trotzdem der gleiche Weichling. Du kommst einfach zu sehr nach deiner Mutter. Ich hätte dich schon längst –«
Weiter kam er nicht. Kaspar stürzte sich mit einem Wutschrei auf ihn und stach ihm den Dolch bis zum Heft in die Brust. Augenblicklich knickten Jacob Hoengen die Beine weg. Noch im Fallen starrte er Kaspar ungläubig an, öffnete den Mund, doch bekam keinen Laut heraus. Er schlug hart auf dem Boden auf.
Rasend vor Zorn stach Kaspar immer wieder auf den leblosen Körper ein. Erst als sein Arm erlahmte, ließ er sich neben den Leichnam fallen und brach in hysterisches Gelächter aus, um gleich darauf von einem Weinkrampf geschüttelt zu werden. Es dauerte Minuten, ehe er sich wieder beruhigt hatte.
Dann erhob er sich ruckartig. Der Auftrag! Er durfte seinen Vater nicht enttäuschen.
***
Seyfrid galoppierte auf Alarich zum Hürther Feld. Wieder ein Kettenhemd zu tragen, fühlte sich für ihn ungewohnt und vertraut zugleich an.
Gerhard hatte nicht zu viel versprochen, das Pferd war schnell wie der Wind. Dennoch kam Seyfrid der Weg schier endlos vor. Endlich erblickte er in der Ferne die Zelte eines Lagers und bunte Wimpel, die im Wind flatterten. Das Banner auf dem höchsten Zelt zeigte zwei goldene Löwen auf rotem Grund – das Wappen des Richard Löwenherz. In der Mitte des Lagers konnte er einige große Pferdefuhrwerke ausmachen, die dicht beieinanderstanden. Dort befand sich der größte Schatz, den es auf dieser Welt gab: hunderttausend Silbermark.
Seyfrid zügelte sein Pferd und näherte sich dem Lager im Trab, um seine friedlichen Absichten zu demonstrieren. Offensichtlich fühlten sich die Engländer hier in der Nähe des freundlich gesinnten Kölns sehr sicher, denn sie hatten nur wenige Wachen aufgestellt, wie er feststellte. Das konnte ein tödlicher Fehler sein.
Als Erster entdeckte ihn ein Soldat mit einem breiten Schnurrbart. Er rief den anderen Wachen etwas zu, und drei von ihnen eilten herbei. Sie versperrten den Weg und richteten ihre Lanzen gegen Seyfrid. »Halt, keinen Schritt weiter! Gebt Euch zu erkennen!«, befahl die Wache auf Englisch.
Seyfrid hatte im Heiligen Land oft mit englischen Rittern zu tun gehabt und war ihrer Sprache einigermaßen mächtig. Er zügelte sein Pferd und hob eine Hand zum Gruß. »Ich bin Ritter Seyfrid von Viskenich und bin gekommen, um Euch zu warnen. Französische Ritter wollen Euch überfallen, um das Lösegeld zu rauben!«
Die Wachen tauschten fragende Blicke aus. Dann schnarrte der Mann mit dem Schnurrbart einen weiteren Befehl und rannte ins Lager, während die anderen Seyfrid misstrauisch beäugten. Wenige Minuten später näherte sich ein hochgewachsener Mann mit langem, wallendem Haar und einem betont aufrechten Gang. Er trug kein Kettenhemd, sondern sehr exquisite Kleidung.
Er blieb wenige Schritte vor Seyfrid stehen, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, und begutachtete ihn kritisch. Doch dann entspannten sich seine Gesichtszüge. »Seyfrid von Viskenich! Bei Gott, Ihr seid es wirklich!«
Nun war es an Seyfrid, überrascht auszurufen. »Bischof Hubert Walter! Welch unerwartete Freude, Euch zu treffen!«
Er hatte den Bischof von Salisbury das letzte Mal bei der Schlacht von Arsuf gesehen. Doch schon bei der Eroberung von Akkon hatte er den charismatischen Engländer kennen- und schätzen gelernt. Graf Martin von Saferau war mit Hubert Walter weitläufig verwandt gewesen, sodass Seyfrid den Bischof von Salisbury während des Heerzugs regelmäßig getroffen hatte. Deshalb hatte er sich auch nach Graf Martins Tod an Sir Hubert gewandt, um den Vorwurf gegen Louis de Beauvard vorzutragen, sie während der Schlacht schmählich im Stich gelassen zu haben. Hubert Walter musste die Beschwerde damals an König Philipp weiterleiten, weil nur der französische Monarch das Recht hatte, über seinen Vasallen zu richten. Doch es stand Aussage gegen Aussage, und König Philipp hatte wenig überraschend Graf de Beauvard Glauben geschenkt und ihn für unschuldig erklärt. Seyfrid konnte sich nur zu genau erinnern, wie sehr Hubert Walter das Urteil bedauert hatte.
»Nun, genau genommen bin ich seit Kurzem Erzbischof von Canterbury, aber das konntet Ihr wohl noch nicht wissen«, schmunzelte er. Dann wandte er sich an die Wachen. »Ich kenne den Mann, er hat unter König Richard tapfer im Heiligen Land gekämpft.«
Der Satz genügte, um die geradezu ehrfürchtigen Blicke der Männer auf sich zu ziehen. Seyfrid stieg vom Pferd und musste feststellen, dass er das Laufen in voller Rüstung nicht mehr gewohnt war.
»Was habt Ihr für eine Nachricht?«, fragte der Erzbischof. »Die Wache sagte mir, Ihr wolltet uns warnen.«
Schlagartig wurde Seyfrid wieder ernst. »Ein Trupp französischer Ritter will das Lösegeld für König Richard rauben. Ich kann leider nicht genau sagen, wie viele es sind und wann sie angreifen, doch es wird sicher bald sein. Wie viel Mann stehen zu Eurer Verfügung?«
Der Gesichtsausdruck des Erzbischofs hatte sich nur um eine Nuance verdüstert. Die Beherrschung zu verlieren war bei den Engländern schon immer verpönt gewesen, fiel Seyfrid wieder ein.
»Hundert Ritter, sechzig Fußsoldaten und fünfzig Bogenschützen sind im Lager. Hundert weitere Ritter und vierzig Fußsoldaten befinden sich mit Ihrer Majestät, der Königsmutter Eleonore, in Köln, so lange habe ich hier die Befehlsgewalt.«
»Dann möchte ich Euch den dringenden Rat geben, von Eurer Befehlsgewalt umgehend Gebrauch zu machen.«
Einen kurzen Moment verharrte der Blick des Erzbischofs auf Seyfrid, dann wandte er sich um und rief laut den Alarm aus. Er schritt zügig auf ein großes Zelt in der Mitte des Lagers zu, aber ohne übertriebene Hast. Auch dieses Verhalten hatte Seyfrid nur allzu gut in Erinnerung: In kritischen Situationen zu rennen, hätten die englischen Adligen als ein Zeichen von Feigheit gewertet.
Aus den Zelten strömten umgehend Männer und wirkten zunächst etwas überrumpelt, doch Sir Hubert gab zielgerichtet seine Befehle. Die Fußsoldaten bewaffneten sich mit langen Lanzen und bildeten in kürzester Zeit einen Halbkreis um das Lager in Richtung der dem Duffesbach abgewandten Seite. Einige Ritter ließen sich umgehend von ihren Knappen die Kettenhemden und Kettenhosen anlegen, Helme aufsetzen und die Waffen bringen. Eine Handvoll Ritter folgten auf einen weiteren Befehl hin dem Erzbischof in sein Zelt. Seyfrid nahm seinen Helm ab und begab sich ebenfalls hinein.
»Ihr noblen Herren«, begann Sir Hubert ohne Umschweife, »dies ist Ritter Seyfrid von Viskenich, mit dem ich die Ehre hatte, im Heiligen Land gegen die Sarazenen zu kämpfen. König Richard persönlich hat diesen tapferen Edelmann zum Ritter geschlagen. Wir können ihm also vertrauen.«
Ein anerkennendes Gemurmel erhob sich unter den Rittern.
»Er überbrachte mir soeben die Nachricht, dass ein Trupp französischer Ritter beabsichtigt, uns zu überfallen, um das Lösegeld zu rauben. Wir wissen weder etwas über die Anzahl der Feinde noch über den Zeitpunkt des Angriffs. Wir werden uns umgehend rüsten und bereit sein, um sie gebührend zu empfangen. Die Fußsoldaten werden einen Ring um die Wagen mit dem Lösegeld bilden, die Ritter nehmen im Halbkreis Aufstellung um das Lager. Dahinter halten sich die Bogenschützen bereit. Noch Fragen, meine edlen Herren?«
Ein kräftiger Mann mit einem kantigen Kiefer, der ein Einhorn als Wappen auf dem Waffenrock führte, erhob das Wort: »Ist bekannt, wer die Franzosen anführt?«
Sir Hubert blickte Seyfrid fragend an.
»Ich weiß nur, dass Graf Louis de Beauvard unter ihnen ist«, erklärte Seyfrid.
»De Beauvard? Ha, der Speichellecker von König Philipp persönlich! Ich hoffe, ich bekomme ihn vor meine Lanze«, rief der Mann.
»Nun, Sir William, die Gelegenheit mögt Ihr wohl bald bekommen«, sagte der Erzbischof, dann ließ er noch einmal seinen Blick über die versammelten Ritter gleiten. »Meine Herren: für König Richard von England!«
»Für König Richard von England!«, wiederholten die Anwesenden im Chor.
***
Auf dem Fußmarsch vom Kloster bis nach Köln schritt Gerhard vom Hof kräftig aus und schaffte es in einer halben Stunde bis zur Stadtmauer. Heute sollte das Turnier stattfinden, und selbst der heilige Petrus schien ein Einsehen zu haben und ließ die Sonne vom blauen Himmel strahlen.
Gerhard hatte sich auf dem Weg genau überlegt, was er tun wollte. Einfach einen Bruder der Richerzeche festnehmen zu lassen, würde ihm wohl selbst auch Unannehmlichkeiten bescheren, sogar in Anbetracht der Schandtaten von Jacob Hoengen. Nicht wenige Brüder würden es ihm verübeln, denn der Zusammenhalt untereinander und vor allem gegen Feinde von außen war hoch. Er hatte daher beschlossen, Hoengen zur Rede zu stellen und ihn aufzufordern, sich selbst dem Büttel zu stellen. Wenn er aufrichtig bereute, könnte er vor Gericht vielleicht noch Gnade finden.
Doch egal wie Hoengens Antwort ausfallen würde, Gerhard würde sich danach umgehend zum Palast des Erzbischofs begeben, um die Königsmutter Eleonore über den schändlichen Plan König Philipps in Kenntnis zu setzen. Aber auch hier musste er auf der Hut sein, wie viel er über die Beteiligung von Dietrich von der Mühlengasse sagen durfte. Er kannte den alten Halunken lange genug, um zu wissen, dass er peinlichst darauf geachtet haben würde, nicht mit dem Verrat in Verbindung gebracht werden zu können. Deshalb war es so wichtig, Hoengen als Zeugen in Gewahrsam des Büttels zu haben. Wenn man dem Glashändler, statt ihn hinzurichten, das Exil anböte, würde er sicher gegen Dietrich von der Mühlengasse aussagen.
Als Gerhard das Stadttor passiert hatte, tastete er nach seinem Dolch, den er unter dem Mantel trug. Das kalte Metall gab ihm Zuversicht, dass Hoengen nicht auf die dumme Idee kommen würde, ihn anzugreifen. Insgeheim ärgerte Gerhard sich über sich selbst, denn er hielt sich für einen guten Menschenkenner, aber nun hatte er schon zweimal bei seiner Einschätzung versagt: das erste Mal bei Ulrich von Schwarzenberg, der sich als Seyfrid von Viskenich entpuppt hatte, und jetzt auch noch bei Jacob Hoengen.
Zwar hatte er den ruppigen Glashändler noch nie sonderlich geschätzt, aber sein Verhalten hatte er für übertriebenen Ehrgeiz gehalten, unbedingt eine wichtigere Rolle in der Richerzeche zu spielen. Er hätte Hoengen nicht zugetraut, an einem derartigen Verrat beteiligt zu sein. Natürlich ging es um viel Geld, denn auch der Glashändler würde wohl einen ordentlichen Batzen erhalten, aber eigentlich war Hoengen jemand, der stets auf Sicherheit bedacht war, und das Naturell eines Spielers, der viel riskierte, lag ihm fern.
Doch Jacob Hoengen stellte das kleinere Problem dar, wie Gerhard sich bewusst war, viel mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm Dietrich von der Mühlengasse. Er kannte dessen Skrupellosigkeit nur zu genau, und es gab schon seit vielen Jahren eine tiefe Abneigung zwischen ihnen beiden. Wenn Gerhard jemand den ungeheuerlichen Plan zutraute, das Lösegeld für König Richard zu stehlen, dann ihm.
Doch diesmal hatte Dietrich zu viel gewagt, er hatte sich angreifbar gemacht. Gerhard war fest entschlossen, seinen ewigen Widersacher wegen Hochverrats dem Kaiser zu übergeben. Er würde darauf drängen, dass Heinrich persönlich das Urteil über Dietrich fällte. Sicher würde Adolf von Altena in seiner Selbstherrlichkeit zunächst darauf bestehen, dass die Sache in seine Gerichtsbarkeit fallen solle, aber der Erzbischof war viel zu sehr auf Gerhard angewiesen, als dass er ihm seinen Willen verwehren könnte.
Gerhard erreichte wenig später Hoengens Haus. Die Straßen Kölns waren erstaunlich leer, offensichtlich hatte es die meisten Einwohner zum Dom getrieben, wo die heilige Messe in Anwesenheit der Königsmutter Eleonore gefeiert wurde, oder gleich auf den Alter Markt, wo das Turnier am Nachmittag stattfinden sollte. Niemand wollte sich das Spektakel entgehen lassen.
Das Haus von Hoengen in der Glockengasse lag eingepfercht zwischen einem Glockengießer und einem Töpfer. Gerhard erinnerte sich unwillkürlich, wie in der Richerzeche hinter vorgehaltener Hand über den Glashändler gespottet wurde, weil er sich kein besseres Haus leisten konnte.
Hoengen hatte sich über Jahre bemüht, in die Bruderschaft aufgenommen zu werden, bis sie ihm schließlich gnädig die Gunst erwiesen hatten. Er hatte den wichtigsten Mitgliedern damals Geschenke gemacht, auch Gerhard. Dabei wussten alle, dass sich Jacob Hoengen dafür in Schulden gestürzt hatte und es fraglich war, ob er sie je würde zurückzahlen können. Doch schließlich hielt es die Mehrheit der Richerzeche für vorteilhaft, einen Glashändler in ihrer Mitte zu haben, von dem sie günstig feine Glaswaren beziehen konnten. Damals hätte niemand ahnen können, zu welch schrecklichen Taten er fähig war.
Die Glocken des Doms begannen gerade zur Messe zu rufen, als Gerhard anklopfte. Trotz des Läutens vernahm er ein dumpfes Geräusch aus dem Inneren des Hauses. Er wartete eine Weile, klopfte dann erneut und energischer. Seine Geduld wurde schließlich belohnt, jemand zog die Tür einen Spalt auf. Das Gesicht von Kaspar Hoengen erschien. Der arme Junge hatte immer unter der harten Hand seines Vaters zu leiden gehabt.
Gerhard ersparte sich die Begrüßung und fragte: »Ist dein Vater zu Hause?«
Kaspar zögerte kurz. »Ja, aber er ist in seiner Kammer, er fühlt sich nicht so gut.«
»Ich muss ihn unbedingt sprechen!« Gerhard wartete die Erwiderung gar nicht erst ab, sondern schob die Tür mit Nachdruck auf und trat ein.
Er war noch nie in Jacob Hoengens Haus gewesen. Die Einrichtung entsprach dem, was er erwartet hatte: Hoengen versuchte, mit Schränken, einem großen Tisch und verzierten Stühlen Eindruck zu schinden, doch sah man, dass sie nicht sehr teuer gewesen waren. Es schienen keine Mägde oder Knechte da zu sein, was Gerhard zu der Vermutung brachte, dass sie alle schon auf dem Alter Markt dem Turnier harrten.
Kaspar schloss die Haustür und wies Gerhard mit ausgestrecktem Arm den Weg zur Treppe. »Mein Vater ist oben. Bitte nach dir!«
Gerhard folgte der Aufforderung und erklomm die schmalen Stufen in den ersten Stock. Oben angekommen, sah er sich um und erstarrte. Auf dem Boden lag Jacob Hoengen bewegungslos in einer großen Blutlache. Sein lebloser Körper war mit Einstichen übersät. Entsetzt drehte Gerhard sich zu Kaspar um. »Um Himmels willen, was –«
Weiter kam er nicht. Kaspar hatte ihm ein Messer in den Bauch gerammt.
Gerhard spürte einen glühend heißen Schmerz, der sich durch seine Eingeweide fraß. Der Boden unter seinen Füßen begann zu schwanken, und er stürzte.
»Es ist deine eigene Schuld! Was hast du auch hier verloren?«, hörte er Kaspar sagen. »Du wirst mich nicht aufhalten, niemand kann das. Ich werde meinen Auftrag erfüllen und die Königsmutter töten. Die Hexe wird vor den Toren des Doms ihr schändliches Dasein aushauchen. König Philipp wird mich dafür reich belohnen.«
Gerhard wand sich vor Schmerzen auf dem Boden. Er vernahm die Worte und konnte sie dennoch kaum glauben. Dann wurde alles schwarz um ihn.
***
Im Lager auf dem Hürther Feld hatten die Knappen ihren Herren in Windeseile die Waffen gebracht und die Pferde gesattelt. Die meisten der Ritter befanden sich bald hoch zu Ross, bereit, das Lösegeld für König Richard mit ihrem Leben zu verteidigen.
Seyfrid saß auf Alarich, neben ihm befand sich der Erzbischof auf einem prächtigen Schimmel. Der Engländer trug wie Seyfrid ein langes Kettenhemd, das ihm bis auf die Oberschenkel fiel, und eine Hose mit Füßlingen, die ebenfalls aus Tausenden Metallringen bestand. Nur waren sie ungleich feiner und dichter gearbeitet als seine eigenen. Darüber hatte Sir Hubert einen Waffenrock angelegt, den sein Wappen zierte: ein goldener Löwe auf grünem Grund. Seinen Helm trug er noch unter dem Arm und spähte in die Ferne.
»Nun, Seyfrid, wo würdet Ihr angreifen, wenn Ihr an der Stelle unserer Gegner wäret?«
Die Frage hatte sich Seyfrid längst selbst gestellt, und so deutete er, ohne zu zögern, auf den Wald links vor ihnen. »Von dort. Sie könnten zwar über das offene Feld vor uns mehr Schwung für den Angriff mitnehmen, aber dann würden wir sie schon früh bemerken. Im Wald kämen sie hingegen ungesehen heran und hätten für einen Überraschungsangriff nur eine kurze Distanz bis zum Lager zu überwinden.«
Sir Hubert nickte bestätigend. »Ja, das denke ich auch.«
»Außerdem würde ich eine kleine Abteilung über den Bach schicken, um uns in die Zange zu nehmen.«
Der Engländer hob erstaunt die Augenbrauen und musterte dann den Duffesbach, der sich träge hinter dem Lager dahinschlängelte. Er war nicht sehr breit, aber die steile Uferböschung mehr als mannshoch. »Man kann das Ufer leicht mit ein paar Mann verteidigen, es wäre sehr schwer, dort durchzubrechen«, erwiderte er.
»Als Angreifer würde ich annehmen, dass genau deshalb dort keine Soldaten aufgestellt würden, und es an der Stelle versuchen.«
Sir Huberts Blick wanderte vom Bach zu Seyfrid und wieder zurück. Dann wandte er sich an den Ritter mit dem markanten Kinn, der nur wenige Schritte neben ihm stand. »Sir William, postiert Euch mit zehn Mann entlang des Flussufers!«
»Ja, Eminenz!«, bestätigte dieser den Befehl und eilte los.
Der Erzbischof von Canterbury sah über die Schulter und rief: »Die Bogenschützen vor!«
Fünfzig Männer in der Kleidung einfacher Leute setzten sich in Bewegung und bildeten eine gerade Linie vor dem Lager. Sie zogen die Sehnen auf ihre Langbogen, die Köcher mit gut zwei Dutzend Pfeilen hingen an ihren Gürteln. Jeder von ihnen bohrte außerdem einige Pfeile senkrecht vor sich in die Erde. So waren die Pfeile griffbereit, um sie rasch nacheinander abzuschießen.
Seyfrid blickte die Bogenschützen skeptisch an. »Nun, ich bin oft mit dem Bogen auf der Jagd gewesen, aber was können Pfeile gegen Rüstungen ausrichten? Selbst die Pfeile von Saladins Bogenschützen vermochten unsere Kettenhemden im Heiligen Land kaum zu durchdringen.«
Sir Hubert erlaubte sich ein kurzes Lächeln. »Mit Verlaub, aber Ihr könnt deren kleine Bogen nicht mit unserem englischen Langbogen vergleichen. Er ist so lang, wie ein Mann hoch ist, und die Sehne viel schwerer auszuziehen, doch dafür ist seine Kraft gewaltig. Die Pfeile können die Rüstungen mühelos durchschlagen.«
Seyfrids Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er nicht überzeugt war.
Der Erzbischof deutete auf die Männer. »Ihr seht hier die besten Bogenschützen Englands. Sie treffen einen rennenden Hasen auf fünfzig Schritt Entfernung …« Er beugte sich leicht zu Seyfrid vor und fügte amüsiert hinzu: »Und einen französischen Ritter auf hundert Schritt.«
In dem Moment nahm Seyfrid eine Bewegung im Wald war. Es war mehr das kurze Aufleuchten eines bunten Stück Stoffs, als dass er wirklich etwas erkannt hatte. »Den Beweis werden sie wohl bald antreten können«, sagte er.
»Das hoffe ich doch wohl, dann könnte –« Der Erzbischof von Canterbury führte den Satz nicht zu Ende, denn in dem Moment brachen zweihundert Ritter aus dem Wald hervor. Im gestreckten Galopp und mit angelegten Lanzen preschten sie über die Wiese. Die Hufe ihrer Pferde trommelten dumpf auf dem Boden, Schreie und das Klirren von Metall dröhnten durch die Luft.
Sir Hubert zögerte nicht einen Augenblick. »Lanzen anlegen!«, befahl er seinen Rittern, dann hob er den Arm. »Bogenschützen fertig! Warten!«
Die Männer spannten ihre Langbogen und hielten sie schräg nach oben. Seyfrid konnte die Anspannung in den Gesichtern der Schützen erkennen. Die Sehnen zu ziehen war ein unerhörter Kraftakt, und dennoch hielten sie ihre Langbogen absolut ruhig.
Sir Hubert beobachtete die heranpreschenden Ritter genau. Seyfrid fühlte, wie das Herz in seiner Brust immer schneller hämmerte. Lange verdrängte Bilder von Schlachten im Heiligen Land durchzuckten seinen Kopf, von blutüberströmten Körpern, zu Grimassen verzerrten Gesichter, das Schreien von tödlich verwundeten Menschen, das panische Wiehern der Pferde.
Dann kam endlich der erlösende Befehl: »Schießt!«
Ein Pfeilhagel erhob sich sirrend in die Luft und prasselte im weiten Bogen auf die französischen Ritter nieder, die noch gut hundertfünfzig Schritt entfernt waren. Die Wucht der Pfeile durchschlug die Kettenhemden tatsächlich, und rund ein Dutzend Ritter fielen aus dem Sattel. Innerhalb eines Wimpernschlags hatten die Bogenschützen wieder Pfeile angelegt und erneut die Sehnen gespannt. Ein weiterer Regen aus Pfeilen ergoss sich über die Franzosen. Wieder forderten sie ihren tödlichen Tribut.
Die Anspannung stieg bei Seyfrid ins Unerträgliche, und er wusste, dass es den anderen Rittern genauso erging. Die Pferde tänzelten nervös, der Atem ging stoßweise.
Als er die Gesichter der Feinde erkennen konnte, riss Sir Hubert die Faust mit der Lanze nach oben und brüllte: »Attacke!«
Die Reihe der englischen Ritter preschte geschlossen vor und machte sich auf einen harten Aufprall mit dem Gegner gefasst. Seyfrid gab Alarich die Sporen, sein Ross machte einen Satz vorwärts und ging in gestreckten Galopp über. Er legte die Lanze an und nahm einen Ritter mit einem roten Hirsch auf dem Schild ins Visier.
Seyfrid spürte die Muskeln seines Pferdes, lenkte es nur noch mit dem Druck seiner Schenkel, wurde eins mit dem Tier. Alles um ihn herum verschwand, die anderen Ritter, das Gebrüll, der Geruch aus Angst und Schweiß. Er sah nur noch sein Ziel vor Augen, als wäre er allein mit seinem Gegner. Seinen Schild ließ er absichtlich etwas sinken und gab damit eine Schwachstelle frei.
Der französische Ritter legte seine Lanze an und zielte auf die Lücke, um Seyfrids Hals zu treffen. Seyfrid ahnte, dass sein Gegner sich über die Dummheit freute und sich schon siegessicher wähnte. Erst im allerletzten Moment senkte Seyfrid seine Lanze und riss gleichzeitig den Schild nach oben. Durch die Bewegung glitt die Waffe seines Gegners daran ab, hinterließ zwar eine große Delle im Schild, verwundete Seyfrid aber nicht. Die metallbeschlagene Spitze seiner Lanze hingegen bohrte sich genau auf den Nasenschutz des Helms, zwischen die Augen des französischen Ritters, und riss dessen Kopf mit Wucht nach hinten. Seyfrid hatte keine Zweifel, dass das Genick seines Gegners gebrochen und der Mann schon tot war, bevor er auf dem Boden aufschlug.
Im nächsten Augenblick hatte Seyfrid sein Pferd in eine neue Richtung gelenkt und hielt im Galopp auf einen Ritter mit aufwendig verziertem Helm und Schild zu. Wer immer es war, er musste sehr reich sein, um sich diese Schmiedekunst leisten zu können. Es wird dir nichts nützen, dachte Seyfrid grimmig, und legte erneut die Lanze an.
Sein Gegner hielt offensichtlich aus Furcht den Schild viel zu hoch, als dass er noch ernsthaft mit seiner Lanze hätte zielen können. Seyfrid traf ihn auf die Brust, sodass der Franzose aus dem Sattel gehoben wurde. Hart schlug er auf und stieß einen lauten Schrei aus.
Seyfrid zügelte sein Pferd neben dem am Boden liegenden Mann, der laut stöhnte, und senkte seine Lanze auf dessen Kopf. Die ritterliche Ehre gebot es, dem besiegten Gegner Gnade zu gewähren, wenn er sich ergab. Die Waffen, die Rüstung und das Pferd des Unterlegenen gehörten dann dem Sieger. Seyfrid wusste von genügend Fällen, wo der Besiegte außerdem gefangen genommen und erst gegen ein Lösegeld freigelassen worden war, doch danach stand Seyfrid nicht der Sinn. »Ergib dich, dann verschone ich dein Leben!«, rief er.
»Grace, Monsieur!«, flehte der französische Ritter.
Seyfrid hob seine Lanze, um ihm Gnade zu gewähren, doch in dem Moment traf ihn ein harter Schlag in den Rücken. Er wurde kopfüber nach vorn geschleudert und verlor das Gleichgewicht. Er konnte sich gerade noch im Fallen drehen, um nicht bäuchlings aufzuschlagen, und landete auf der Schulter.
Ein Angriff von hinten galt als niederträchtig und eines Ritters unwürdig. Seyfrid konnte kaum glauben, dass es trotzdem jemand getan hatte. Sein Rücken sowie die linke Schulter schmerzten heftig, dennoch rappelte er sich, so schnell er konnte, wieder hoch. Mit dem schweren Kettenhemd und der Kettenhose war das ein wahrer Kraftakt, doch er stand innerhalb weniger Augenblicke wieder auf den Füßen. Die Lanze war weit von ihm geflogen und außerhalb seiner Reichweite, deshalb zog er das Schwert und hielt es abwehrbereit in die Richtung seines Gegners.
Der hinterhältige Angreifer hatte sein Pferd gewendet. Seyfrid erblickte das Wappen auf dem Schild: Es war ein weißer Hahn, umrahmt von Eichenblättern. »Graf Louis de Beauvard!«, rief er, »ich wusste, dass du niederträchtig bist, aber dass du auch ein Feigling bist, der von hinten angreift, hätte ich nicht einmal von dir erwartet.«
»Ich werde dich töten, von Viskenich!«, erschallte die Antwort.
»Das hast du schon einmal versucht, und es ist dir nicht gelungen!«
Mit einem Wutschrei gab der Graf seinem Pferd die Sporen und legte seine Lanze an. Seyfrid ging in Stellung, das Schwert hielt er mit beiden Händen. Er konzentrierte sich ganz auf die Lanze seines Gegners. Das Schlachtross kam genau auf ihn zugesprengt. De Beauvard wollte ihn am Kopf treffen. Der Eisenspitze auf der Lanze würde Seyfrids Helm nicht standhalten können und seinen Schädel glatt durchbohren.
Der Graf war siegesgewiss, denn er rechnete offenbar damit, dass Seyfrid versuchen würde, seitlich auszuweichen. Doch Seyfrid wartete bis zur letzten Sekunde und machte stattdessen einen raschen Sprung rückwärts. Er parierte mit einem Schlag seines Schwerts den Lanzenstoß, der wirkungslos an seinem Kopf vorbeiging, während das Pferd haarscharf an ihm vorbeigaloppierte. Seyfrid wirbelte um seine eigene Achse und hieb gegen den Arm des Grafen. Zwar durchdrang das Schwert nicht das dichte Kettenhemd, dennoch ließ de Beauvard vor Schmerz die Lanze fallen.
Es dauerte etwas, bis der Graf sein Pferd angehalten und gewendet hatte. Von dem unerwarteten Schlag hatte er sich rasch erholt und zog sein Schwert aus der Scheide. Erneut trieb er das Pferd an, um seinen Gegner endgültig zu töten. Seyfrid wusste, dass er de Beauvard nicht ein zweites Mal mit derselben Parade übertölpeln konnte. Er besann sich einer List, derer er sich im Heiligen Land einmal bedient hatte, die aber sehr riskant war. Doch es war seine einzige Chance.
Erneut ging er leicht in die Knie, packte sein Schwert mit beiden Händen und machte sich bereit. Er wusste, dass de Beauvard ihn diesmal einfach über den Haufen reiten wollte. Vom Gewicht des heranrasenden Schlachtrosses würde Seyfrid zu Tode getrampelt werden, ein Tritt des schweren Tieres konnte den Schädel eines Menschen zertrümmern, da würde auch der Helm nichts nützen. Seyfrid sah bereits die wild verdrehten Augen des Pferds, als de Beauvard in der Gewissheit, gleich einen tödlichen Streich zu landen, einen kreischenden Jubelruf ausstieß.
Im allerletzten Moment täuschte Seyfrid einen Schritt nach links an, sprang dann aber zur rechten Seite und wurde fast noch vom Vorderhuf gestreift. Er ging auf ein Knie und duckte sich weit nach unten, um nicht vom Schwert des Angreifers getroffen zu werden, und hieb nach der Fessel des Tieres. Der heftige Aufprall hätte ihm die Waffe beinah aus den Händen gerissen, doch er hielt sie eisern fest. Seyfrid spürte den Schmerz durch seine Arme bis ins Mark rasen. Die Klinge durchtrennte die Sehnen des Hinterlaufs, und das Pferd kam augenblicklich zu Sturz. De Beauvard wurde im hohen Bogen aus dem Sattel geschleudert. Er landete mit einem lauten Krachen einige Schritte weiter und überschlug sich zweimal.
Seyfrid richtete sich unter Aufbietung aller seiner Kräfte wieder auf. Seine linke Schulter schmerzte durch die erneute Belastung noch heftiger. Er warf einen raschen Blick zum Kampfgetümmel und registrierte, dass sich die Schlacht in Richtung des Bachs verlagert hatte, sodass er und der Graf sich schon weit abseits befanden. Er schätzte, dass kaum noch Gefahr bestand, von einem weiteren französischen Ritter attackiert zu werden.
Langsam ging er auf Louis de Beauvard zu, der stöhnend auf dem Rücken lag. Der Graf hatte beim Sturz seinen Helm verloren. Als Seyfrid schließlich über ihm stand, starrten ihn zwei hasserfüllte Augen an.
»Louis de Beauvard, du bist deines Standes unwürdig! Ein Angriff von hinten ist ehrlos, aber darin hast du ja Erfahrung.«
De Beauvard stieß einen lästerlichen Fluch aus.
»Du hast den wehrlosen Abdul Al-Aziz im Heiligen Land erschlagen und in Köln den unbewaffneten Grimmel erstochen«, fuhr Seyfrid fort. »Was für Heldentaten!«
Erneut ergossen sich Beleidigungen auf Französisch über ihn. Als Seyfrid jedoch die Spitze seines Schwerts auf die Kehle des Grafen senkte, verstummte dieser.
»Sag mir, wie viel hast du Jacob Hoengen versprochen, damit er die Morde an Gottfried Hackenbroich, der Witwe Hackenbroich und dem Kastellan Eckard begeht?«
Zu seiner Überraschung fing der Graf höhnisch an zu lachen. »Du glaubst, es war der alte Hoengen? Du dreckiger kleiner Hundsfott liegst um eine Generation falsch.«
In dem Moment durchzuckte es Seyfrid wie ein Blitz. »Der Mörder ist nicht Jacob Hoengen, sondern sein Sohn Kaspar!«
»Ah, jetzt begreifst du endlich! Kaspar ist ein glühender Anhänger König Philipps. Er nennt sich selbst ›der Getreue‹.«
»Aber warum?«
»Weil er glaubt, dass er mein Sohn ist!«
»Dein Sohn?«, fragte Seyfrid verblüfft.
De Beauvard schien trotz seiner misslichen Lage erheitert zu sein. »Seine schwangere Mutter begleitete vor über zwanzig Jahren ihren lächerlichen Ehegatten auf einer Handelsreise, da sie unbedingt Paris sehen wollte. Sie besuchten meine Burg, weil der Trottel ernsthaft glaubte, mir seine Gläser verkaufen zu können. Doch ich nahm mir das Wertvollste, was er dabeihatte – seine Frau.«
»Du warst schon immer ein hinterhältiges Schwein!«, rief Seyfrid wütend.
»Ich war überaus großzügig und habe Hoengen, nachdem er mich beschimpft hatte, am Leben gelassen, anstatt ihn am Turm aufzuknüpfen.«
»Du hast sein armes Eheweib mit Gewalt genommen. Ich hörte, sie habe sich selbst ertränkt, als ihr Sohn noch klein war. Sie konnte die Schande nicht mehr ertragen.«
»Was kann ich dafür, wenn die dumme Gans sich umbringt? Aber sie hat mir einen Gefallen getan, weil ich wusste, dass sie inzwischen ein Kind haben musste. Als ich im letzten Sommer das erste Mal nach Köln kam, fand ich natürlich rasch heraus, dass es ein Junge namens Kaspar war. Jacob Hoengen hat ihn immer schlecht behandelt, fast wie einen Bastard. Oh, Kaspar war ganz begeistert, als ich ihm weismachte, dass er mein Sohn und von adligem Geblüt sei.«
»So hast du Kaspar also dazu gebracht, die Morde zu begehen.«
»Für seinen lieben Herrn Papa tat er das doch gerne.«
»Aber Kaspar ist nicht der Kopf hinter dem Verrat, dafür ist er viel zu einfältig und unbedeutend. In Wahrheit hat Dietrich von der Mühlengasse sich das alles ausgedacht und König Philipp einen Plan unterbreitet, wie er an das Lösegeld von König Richard kommen könnte. Er würde dem englischen Tross ein Lager anbieten, wo ihr euch ungesehen anschleichen und das Geld im Handstreich erobern könntet.«
»Das hast du also rausbekommen«, stellte der Graf fest, und es schwang so etwas wie Anerkennung in seiner Stimme mit. »Es ist alles bestens gelaufen – bis du aufgetaucht bist. Warum konntest du nicht in dem Loch bleiben, in dem du dich verkrochen hattest?«
Seyfrid staunte über sich selbst, dass er so ruhig bleiben konnte, als er weitersprach. »Ihr brauchtet unbedingt die Burg Viskenich, denn sie ist der einzige Ort, an dem sich ein Tross Ritter unentdeckt in der Nähe des Hürther Felds verstecken konnte, um von dort den Überfall zu begehen. Mein Vater steckte in Geldnöten, und daraufhin wurde Hackenbroich geschickt, um ihm einen vermeintlich großzügigen Kredit zu gewähren. Hackenbroich sollte anschließend meinen Vater mit Arsenik vergiften, um die Burg seines Schuldners zu übernehmen. Doch was ist dann schiefgelaufen, dass auch Hackenbroich sterben musste?«
»Die fette Ratte wurde zu gierig. Auf einmal wollte er einen doppelt so hohen Anteil von dem Lösegeld haben als abgemacht. Er drohte damit, sonst alles zu verraten. Das war sein Todesurteil.«
»Also wurden mein Vater und Hackenbroich zu einer Feier eingeladen, und es war klar, dass sie in Streit geraten würden. Dann hast du zusammen mit ein paar von deinen Leuten und Kaspar meinen Vater auf dem Heimweg im Wald überfallen und gefesselt. Kaspar eilte nach Köln, um Hackenbroich mit dem Schwert meines Vaters zu töten.«
»Ja, der Junge war so stolz, seinem König dienen zu können.«
»Warum musste Eckard sterben?«
»Ah, der Kastellan! Kaspar sollte herausfinden, ob deine Schwester noch am Leben sei und beim Kaiser Anspruch auf die Burg erheben könnte. Er hörte, dass Eckard in einer Gaststube gesehen worden war, und schickte jeden Abend jemand dorthin, um auf ihn zu warten. Als Eckard endlich dort auftauchte, folgte Kaspar ihm und übertrieb sein Verhör wohl ein wenig …«
Seyfrid hatte unwillkürlich die Spitze seines Schwertes auf de Beauvards Kehlkopf gesenkt, sodass dessen letzte Worte in ein Röcheln übergingen.
»Ihr hättet meine Schwester, eine wehrlose Jungfrau, auch getötet, wenn ihr sie gefunden hättet! Ihr seid ehrlos!«
Der Graf hustete heftig, als Seyfrid dessen Kehle wieder freigab. »Was zählt die Ehre eines Einzelnen im Vergleich zu einem ganzen Königreich?«, sagte er schließlich heiser.
Seyfrid sah ihn voller Abscheu an und hieb plötzlich mit dem Schwert direkt neben dessen Kopf in den Boden, sodass der Kopf des Grafen zur Seite zuckte. Dann deutete er in Richtung des Lagers, vor dem inzwischen wohl über hundert unbewegliche Leiber lagen und die letzten überlebenden französischen Ritter sich gerade ergaben. Eine Gestalt kam zu Fuß in ihre Richtung. Selbst ohne das Wappen auf dem Waffenrock hätte Seyfrid an der kerzengeraden Körperhaltung Sir Hubert erkannt.
»Du bist besiegt!«, sagte Seyfrid zu de Beauvard. »Deine Ritter sind tot, gefangen oder auf der Flucht. Eleonore wird das Lösegeld an Kaiser Heinrich übergeben, und Richard kommt frei.«
Ein böses Funkeln trat in die Augen des Grafen. »Du glaubst, du hättest schon gewonnen? Du täuschst dich!«, sagte er hasserfüllt.
»Welche Teufelei hast du noch ausgeheckt?«
»Eleonore wird das Lösegeld nicht überbringen.«
Seyfrid starrte ihn einige Sekunden an, dann begriff er. »Solange Richard lebt, würde die Königsmutter verhindern, dass ihr missratener Sohn Prinz John den Thron besteigt. Erst wenn seine Mutter tot ist, wird der Weg für John frei, der bereits mit Philipp ein Bündnis geschlossen hat. Du willst Eleonore töten!«
»Ich habe mich als Mönch verkleidet in den Palast des Erzbischofs geschlichen, um auszukundschaften, ob ich sie bei ihrem Besuch dort töten könnte. Aber dann kam mir eine viel bessere Idee. Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, selbst Hand anzulegen, aber ich musste mich nach deiner Flucht umgehend zu meiner Truppe begeben, um sie zu warnen, dass du uns verraten könntest. Eigentlich sollten meine Männer die Engländer heute erst mit Beginn des Turniers angreifen, während ich mich dort um die Königsmutter gekümmert hätte. Sag selbst, es war ein brillanter Plan, denn wo sonst könnte man ihr mit Waffen so nahe kommen wie bei einem Turnier.«
Seyfrid antwortete nicht. Eleonores Ehrenplatz würde sich tatsächlich so dicht an der Kampfbahn befinden, dass es einem vorbeireitenden Ritter ein Leichtes gewesen wäre, sie zu töten.
»Zu tragisch«, sagte der Graf mit bösem Unterton, »ich hätte gerne gesehen, wie sich ihr Kopf vom Hals trennt. Nun wird jemand anderes das Vergnügen haben.«
»Wer?«
»Das weißt du nicht? Du hältst dich doch sonst für so klug.«
»Kaspar!«
In dem Moment ertönte eine vertraute Stimme auf Englisch: »Ihr habt den Graf de Beauvard dort, wo ich ihn am liebsten sehe: im Dreck!«
Erzbischof Hubert Walter hatte einige Blutflecken auf seinem Waffenrock, schien jedoch unversehrt zu sein.
»Sie wollen Eleonore töten!«, rief Seyfrid.
Der Erzbischof starrte ihn mit offenem Mund an. »Was?«
Es war das erste Mal, dass Seyfrid ihn die Fassung verlieren sah. Doch Sir Hubert fing sich sogleich wieder. »Das ist unmöglich! Hundert tapfere Ritter wachen in Köln über Eleonore.«
Seyfrid schüttelte bestimmt den Kopf. »Sie planen den hinterhältigen Mord während des Turniers.«
Der Erzbischof sah de Beauvard durchdringend an. »Wer soll sie töten?«
»Kaspar Hoengen, der Sohn eines Glashändlers«, antwortete Seyfrid.
»Es ist zu spät, ihr könnt es nicht mehr verhindern!«, sagte de Beauvard hasserfüllt.
Sir Hubert kniete sich neben den Grafen und packte ihn am Waffenrock. »Dafür werdet Ihr mit Schimpf und Schande hingerichtet werden«, verkündete er. »Erhebt Euch!«
Der Graf kam der Aufforderung langsam und umständlich nach. Er tat so, als würde er beim Aufstehen seinen Waffenrock richten. Als er endlich auf den Füßen stand, hatte er einen verborgenen Dolch gezückt. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf den völlig überraschten Sir Hubert und stach nach dessen Kopf, um die Klinge durch ein Auge bis ins Gehirn zu treiben. Doch erstarrte er mitten in der Bewegung und ritzte den Erzbischof nur leicht an der Augenbraue.
Aus dem Bauch des Grafen wuchs eine Schwertspitze. Seyfrid hatte blitzartig reagiert und all seine angestaute Wut in den Stoß gelegt. Durch die Wucht durchdrang der scharfe Stahl nicht nur das Kettenhemd, sondern auch den gesamten Oberkörper des Grafen.
Ein gellender Schrei entrang sich de Beauvards Kehle. Der Dolch entfiel seiner kraftlosen Hand. Blut begann aus seinem Mund zu fließen. Seine Beine knickten unter ihm ein, und er fiel auf die Knie, schließlich nach vorn auf das Gesicht. Der Schmerzensschrei ging in ein heiseres Röcheln über, dann verstummte er. Seine Bewegungen erstarrten. Louis de Beauvard war tot.
Sir Hubert blickte langsam von der Leiche zu Seyfrid. »Ihr habt mir das Leben gerettet! Doch meinen Dank möchte ich Euch später bekunden, denn ich muss sofort nach Köln, und Ihr werdet mich begleiten. Ich brauche jemanden, der sich dort auskennt.«
Er drehte sich um und rief einen scharfen Befehl: »Sir Edward, Ihr übernehmt das Kommando. Wenn erneut Franzosen oder sonst wer auftauchen, werdet Ihr das Lösegeld für König Richard bis zum letzten Mann verteidigen. Ich reite nach Köln. Das Leben der Königsmutter ist in Gefahr.«
Er wartete die Antwort gar nicht erst ab und eilte zu seinem Pferd. Auch Seyfrid rannte zu Alarich und musste feststellen, dass seine linke Schulter dabei fürchterlich schmerzte. Sie stiegen auf die Pferde und trieben sie zum gestreckten Galopp an. Entlang des Duffesbachs verließen sie das Hürther Feld.
***
Rebecca lief trotz der Kälte der Schweiß über das Gesicht. Er brannte in den Augen, doch noch mehr schmerzten ihre Arme und Hände. Sie war seit Stunden damit beschäftigt, den Knoten des Seils zu lösen, mit dem Kaspar sie gefesselt hatte. Dabei bog sie ihre Handgelenke so weit, bis ihre Finger den Hanf erreichten. Sie zog, drückte und zerrte an den Stricken, bis jeder Muskel in ihrem Oberkörper wehtat. Schließlich versuchte sie sogar, die Fasern des Seils einzeln mit den Fingernägeln zu durchtrennen. Es war ungeheuer mühsam, und die Stricke schnitten immer schmerzhafter in ihr Fleisch. Doch ihr Wille, sich zu befreien, war unbändig.
Sie verspürte eine maßlose Wut auf Kaspar. Wie hatte sie sich von ihm nur so täuschen lassen können? Der Gipfel war aber, dass er sie hier gefesselt hatte und erwartete, dass sie ihn danach als seine Ehefrau begleiten würde. Wenn sie das aufgeblasene Scheusal in die Finger bekäme, würde sie ihm den Kopf abreißen.
Nach einer Ewigkeit fühlte sie auf einmal, wie die Spannung in dem Strick nachließ. Er wurde nur noch von wenigen Fasern gehalten. Ein heftiger Ruck und das Seil riss. Mit einem erstickten Freudenschrei nahm Rebecca ihre Arme nach vorn und zog sich den widerlichen Knebel aus dem Mund. Sie sog gierig die Luft tief in ihre Lungen ein.
Ihre Handgelenke waren blutig gescheuert, doch sie versuchte den Schmerz zu ignorieren. Die Fußfesseln hatte sie in kurzer Zeit gelöst. Dann packte sie den Griff der Luke im Boden, doch sie ließ sich nicht hochziehen. Wie eine Besessene rüttelte sie daran und wollte nicht wahrhaben, dass Kaspar von unten einen Riegel vorgeschoben hatte. Sie war immer noch gefangen. Sie trommelte mit den Fäusten auf die Holzbretter und schrie um Hilfe, doch nichts passierte.
Durch schmale Ritzen in der Wand fiel Licht rund um die kleine Tür, von der aus man den am Dachfirst befestigten Flaschenzug bediente. An ihm wurden Waren hochgezogen und durch die Tür hereingeholt, so ersparte man sich das mühsame Schleppen über die steilen Treppen.
Rebecca stieß die Tür nach außen auf. Licht fiel herein und blendete sie. Kurz schloss sie die Augen und fing an zu blinzeln, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Dann rief sie erneut um Hilfe. Doch weit und breit war niemand zu sehen, kein Kopf wurde aus dem Fenster gesteckt. Die Straße war wie ausgestorben. Natürlich, das Turnier auf dem Alter Markt musste bald beginnen, fiel ihr ein. Das wollte sich kein Bewohner Kölns entgehen lassen.
Sie blickte nach unten und verwarf den Gedanken, zu springen. Aus der Höhe würde sie sich die Beine brechen. Ihr Blick wanderte zum Flaschenzug. Sie wollte schon nach dem Seil greifen, als ihr etwas einfiel. Sie eilte zur Truhe, holte das Schwert samt Gürtel heraus und band es sich um. Die Waffe lag schwer auf ihrer Hüfte, doch sie musste es mit dem zusätzlichen Gewicht schaffen.
Rebecca ließ das Seil des Flaschenzugs bis zum Erdboden hinunter. Dann knotete sie das andere Ende an einem Holzbalken des Dachs fest. Sie ergriff das raue Seil und zog ein paarmal kräftig daran. Sie hoffte, dass es halten würde. Vorsichtig stieg sie durch die Öffnung und setzte sich auf die Kante. Sie atmete mehrmals tief durch, weil die Angst sie zu überwältigen drohte. Dann ließ sie sich fallen und umklammerte das Seil dabei mit aller Gewalt. Sie ermahnte sich, nicht nach unten zu gucken. Sie drehte sich hilflos um ihre Achse und stieß mit den Füßen gegen die Hauswand. Mit der rechten Hand ließ sie das Seil schließlich los und packte sofort ein Stück tiefer wieder zu. Ihre Arme schmerzten immer noch von den Befreiungsversuchen, doch sie biss die Zähne zusammen. Langsam hangelte sich Rebecca Stück für Stück nach unten.
Erst als ein Fuß den Erdboden berührte, traute sie sich, das Seil loszulassen. Für einen Moment blieb sie kraftlos auf der Straße hocken. Sie hatte es geschafft. Steh auf, ermahnte sie sich, du musst irgendwie die Königsmutter warnen.
Sie hörte die Glocken des Doms läuten, verdeckte mit ihrem Umhang das Schwert an ihrer Seite und lief los.
***
Als Seyfrid die halb fertige Torburg in der neuen Stadtmauer erreicht hatte, rief er Sir Hubert zu: »Wir sollten uns aufteilen. Reitet zum Alter Markt, wo das Turnier stattfindet, um die Königsmutter zu beschützen. Ich werde Kaspar im Haus seines Vaters stellen. Wenn er schon weg ist, treffe ich Euch auf dem Alter Markt.«
»So sei es! Wenn Ihr mir noch den Weg beschreiben würdet?«
Seyfrid tat, wie ihm geheißen, bevor sie sich trennten. Dank der leeren Straßen kam er rasch voran und erreichte bald die Glockengasse. Er zügelte Alarich vor Hoengens Haus, ließ das Pferd einfach davor stehen und hämmerte gegen die Tür, doch niemand öffnete. Er hatte keine Zeit zu verlieren und hieb deshalb mit dem Schwert gegen das Fell im Fenster, schob das Stroh beiseite und kletterte ins Haus.
Die Stube war leer, und auch als er erneut rief, erschien kein Bewohner. Mit einem Blick in die Küche vergewisserte er sich, dass sich dort niemand versteckte, dann eilte er die Treppe hinauf. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber auf den grauenhaften Anblick war er nicht gefasst. Jacob Hoengen lag von zahlreichen Messerstichen durchbohrt in seinem Blut und starrte aus weit aufgerissenen Augen an die Decke. Als Medicus hegte Seyfrid nicht den geringsten Zweifel, dass der Glashändler tot war.
Doch nur drei Schritte daneben lag ebenfalls reglos Gerhard vom Hof. Er war zusammengekrümmt und hielt sich mit beiden Händen den Bauch, um eine Wunde zu bedecken. Seyfrid kniete sich neben ihn und konnte einen leichten Atemhauch spüren. Gerhard vom Hof lebte noch, doch sein Leben hing am seidenen Faden.
Seyfrid zögerte keinen Augenblick und schnitt mit dem Schwert ein Stück von seinem Waffenrock ab. Er drückte den Stoff auf die klaffende Wunde, um die Blutung zu stillen. »Gerhard, kannst du mich hören?«, rief er.
Zunächst zeigte der Verwundete keinerlei Reaktion, doch als Seyfrid ihn an der Schulter schüttelte, stöhnte Gerhard plötzlich. Er schlug die Augen auf. »Wo ist er?«, flüsterte er mit schwacher Stimme.
»Wer?«
»Kaspar.«
»Er hat seinen eigenen Vater erstochen?«, fragte Seyfrid fassungslos, doch dann wurde ihm klar, was passiert war. Kaspar hatte den Mann getötet, der ihn sein Leben lang gedemütigt hatte und von dem er inzwischen dachte, dass er nicht sein Vater war. Da er nach dem bevorstehenden Mord an Eleonore ohnehin aus Köln fliehen musste, hatte Kaspar seinen Vater abgeschlachtet wie ein Stück Vieh. »Wo ist er hin?«
»Er will … Er will …«, begann Gerhard, doch die Stimme versagte ihm. Er sammelte sich und nahm dann alle Kraft zusammen. »Eleonore töten.«
»Ich weiß. Ist er schon bei dem Turnier?«
Wieder brauchte Gerhard eine gefühlte Ewigkeit, bis er antworten konnte. »Nein. Er will … will sie vor dem Dom töten. Du musst … musst sie retten!«
Seyfrid betrachtete die immer noch klaffende Wunde. Wenn er ihn jetzt allein ließe, würde Gerhard vermutlich verbluten. Doch wenn er hierbliebe, würde die Königsmutter einem Attentat zum Opfer fallen. Sir Hubert war auf dem Weg zum Alter Markt in der Annahme, dass Eleonore dort sei. Bis er seinen Irrtum bemerkte, wäre es zu spät.
»Geh!«, forderte Gerhard inständig.
Seyfrid zögerte noch einen Moment, dann sprang er auf. »Drück den Stoff fest auf die Wunde und beweg dich nicht«, wies er ihn an. »Ich komme so schnell zurück, wie ich kann.«
Er lief nach draußen und musste feststellen, dass Alarich nicht mehr da war. Vermutlich hatte sich das Pferd selbstständig zu seinem Stall aufgemacht.
In dem Moment erklangen die Glocken des Doms, die zum Ende der Messe läuteten. Kaspar konnte Eleonore nicht im Dom töten, sondern musste warten, bis sie nach draußen trat. Das würde gleich der Fall sein. Seyfrid stieß einen Fluch aus und rannte los.
Das schwere Kettenhemd und die Kettenhose ließen ihn bald keuchen, doch er durfte nicht innehalten. Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht, seine lädierte Schulter schmerzte, und sein Herz schlug wie wild. Weiterlaufen, ermahnte er sich.
Er sah die Spitzen der Domtürme immer größer werden und glaubte schon, es noch rechtzeitig schaffen zu können, bevor das Glockengeläut verstummte und die Königsmutter die Kirche verlassen würde. Da versperrte ihm eine riesige Gestalt den Weg. Seyfrid hielt abrupt an.
»Diesmal wirst du mir nicht entkommen, Seyfrid von Viskenich«, sagte Maternus. »Welch günstige Fügung, dass ich zufällig diesen Weg genommen habe.« Der Mönch schlug den langen Mantel zurück, den er über dem Habit trug, darunter kam ein Schwert zum Vorschein. Maternus zog seine Waffe.
»Die Königsmutter Eleonore soll umgebracht werden«, japste Seyfrid außer Atem. »Kaspar Hoengen gehört zu den Verrätern und will sie töten. Ich muss es verhindern.«
»Mit dieser lächerlichen Lüge wirst du mich nicht hereinlegen.«
»Ich sage die Wahrheit! Bitte, du musst mir vertrauen!«
Maternus schüttelte energisch den Kopf und sagte entschlossen: »Das letzte Mal, als ich dir vertraut habe, hast du mich fast erwürgt und bist geflohen. Das passiert mir bestimmt nicht noch einmal.« Er machte einen Schritt auf Seyfrid zu. »Lass dein Schwert fallen, Seyfrid, und ergib dich! Ansonsten werde ich dir den Kopf abschlagen.« Um seine Worte zu bekräftigen, ließ er sein Schwert aus dem Handgelenk kreisen.
Fürwahr, dachte Seyfrid, Maternus mit seinen Bärenkräften muss als Soldat ein fürchterlicher Gegner gewesen sein. Der Mönch mochte vielleicht nicht der eleganteste Schwertkämpfer sein, aber die gewaltige Wucht seiner Hiebe machte dies sicher wieder wett.
Bevor Maternus zum Angriff übergehen konnte, hob Seyfrid die linke Hand. »Warte! Nimm nur für einen Moment an, dass ich die Wahrheit sage. Wie willst du es vor Gott rechtfertigen, dass du den Tod der Königsmutter hättest verhindern können, aber es nicht getan hast?«
Seyfrid ahnte um die Schwachstelle des Mönchs. Solange die Befehle vom Erzbischof kamen, plagten Maternus keine Gewissensbisse, aber in seinem Innersten fürchtete er sich davor, am Tag des Jüngsten Gerichts seinem Schöpfer gegenüberzutreten. Seyfrid sah die Unsicherheit in seinem Gesicht aufflackern.
Die Sekunden dehnten sich zur Ewigkeit. Die Glocken hörten auf zu läuten. Eleonore würde jetzt zusammen mit dem Erzbischof den Dom verlassen. Maternus blieb unbeweglich wie eine Mauer vor ihm stehen.
***
Eleonore war noch völlig ergriffen. Natürlich hatte sie schon von dem wunderschönen Dom zu Köln gehört, doch es war das erste Mal, dass sie ihn zu Gesicht bekommen hatte, und ihre Erwartungen waren noch übertroffen worden. Eine imposante lang gestreckte Kirche mit zwei Seitenschiffen neben dem mächtigen Hauptschiff. Zwei Türme flankierten den Eingang, und an jedem Ende des riesigen Dachs ragte ein weiterer mächtiger Turm empor. Innen befand sich die Decke in schwindelerregender Höhe. Vor allem aber lagen hinter dem Altar die Gebeine der Heiligen Drei Könige aufgebahrt, die dem Erlöser bei seiner Geburt gehuldigt hatten. Beileibe konnten die Kölner stolz auf dieses Gotteshaus sein.
Der Erzbischof hatte die Messe gelesen und war auf das bevorstehende Geburtsfest Christi eingegangen. Er predigte Barmherzigkeit und Demut, doch Eleonore konnte sich ein Schmunzeln kaum verkneifen, schließlich wusste sie nur zu gut um die Machtbesessenheit Adolf von Altenas. Aber sie durfte sich nicht beschweren, denn ohne ihn wären die Verhandlungen zwischen ihr und Kaiser Heinrich wesentlich schwieriger verlaufen. Sir Hubert hatte ihr ausführlich von den überzeugenden Reden des Kölner Erzbischofs berichtet, als sich die beiden am Hof von Heinrich für die Freilassung von Richard eingesetzt hatten. Nur noch wenige Tage trennten sie nun von dem Wiedersehen mit ihrem Sohn, der, so Gott wollte, nach Neujahr endlich in seine Heimat zurückkehren konnte.
Adolf von Altena segnete zum Schluss der Messe alle Anwesenden, den ganz besonderen Schutz des Allmächtigen erbat er aber für Eleonore. Die Königsmutter erhob sich aus der vordersten Reihe und schritt zusammen mit dem Erzbischof den Mittelgang hinunter. Danach folgten einige Würdenträger und Mitglieder der Richerzeche, erst dann schlossen sich die hundert englischen Ritter an.
Die beiden großen Türflügel wurden von eifrigen Dienern aufgerissen, und draußen erhob sich der Jubel des Volkes. Ganz Köln schien versammelt zu sein, um die Königsmutter zu sehen.
Kaspar hatte sich stetig bis in die vorderste Reihe der Menschenmassen vorgearbeitet, die sich hinter dem Spalier der erzbischöflichen Wachen drängten. Alle zehn Schritte stand einer der Soldaten mit dem Rücken zu den Leuten, um den Weg frei zu halten. Nur gelegentlich riefen sie »Zurück, Volk, zurück!«, weil sich immer wieder ein vorwitziger Mensch in der Hoffnung, Eleonore besser sehen zu können, zu weit nach vorn wagte.
Kaspar postierte sich genau zwischen zwei Wachen. Auch er rief gespielt fröhlich: »Heil dir, Eleonore!« Unter seinem Umhang hielt er den Dolch umklammert. Er würde heute noch einen dritten Menschen töten. Es musste sein.
In Gedanken ging er die Tat immer wieder durch. Er würde ganz ruhig vortreten, blitzschnell zustechen und dann sofort in der Menge untertauchen. Bevor die Wachen begreifen würden, was passiert war, wäre er schon vom Domhof verschwunden. Er würde zu Rebecca eilen und sie auffordern, mit ihm nach Frankreich zu kommen, um als seine Gemahlin auf der Burg seines Vaters zu leben. So ein Angebot konnte sie nicht ablehnen.
Falls doch … nun, dann sollte sie niemand zur Frau bekommen. Er würde nicht zögern, heute auch noch ein viertes Leben auszulöschen.
Er ahnte nicht, dass Rebecca keine dreißig Schritte entfernt auf der Suche nach ihm war.
»Also, gut«, knurrte Maternus nach einer schier endlos langen Zeit. »Wir laufen zum Dom. Aber wenn du wieder versuchst zu fliehen, werde ich dich töten!«
Ohne eine Antwort zu geben, rannte Seyfrid los, den Mönch dicht auf den Fersen. Doch an der nächsten Ecke wurden die beiden jäh gebremst. Eine dicht gedrängte Menschenmasse versperrte ihnen in der engen Gasse den Weg zum Dom. Sie alle hofften, einen Blick auf Eleonore erhaschen zu können, wenn auch nur aus weiter Ferne.
Maternus steckte sein Schwert wieder unter den Mantel und begann, die Menge vor sich mit beiden Händen zu teilen. Seyfrid blieb hinter dem riesigen Mönch, als er die Menschen beiseiteschob und sich einen Weg bahnte. Noch war der Domhof über hundert Schritte entfernt, doch Seyfrid sah sich bereits suchend nach Kaspar um. Da aber viele Männer wegen der Kälte eine Kapuze trugen, erwies es sich als schwieriges Unterfangen.
In dem Moment registrierte er, dass die hoch aufragenden Dompforten geöffnet wurden. Die Königsmutter musste jeden Moment die Kirche verlassen. Kaum hatte er es gedacht, brandete Jubel auf. Auch wenn Seyfrid sie nicht sehen konnte, war klar, dass Eleonore den Domhof betreten hatte. Wenn Kaspar die Königsmutter töten wollte, war das die einzige Gelegenheit, um zuzuschlagen. Wenn sie erst einmal im Palast angekommen war, hatte Kaspar keine Chance mehr. Dort würde er nicht hineingelassen, schon gar nicht bewaffnet.
Seyfrid wusste, dass es keinen Zweck hatte zu schreien, um vor dem Attentat zu warnen, denn die Lautstärke der Menge war ohrenbetäubend. Sosehr sich Maternus auch bemühte, sie kamen zu langsam voran. Wir schaffen es nicht rechtzeitig, dachte Seyfrid verzweifelt.
»Was machst du hier?«, vernahm er eine erstaunte Stimme neben sich.
Es war Severin. Der Junge starrte ihn aus großen Augen an. Dann wurde er Maternus gewahr, der sich immer noch abmühte, weiter vorzudringen, doch zunehmend auf wütenden Widerstand stieß.
»Die Königsmutter soll getötet werden«, sagte Seyfrid hastig zu Severin. »Wir müssen es verhindern.«
Der Junge brauchte eine Sekunde, um die Nachricht zu verarbeiten, doch dann hellte sich sein Gesicht auf. Er quetschte sich direkt hinter Maternus. »Macht Platz für den Erzbischof!«, schrie Severin aus voller Kehle. »Macht Platz, Volk! Lasst den Erzbischof durch!«
Zu Seyfrids erstaunen wichen die Menschen bereitwillig zurück und gaben sogar die Aufforderung an die vor ihnen stehenden Leute weiter. Die List funktionierte vorzüglich.
Auch Rebecca steckte in der Menschenmenge und blickte sich hektisch nach allen Seiten um. Sie hatte nach Kaspar Ausschau gehalten und einige Male geglaubt, ihn entdeckt zu haben. Doch beim Näherkommen hatte es sich jedes Mal als Irrtum herausgestellt. Aber er war hier, dessen war sie sich sicher.
Sie versuchte, weiter nach vorn zu kommen. Wenn Kaspar Eleonore töten wollte, musste er zwischen den Soldaten durchschlüpfen, die auf dem Domhof Spalier standen. Mühsam drückte sie sich durch die Menschenmenge.
»Pass doch auf, du Trampel!«, fuhr eine alte Frau sie an.
Rebecca entschuldigte sich und drängte den Nächsten beiseite. Ein dicker Mann weigerte sich, sie durchzulassen, und schob sie mit seinem gesamten Körpergewicht zurück. »Bleib gefälligst hinten«, blaffte er.
Rebecca hielt das Schwert unter dem Mantel umklammert und stieß die Spitze kurz nach unten auf den Fuß des Mannes. Der schrie auf und kippte vor Schmerz so weit zur Seite, dass Rebecca vorbeikam. Endlich war sie in der zweiten Reihe angelangt und stand zwischen zwei erzbischöflichen Soldaten, als Eleonore sich näherte.
Die Königsmutter schritt anmutig an der Seite des Erzbischofs, dahinter folgte eine lange Reihe geistlicher Würdenträger. Die englischen Ritter befanden sich alle noch in der Kirche und konnten nicht sehen, was draußen vor sich ging, stellte Rebecca zu ihrem Schreck fest.
Eleonore überquerte den Domhof und lächelte freundlich den jubelnden Kölnern zu. In dem Moment spürte Rebecca die Anwesenheit Kaspars und blickte auf die gegenüberliegende Seite des Spaliers. Dort stand er und beobachtete Eleonore wie eine Schlange ihr Opfer. Er musste nur einen Sprung tun, und Königsmutter wäre in seiner Reichweite.
Eleonore schritt langsam daher, wie es ihrem Rang gebührte, und blickte hoheitsvoll nach links und rechts. Sie bemerkte den jungen Mann, der rasch einen Schritt aus der Menge herausmachte, und sah ihm direkt ins Gesicht. Sie erblickte zwei kalte, seelenlose Augen und wusste im selben Moment, dass er sie töten wollte.
Niemand außer ihr schien die Todesgefahr zu erkennen, der Jubel hielt unverändert an. Der Mann machte einen weiteren Schritt, sagte kein Wort, verzog noch nicht einmal eine Miene. Sie sah, wie er ein Messer unter dem Umhang hervorholte. Eleonore erstarrte und war unfähig, ein Wort hervorzubringen.
Da fuhr der gellende Schrei einer Frau allen Umstehenden bis ins Mark: »Nein!«
Rebecca sprang von der gegenüberliegenden Seite aus der Menschenmenge zwischen zwei Soldaten hindurch und riss das Schwert unter ihrem Mantel empor. Die Wachen stürzten ihr hinterher, weil sie dachten, dass die junge Frau der Königsmutter etwas zuleide tun wollte.
Kaspar starrte Rebecca für einen Sekundenbruchteil verblüfft an, bevor er die Fassung wiedergewann und rasch den letzten Schritt auf die Königsmutter zumachte, um ihr den Dolch ins Herz zu stoßen.
Doch Rebecca war schneller und schlug Kaspar das Schwert mit Wucht in den Hals. Die scharfe Schneide des Meisterschmieds Ulfberht glitt durch die Muskeln und Sehnen, als wären sie aus Butter. Kaspars Kopf klappte grotesk nach hinten, der Dolch fiel aus seiner Hand. Blut spritzte pulsierend aus der offenen Wunde. Kaspar schlug hart auf dem Pflaster des Domhofs auf und blieb reglos liegen.
Panik machte sich schlagartig unter dem Volk breit, schreiend stoben die Menschen auseinander. Die Soldaten packten Rebecca und entrangen ihr das Schwert, das polternd zu Boden fiel. Einer hob seinerseits die Waffe, um die vermeintliche Attentäterin zu töten.
»Haltet ein!«, rief da Eleonore mit fester Stimme und trat dazwischen. Sie war die Einzige, die begriffen hatte, was gerade vor sich gegangen war.
Verdutzt ließ der Soldat das Schwert sinken.
»Diese junge Maid hat mir soeben das Leben gerettet«, erklärte Eleonore.
Erst jetzt fand der Erzbischof, der nur zwei Schritte entfernt stand, seine Fassung wieder und begann Befehle zu brüllen: »Alle Soldaten zu mir! Bildet einen Kreis um uns! Drängt das Volk zurück!«
Die Soldaten taten, wie ihnen geheißen, blickten aber verwirrt umher, da sie nicht wussten, wer sie angreifen wollte. Die nun herbeieilenden englischen Ritter, die Eleonore schützend umringten, stifteten noch mehr Chaos.
In dem Moment trat aus der auseinanderstiebenden Menge eine riesige Gestalt hervor. »Eminenz«, rief Maternus, »Ihr seid in Sicherheit.«
Der Erzbischof starrte ihn mit offenem Mund an. Dann entdeckte er direkt neben Maternus Seyfrid mit gezücktem Schwert. »Vorsicht!«, warnte er den Mönch.
Doch zu seiner Überraschung schüttelte Maternus nur den Kopf. »Seyfrid von Viskenich ist zurückgekommen, um den Mord an der Königsmutter zu verhindern«, erklärte er und sah dann auf Kaspars blutüberströmten Leichnam hinab. »Aber offensichtlich ist das nicht mehr nötig.«
Rebecca stand kreidebleich daneben und konnte immer noch nicht begreifen, was sie getan hatte.
Seyfrid steckte sein Schwert ein und ging auf sie zu. »Rebecca, du hast die Königsmutter gerettet.«
Erst jetzt schien sie ihn wahrzunehmen. »Seyfrid! Du lebst? Du bist hier!«
Seyfrid nahm Rebecca in die Arme, und sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. »Was habe ich getan?«, schluchzte sie. »Er ist tot. Ich habe ihn getötet.«
»Ja, aber du hast richtig gehandelt. Kaspar hätte sonst nicht nur Eleonore getötet, sondern auch ganz Köln ins Unglück gestürzt.«
Sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende an einen Felsen.
Eleonore kam auf sie zu und blieb unmittelbar vor Rebecca stehen. »Mein Kind, ich bin dir zu ewigem Dank verpflichtet. Ohne dein mutiges Eingreifen würde jetzt ich an seiner Stelle dort liegen.«
Rebecca löste sich von Seyfrid und machte einen ehrfurchtvollen Knicks. »Majestät« war alles, was sie herausbringen konnte.
Erst jetzt erkannte Seyfrid das Schwert, das die Soldaten Rebecca entwunden und auf den Boden hatten fallen lassen. Er bückte sich und hob es auf. »Das Schwert meines Vaters. Wie bist du in seinen Besitz gekommen?«
»Kaspar hatte es aus dem Haus der Bürger gestohlen und in einer Truhe versteckt«, antwortete Rebecca.
Seyfrid wandte sich an den Erzbischof. »Kaspar Hoengen war nur ein willfähriger Handlanger. Hinter dem Verrat steckt Dietrich von der Mühlengasse. Er ist einen Pakt mit König Philipp eingegangen, damit die Franzosen das Lösegeld stehlen und die Königsmutter töten können und er zum mächtigsten Mann in Köln aufsteigt.«
Der sonst so selbstsichere Adolf von Altena starrte ihn fassungslos an. »Dietrich von der Mühlengasse ist ein Verräter? Weißt du, was du da sagst?«
»Er ist es, so wahr mir Gott helfe!«
In dem Moment erblickte der Erzbischof einen Ritter, der sich mit seinem Pferd einen Weg durch die Menge bahnte und direkt auf sie zuhielt. »Wachen!«, rief er und deutete auf den Reiter.
Doch Eleonore beruhigte ihn. »Das ist Sir Hubert. Ihr kennt ihn doch.«
»Oh, natürlich!«, sagte von Altena und räusperte sich verlegen. »Wegen des Helms habe ich ihn nicht gleich erkannt.«
Als Hubert Walter sein Pferd vor dem Domportal zügelte, blickte er auf die vor ihm liegende Leiche des jungen Mannes und begriff, dass das Attentat vereitelt worden war.
»Es freut mich, Euch wohlauf zu sehen, Majestät«, sagte er zu Eleonore und wandte sich dann an von Altena. »Ich entbiete Euch meinen Gruß, Erzbischof von Altena.«
»Ich heiße Euch willkommen in Köln, Erzbischof Walter.«
Seyfrid war überzeugt, dass spätestens jetzt, mit dem Eintreffen von Sir Hubert, die Lage unter Kontrolle war. Der Erzbischof von Canterbury konnte Eleonore und Adolf von Altena alle Fragen beantworten.
»Verzeih mir«, sagte er zu Rebecca, »aber Gerhard vom Hof liegt schwer verletzt in Hoengens Haus. Ich muss zu ihm, um ihn vielleicht noch zu retten.«
Sie brauchte einen Moment, um das Gehörte zu begreifen. »Lauf schnell!«, sagte sie.
Dann wandte Seyfrid sich an Maternus, wiederholte, was er zu Rebecca gesagt hatte, und fügte hinzu: »Geh zu Gerhards Haus und hole einige der Diener mit einer Bahre, wir müssen ihn heimbringen. Wenn es noch nicht zu spät ist.«
Maternus sah ihn immer noch misstrauisch an.
»Keine Angst, ich werden nicht fliehen«, beruhigte Seyfrid ihn.
Der Mönch nickte ihm zu, und beide rannten in verschiedene Richtungen davon.
***
Seyfrid fand Gerhard bewusstlos vor. Der Stoff auf der Wunde hatte zwar den weiteren Blutverlust etwas eingedämmt, aber der Puls war nur noch sehr schwach. Kurz darauf stürzten, von Maternus angeführt, die Diener Gerhards herein.
Aus einem großen Tuch und vier Stöcken bauten sie eine Bahre und trugen ihren Herrn nach Hause. Sie legten ihn vorsichtig auf sein Bett und sahen ihn betreten an.
Seyfrid befahl einem der Diener, seine Tasche mit den Salben und Kräutern aus dem Haus in der Severinstraße zu holen. Kurz darauf traf Richmodis mit ihrem Ehegatten Gerhard Miles ein. Sie war völlig aufgelöst und weinte so hemmungslos, dass Seyfrid schließlich ihren Mann bat, sie aus dem Zimmer zu bringen.
Die Wunde Gerhards war tief, doch Seyfrid gelang es schließlich, die Blutung zu stillen. Dann rührte er eine Salbe aus verschiedenen Kräutern an und verschloss damit die Wundränder. Jetzt konnte er nur noch warten und hoffen, dass der Blutverlust nicht zu hoch war und Gerhard wieder aufwachen würde.
Endlich fand er Zeit, sich um seine Schulter zu kümmern. Seyfrid glaubte zwar nicht, dass etwas gebrochen war, aber jede Bewegung schmerzte. Deshalb rieb er sie mit einer Paste ein, die er vor einigen Tagen hergestellt hatte. Als ob er geahnt hätte, dass er sie bald brauchen würde.
Irgendwann kam Gerhard Miles mit einer etwas gefassteren Richmodis zurück, und Seyfrid sagte ihr, wie kritisch es um ihren Vater stand. Sie sollten Gott um Beistand anflehen. Eine Weile knieten sie neben dem Bett und murmelten Gebete.
Als sie sich wieder erhoben, bedankte sich Richmodis bei Seyfrid für seine Hilfe. »Ohne dich wäre mein Vater bereits tot. Jetzt liegt sein Leben in Gottes Hand.«
Seyfrid nickte nur stumm. Er befürchtete, dass Gerhard die Nacht nicht überleben würde.
Richmodis war schon durch die Tür, als ihr Gatte sich noch einmal umdrehte. »Es stehen übrigens zwei Wachen vor der Haustür.«
»Ich glaube nicht, dass ihm jetzt noch von jemand Gefahr droht«, sagte Seyfrid verwundert.
»Sie sind nicht wegen Gerhard, sondern wegen dir da. Der Büttel will sichergehen, dass du nicht wieder fliehst.«
Seyfrid brauchte einen Moment, um das zu verdauen. »So wollen sie mich immer noch vor Gericht stellen.«
»Ich fürchte ja, weil du dich für einen anderen ausgegeben hast und aus dem Frankenturm geflohen bist. Aber wir werden dich unterstützen.«
Gerhard Miles schlug ihm freundschaftlich auf die lädierte Schulter, was Seyfrid einen kurzen Aufschrei entlockte.