EPILOG – 25. DEZEMBER 1193

Seyfrid blinzelte in die Sonne und genoss den kurzen Hauch Wärme in der eiskalten Luft. Es war Weihnachten, und eine geschlossene Schneedecke hatte Köln überzogen. Doch Petrus war der Stadt gnädig gestimmt und hatte ihr an dem festlichen Tag einen wolkenlosen blauen Himmel beschert.

Rebecca hatte sich bei Seyfrid eingehakt und sah ihn vergnügt an. »Ihr dürft mich zwar zum Dom begleiten, aber während der Messe habt Ihr natürlich getrennt von mir zu sitzen, werter Ritter von Viskenich!«

»Nun, solange ich Euch von meinem Platz aus im Blick behalten kann, soll es mir recht sein, gnädiges Fräulein Quentenberg.«

»Dann werde ich Euch wahrhaftig den Kopf verdrehen.«

Jetzt musste auch Seyfrid grinsen.

»Meine Eltern erwarten uns vor dem Domportal«, erklärte Rebecca. »Eleonore besteht darauf, dass meine Familie und ich direkt hinter ihr sitzen. Ich hätte zu gerne das Gesicht vom Erzbischof gesehen, als sie es ihm eröffnet hat.«

»Ohne dich würde Eleonore jetzt nicht vorn in der ersten Reihe sitzen, sondern unter der Erde liegen, und der Erzbischof hätte eine Menge Probleme am Hals. Also wird er die Sitzordnung verkraften.«

Schlagartig wurde Rebecca wieder ernst. »So richtig kann ich immer noch nicht begreifen, was geschehen ist.«

»Du hast richtig gehandelt.«

»Ich habe meine Tat gebeichtet und jeden Tag um Vergebung gebetet, aber dennoch fühle ich mich immer noch schrecklich.«

Seyfrid blieb stehen und nahm sie in die Arme. »Ganz Köln feiert dich als Heldin, Rebecca. Ohne dich wäre Eleonore tot, Richard weiterhin in Haft, und die Engländer würden vermutlich mit einem großen Heer anrücken, um Rache zu nehmen. Ganz zu schweigen davon, dass wir jetzt nicht so sorglos zusammen durch die Stadt spazieren könnten.«

Rebecca nickte zaghaft, schien jedoch nicht wirklich überzeugt zu sein. Eine Weile schritten sie wortlos weiter. »Wie ging es Gerhard gestern?«, fragte sie schließlich.

»Oh, bestens! Er will nicht im Bett bleiben und empfängt schon wieder Geschäftsleute. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass er sich trotz der schweren Wunde so schnell erholen würde. Er ist fürwahr eine echte Kämpfernatur.«

Rebeccas Gesicht hellte sich ein wenig auf. »Ich habe gestern Richmodis getroffen, und sie schwärmte von dir als dem besten Medicus der Welt.«

»Ja, sie ist eine kluge Frau.«

Rebecca knuffte ihn in die Rippen. »Außerdem hat sie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, dass ihr Vater beim Hohen Gericht durchgesetzt hat, die Anklage gegen dich fallen zu lassen. Weil auch Eleonore beim Erzbischof darauf gepocht hat, wird das entsetzliche Urteil gegen deinen Vater offiziell aufgehoben, und seine sterblichen Überreste können in geweihter Erde beigesetzt werden. Die Ächtung deiner Familie wird damit ebenfalls zurückgenommen. Du bist wieder ein freier Mann.«

»Ich ahnte es schon. Gerhard hat mir gesagt, dass ich mir keine Sorgen wegen der Anklage machen solle.«

»Ein schöneres Geschenk hättest du dir zum Weihnachtsfest nicht wünschen können«, strahlte sie ihn an.

Die beiden hatten das Domportal erreicht. Alles, was in Köln Rang und Namen hatte, drängelte sich vor dem Eingang. Matthias und Maria Quentenberg standen ein wenig abseits und winkten Rebecca und Seyfrid zu sich. Sie wünschten sich gegenseitig ein frohes Weihnachtsfest.

»Nun, Seyfrid, ab hier werden wir unsere Tochter wieder in unsere Obhut nehmen«, sagte Matthias.

»Aber nach der Messe bist du herzlich bei uns zum Essen eingeladen«, fügte Maria hinzu.

Seyfrid bedankte sich artig und sagte sein Kommen zu. Er ließ der Familie Quentenberg den Vortritt und reihte sich dann in die Schlange vor der schweren Eisentür ein.

Schließlich war der Dom bis zum letzten Platz gefüllt. Ganz vorn saßen Eleonore und Sir Hubert, dahinter die beiden Bürgermeister und die Quentenbergs. Seyfrid musste lächeln, als er neben ihnen Gerhard vom Hof entdeckte. Er hatte seinem Patienten eigentlich verboten, das Haus schon zu verlassen.

Als kurz darauf der Chor zum Lob Gottes ansetzte und die Stimmen zur Kuppel emporstiegen, kam es Seyfrid geradezu überirdisch vor. Adolf von Altena gab sich im Angesicht der Königsmutter und dem Erzbischof von Canterbury ganz besonders viel Mühe und sang mit donnernder Stimme, als wolle er das Christuskind im Alleingang dazu bewegen, erneut auf die Erde herabzusteigen.

Die Weihnachtsmesse überwältigte Seyfrid und ließ ihn die Geschehnisse der letzten Tage eine Weile vergessen. Er fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit richtig glücklich. Damit war es jedoch schlagartig vorbei, als er beim Hinausgehen Dietrich von der Mühlengasse bemerkte. Ihre Blicke kreuzten sich für einen kurzen Moment. Seyfrid sah tiefen Hass in dessen Augen. Er wusste, dass er einen Feind hatte, vor dem er auf der Hut sein musste.

Kurz darauf traf Seyfrid bei den Quentenbergs ein. Zu seiner Überraschung war noch ein Gast eingeladen. »Isolde! Welch eine Freude, dich zu sehen. Ich dachte, du würdest die Weihnachtsmesse bei Schwester Kathryn im Kloster feiern.«

Isolde hatte leicht gerötete Wangen und umarmte ihren Bruder. »Das habe ich auch. Doch weil mir Matthias Quentenberg die Ehre erwiesen hat, mich einzuladen, bin ich direkt nach der Morgenmesse hergeritten.«

Seyfrid bedankte sich beim Hausherrn dafür, doch der winkte ab und bat die Gäste, an der opulent gedeckten Tafel Platz zu nehmen. »Es ist mir eine Freude, die Burgherrin von Viskenich in meinem Haus willkommen zu heißen!«

Seyfrid ahnte, woher der Wind wehte. Er hatte vor wenigen Tagen beschlossen, dass Isolde die Verwaltung der Burg übernehmen sollte. Er selbst wollte als Medicus in Köln wohnen bleiben, um sich seinen Patienten widmen zu können, und nur gelegentlich auf seiner Burg nach dem Rechten sehen.

Seyfrid sah das leise Lächeln in den Mundwinkeln seiner Schwester, als sie Matthias Quentenberg antwortete: »Ich weiß deine Einladung sehr zu schätzen und würde mich gerne mit einer Gegeneinladung auf die Burg Viskenich bedanken.«

Natürlich wusste Isolde ganz genau, dass Quentenberg immer noch von einem Leben auf einer Burg träumte, auch wenn aus dem Kauf der Burg Viskenich nun nichts mehr werden würde.

»Außerdem wollte ich dich ohnehin bitten, mich mit deiner Gattin möglichst oft zu besuchen, da ich die Hilfe eines tüchtigen Geschäftsmanns gebrauchen könnte. Ich verstehe nicht viel von Geld und würde gerne gelegentlich deinen Rat einholen.«

Das Gesicht Quentenbergs erstrahlte wie ein Sonnenaufgang. »Natürlich werde ich dir mit meiner Erfahrung gerne zur Seite stehen.«

Die beiden prosteten sich mit ihren Weingläsern zu.

Dann wandte sich der Hausherr an Seyfrid. »Ach, falls du dich wundern solltest, warum mein Secretarius Berlicher nicht anwesend ist: Er steht nicht mehr in meinen Diensten. Genau genommen habe ich dafür gesorgt, dass er für niemanden in Köln und in weitem Umkreis mehr arbeiten wird. Ich habe in seiner Kammer eine beträchtliche Summe gefunden. Er hat nicht lange geleugnet, dass er sich von Dietrich bestechen ließ. Daraufhin habe ich ihn vor die Wahl gestellt, Köln für immer zu verlassen oder in den Frankenturm zu wandern. Das letzte Mal hat man ihn gesehen, als er mit einem blauen Auge und einer gebrochenen Nase durch das Stadttor geflüchtet ist. Das Bestechungsgeld habe ich dem Kloster zu Ehren der Jungfrau Maria gespendet.«

Seyfrid nickte nur und fühlte eine gewisse Zufriedenheit.

»Wie bist du eigentlich darauf gekommen, dass es Berlicher war, der mich verraten hat?«

»Sagen wir mal, ich hatte eine Eingebung.« Seyfrid hatte Gerhard vom Hof versprochen, seinen Namen herauszuhalten. »Wie macht sich unser neuer Kastellan?«, fragte er seine Schwester, um rasch das Thema zu wechseln.

»Benjamin kann sein Glück immer noch nicht fassen, dass du ihn zum Kastellan ernannt hast.«

»Wer ist Benjamin?«, erkundigte sich Quentenberg.

»Seine Familie bestellt schon seit Generationen unser Land«, erklärte Seyfrid. »Er kennt sich bestens mit den Belangen der Ernte aus und ist ein heller Kopf. Da war es naheliegend, dass er das Amt vom seligen Eckard übernimmt. Außerdem habe ich einige seiner Verwandten als Gesinde auf die Burg geholt und sogar schon neue Wachen angeworben.«

»Ich soll dir übrigens von Schwester Kathryn ihren Dank ausrichten, dass du Joseph Binsen zum Hauptmann der Burgwache gemacht hast«, fiel Isolde ein.

»Joseph Binsen, der bisherige Hauptmann des Frankenturms?«, fragte Quentenberg erstaunt. »Er ist doch aus dem Dienst entlassen worden, weil du ausgebrochen …« Dann begriff er den Zusammenhang. »Oh, natürlich!«

»Ich denke, das war ich ihm schuldig«, erklärte Seyfrid. »Außerdem habe ich Schwester Kathryn die Bitte nicht abschlagen können.«

»Man erzählte mir, dass du nun in einem neuen Haus wohnst, Seyfrid«, mischte sich Maria Quentenberg in das Gespräch ein.

»Ja, wie du dir vorstellen kannst, wollte ich nicht mehr in einem Haus wohnen, das Dietrich von der Mühlengasse gehört. Gerhard vom Hof war so großzügig, mir eines seiner Häuser anzubieten.«

»Es liegt auch in der Severinstraße, sodass wir … ich meine, dass er seine Habseligkeiten nicht weit zu tragen brauchte«, warf Rebecca aufgeregt ein.

Maria Quentenberg hatte den Versprecher sehr genau verstanden und bedachte Rebecca mit einem strengen Blick, enthielt sich aber jeglichen Kommentars über das unschickliche Verhalten ihrer Tochter, allein in die Wohnung eines Mannes zu gehen.

Isolde rettete Rebecca aus der Situation, indem sie sich an ihren Bruder wandte. »Wie ich hörte, hast du als Medicus zurzeit alle Hände voll zu tun.«

»Du glaubst nicht, wie viele Menschen in Köln sich auf einmal krank fühlen, nur um mich aufsuchen zu können.« Seyfrid verdrehte die Augen. »Aber ich will nicht undankbar erscheinen, schließlich lebe ich davon.«

»Es ist einfach schändlich, dir deine kostbare Zeit zu stehlen, wenn andere Menschen ernsthaft krank sind«, ereiferte sich Quentenberg.

»Mach dir keine Sorgen, die Simulanten schicke ich zum Bader Clemens Weyeroth. Er freut sich über seinen prächtigen Verdienst, wie er mir neulich selber sagte.«

»Wer hätte gedacht, dass ein neuer Medicus ganz Köln verändern würde?«, bemerkte Rebecca fröhlich.

Seyfrid antwortete nicht, sondern ergriff behutsam ihre Hand. Sie lächelte ihn glücklich an.