DER KINDERWAGEN

Kriminalromane werden in Buchhandlungen in grosser Zahl angeboten, dass diese aber auch Schauplatz solcher Handlungen werden können, zeigen folgende Ereignisse:

In Bahnhöfen sind Kinderwagen nicht selten. Nostalgische, moderne, oder gar solche, mit denen man joggen kann. Allerdings wäre bei dem Gedränge, das im Bahnhof herrscht, mit einem solchen joggend bei uns kein Durchkommen. Kinderwagen sind für mich immer auch ein Anlass, meine Hilfsbereitschaft voll zu entfalten. Es ist eine Herausforderung, ein solches Gefährt mitten im hektischen Bahnbetrieb vorsichtig und sanft ein- und auszuladen, vor allem dann, wenn jeder Passagier drängelnd nur an einen guten Sitzplatz für sich zu denken in der Lage ist.

Es war an einem Freitagabend, der Hauptreiseverkehr war schon vorbei, abgekämpfte Wochenpendler erreichten unseren Bahnhof und hatten nur ein Ziel vor Augen: nach Hause zu gelangen, den Alltag abzuschütteln, um endlich das ersehnte Wochenende anzutreten, sich zu entspannen, zu träumen und es sich wohl ergehen zu lassen. Mitten in diesem Trubel, während die Fahrgäste dem Bahnhofsausgang zustrebten, erreichte uns Bahnangestellte über Funk ein Aufruf unserer Leitstelle: Alle – das wurde mit Vehemenz betont – sollten sich unverzüglich in den Besprechungsraum begeben, gleichgültig welcher Aufgabe sie sich gerade widmeten. »DRINGEND! «, war dabei die Forderung, und die Meldung wurde zumindest ein Dutzend Mal wiederholt.

Brannte es? War ein Krieg ausgebrochen? Es sah alles so normal aus, keinerlei Veränderungen hatten sich gegenüber der Situation wenige Minuten zuvor ergeben. Alles schien ruhig und friedlich, mit Ausnahme des Menschenstroms, der nach Hause ins wohlverdiente Wochenende strebte.

»Nun, Befehle sind da, um erfüllt zu werden – wo kämen wir denn sonst hin?«, sagte ich halblaut zu mir selbst und machte mich neugierig auf den Weg in unsere Zentrale.

Ich sah, wie sich an allen Bahnsteigen rote Punkte in Bewegung setzten, es wirkte beinahe so, als würde ein Ballett aufgeführt: Meine Kolleginnen und Kollegen eilten wie ich zum Besprechungsraum. Eine von ihnen, die ich am Bahnsteigende traf, stieß mich mit ihrem Ellenbogen an und flüsterte mit Verschwörermiene:

»Wohl was Wichtiges, sonst liessen sie nicht alle Reisenden allein!«, und sie machte dabei ein bedeutungsvolles Gesicht, als meinte sie damit: Wir sind eben wichtige Menschen, dass wir solche ernsthaften Begebenheiten, welche sie auch immer sein mögen, als erste vernehmen.

Im Besprechungsraum herrschte bereits dicke Luft, kaum ein Stehplatz war zu ergattern, denn nicht nur wir vom Servicepersonal waren anwesend, sondern alle Dienstleister des Bahnhofs. Da waren der Reinigungsdienst, die Bahnhofsmission, der Fahrdienst, Brötchenverkäufer, Schaffner und Lokführer, alle standen wir kunterbunt durcheinander. Ganz vorne befand sich der Bahnhofsmanager, der uns in knappen Worten den Polizeihauptmeister Meier vorstellte. Dieser drehte verlegen seine Dienstmütze in der Hand und begann ruhig und leise, mit beinahe zu wenig Stimme, um klar verständlich zu sein, zu sprechen, sodass ich meine Ohren gehörig spitzen musste. Es war, trotz der über Hundert versammelten Menschen und obwohl Meier lange Pausen zwischen seinen Sätzen machte, mäuschenstill im Raum.

»Meine Damen und Herren, ich benötige dringend Ihre wertvolle Hilfe!«, stimmte der Polizeihauptmeister seine Rede an und betonte das Wort »dringend« mehr als eindringlich.

Er legte seine Mütze zur Seite, griff in die Lederaktentasche, die vor ihm lag, und zog ein Blatt daraus hervor. Obwohl ich Adleraugen habe, konnte ich nicht entziffern, was auf dem Blatt stand, sondern sah nur einen Titel und, so schien es mir, einen dicht verfassten Fernschreibetext – es mussten also zahllose Informationen folgen. Ich zückte vorsorglich mein Notizbuch und den stets scharf gespitzten Bleistift, denn ich ging davon aus, dass es allerhand zu notieren geben würde.

Der Polizeihauptmeister sprach ruhig, nach wie vor mit Pausen betonend weiter: »Heute vor fünfundvierzig Minuten ist in einer Buchhandlung in der Nähe des Bahnhofs ein Kinderwagen samt seinem Inhalt«, er unterbrach sich jetzt, denn offensichtlich bemerkte er, dass er mit dem Wort »Inhalt« keine adäquate Formulierung gewählt hatte.

»Krrrhmmm«, hüstelte der Polizeihauptmeister leise und korrigierte seine Formulierung, »samt Kleinkind, wollte ich sagen, gestohlen worden. Wir befinden uns alle in höchster Alarmbereitschaft und haben nur das eine Ziel, das zwei Monate alte Kleinkind wohlbehalten der Mutter wieder in die Arme zu legen. Die Entwenderin«, jetzt stockte er erneut, als schien er sich auch hier zu überlegen, ob das Wort passend sei, fuhr aber dann ohne Korrektur fort, »wurde nicht näher beschrieben. Die einzige Zeugin beschreibt die Täterin mit einem ›Allerweltsgesicht‹, sodass wir Ihnen leider keinerlei genauere Angaben machen können.«

Wiederum pausierte hier der Redner, um alsdann leise beizufügen:

»Wir tappen also noch vollständig im Dunkeln. Die Mutter ließ den Kinderwagen im Gang zwischen den Warenträgern der Buchhandlung stehen, entfernte sich etwa zwei Meter vom Kinderwagen, um nach Romanen zu suchen, und als sie zurückkam, war dieser …«, Polizeihauptmeister Meier sprach den Satz nicht zu Ende und ließ das Wort »dieser« einsam in der bereits stickigen Luft des Besprechungsraumes hängen.

Um Gottes willen, dachte ich, wie entsetzlich für die Mutter! Wo war sie jetzt? Oh, was sie wohl durchzumachen hatte: vom Schmerz bis zur Selbstanklage, von der Hoffnung bis zur Aussichtslosigkeit!

»Nun, es gibt wie immer verschiedene Möglichkeiten«, fuhr der Polizeihauptmeister in seiner Singsang-Beamtensprache fort.

»Die Entwenderin«, jetzt zauderte er bei diesem Begriff nicht mehr und gebrauchte ihn selbstverständlich, »ist möglicherweise psychisch krank. Vielleicht hat sie einen übermässigen, nicht auszuhaltenden Kinderwunsch. Es kann sich aber auch um eine Verbrecherin handeln«, seine Abscheu schwang bei diesem Wort mit, seine bodenlose Abscheu, die ich ganz und gar teilen konnte. Er schöpfte noch einen schrecklicheren Verdacht, den er mit einem lauten bis in den hintersten Winkel des Raums hörbaren, durchdringenden Flüstern verkündete: »Oder noch schlimmer, es ist eine Bande am Werk, die erpressen will oder gar Kinderhandel betreibt.«

Der Polizeihauptmeister steckte sein Papier zurück in die Ledermappe, nahm erneut seine Mütze in die feingliedrigen Finger, drehte sie im Kreis, hob siegesgewiss seinen Kopf und betonte jetzt fast zu lautstark und selbstsicher:

»Wir werden sie fassen und das Kind retten, mit Ihrer Hilfe! Eine Fernsehfahndung vor dem Abendjournal ist ebenfalls eingeleitet. Wir zählen auf jeden von Ihnen. Halten Sie jeden verdächtigen Kinderwagen an, aber auch Frauen, die ein Kleinkind tragen. Der Kinderwagen ist möglicherweise bereits entsorgt, weil er ein Corpus Delicti ist.«

Der Polizeihauptmeister Meier schaute zur Decke des Besprechungsraums, als fordere er höhere Hilfe an und schloss mit den Worten:

»Seien Sie aufmerksam, lassen Sie sich nichts entgehen, melden Sie alles über den Funkkanal 9. Ja, ich weiß, es ist der Not-Kanal, aber wir sind schliesslich in Not!«

Er setzte seine Mütze auf, wandte sich dem Ausgang zu und alle eilten zum Arbeitsplatz zurück. Wir waren äusserst aufmerksam, hielten die Augen offen und lauschten auf das Rauschen des Funkkanals 9, auf dem sich jedoch nichts regte.

Erst viel später abends, kurz nach dem Abendjournal im Fernsehen, kam die Entwarnung. Die gesuchte Frau samt Kinderwagen war in einer Gastwirtschaft achtzig Kilometer von unserem Bahnhof entfernt entdeckt und der Polizei übergeben worden. Sie hielt das Kind ganz eng an sich geschmiegt und behauptete beharrlich, selbst nach der Gegenüberstellung mit der überglücklichen Mutter, es sei ihr eigenes. Dies jedoch und auch, dass sie zur Heilung ihres Leidens in stationäre Behandlung gebracht wurde, erfuhren wir erst am Tag danach aus der Zeitung. Wir hofften alle, dass sie die Klinik eines Tages geheilt verlassen könne.

Als mich die erlösende Meldung damals kurz nach sieben Uhr über den Funkkanal 9 erreichte, meinte ich, ob Sie es glauben oder nicht, ein lautes Aufatmen des gewölbten, hohen Bahnhofsdachs zu vernehmen!