VERFALLSDATUM

Die elegant gekleidete Dame, ein breitkrempiger Hut, unter dem einzelne weissgelbliche Haarsträhnen neugierig hervorschauen, ziert ihr Haupt, stolziert durch die Buchhandlung, fragt eine Buchhändlerin schmallippig nach der Lokation des Kundendienstes – sie schiesst dabei das K wie eine Kugel aus dem straffgezogenen Mund –, sie habe eine gewichtige Beschwerde anzubringen.

»Im Obergeschoss, links neben dem Aufzug«, lautet die freundliche Antwort.

»Also die Geschäftsleitung könnte der Kundschaft mehr entgegen kommen und die Beschwerdestelle neben dem Eingang platzieren«, antwortet so spitz wie eine Injektionsnadel die Dame.

Ein altertümliches Kropfband ziert ihren Hals. Pechschwarz ist es. In seiner Mitte glitzert ein kleiner silberner Stern. Die Dame schreitet gemessenen Schrittes der Treppe zu und murmelt vor sich hin:

»In einen Aufzug steige ich hier nicht ein, die haben bestimmt die notwendige Revision verschlafen.«

Auf den Stiegen, die sie gemächlich angeht, kläfft das Hündchen, das sie an der Leine führt, giftig, wie um zu protestieren, in seiner Winzigkeit solch grossspurige Sprünge beim Besteigen der Stufen zu unternehmen. Oben angekommen schaut sich die Dame um, lässt Kopf samt Körper und Kropfband dreihundertsechzig Grad zweieinhalb Mal im Kreise drehen, wobei ein scharfes »Tsss, tssss« über ihre krass rot geschminkten Lippen gleitet. »Nicht einmal angeschrieben sind die Dienste, sieht denen ähnlich«, spricht sie in hohen Tönen, flüsternd zu ihrem Schosshündchen, das vor Anstrengung und Ärger darüber heftig hechelt und die Zunge hängen lässt.

»Auch kein Mensch, der sich meiner annimmt!«, fährt sie, ihrem Liebling zugewandt, fort. »Kaffeepausenseuche ausgebrochen! Typisch, was können wir anderes erwarten«, beschliesst sie ihre Philippika, wendet sich nach rechts und geht in Richtung der Türe, auf der »Nur für Personal!« in gelber Warnfarbe vermerkt ist. Sie öffnet diese und betritt das Büro des Geschäftsführers. Dieser sitzt an seinem kargen Pult, umringt von hohen Bücherstapeln, sieht zur Eindringenden, richtet den Zeigfinger auf die Tür und weist sie zurecht: »Können Sie nicht lesen? Oder gehören Sie neuerdings zur Belegschaft? «

»Nein, keineswegs«, antwortet die Dame, wobei ihr Kropfband in Luftsprünge, die faltige Haut dabei aufdeckend, auszubrechen sucht, was ihm nicht gelingt. »Ich komme, um eine notfallmässige Reklamation zu überbringen. Habe in dieser Buchhandlung, ihrer Buchhandlung, ein Buch mit dem Titel ›Mit 50 fängt das Leben erst richtig an, Sex im Alter, Lust hat kein Verfallsdatum‹ erworben. Und ich will meine Reklamation anbringen. Bei Ihnen. Sie sind doch der Geschäftsführer? Oder etwa nicht? Also voll verantwortlich für das, was hier in dieser Unternehmung verkauft wird. Bitte! Ich will es jetzt wissen. Definitiv, voll und ganz! Mit Haut und Haar! Sie haben auch für den Inhalt zu garantieren. So leicht lasse ich Sie nicht springen. Beweise müssen her. Endgültige Beweise, dass das, was Sie verkaufen, der Wahrheit entspricht. Der vollen Wahrheit. Und nur der Wahrheit.«

Und die Dame nestelt an ihrem Kropfband. Nimmt es ab. Beginnt sich zu entkleiden. Seide raschelt.

»Jetzt will ich es wissen … Will wissen, dass es kein Verfallsdatum gibt …«