Es war ein bewölkter Tag. Ich erinnere mich genau. Ich hatte schlecht geschlafen. Bereits am sehr frühen Morgen, als ich die Vorhänge nach dem ersten Kaffee – ich trinke diesen stark gezuckert, esse als Kalorienkompensation dabei aber nichts – aufzog, war der Himmel mit Unheil dräuenden Schlierwolken bedeckt. Diese versprechen nie Gutes. Meist folgt darauf ein Sturm, der sich von den Bergen herunterstürzt und manchem starken Baum den Garaus bereitet. Försterwetter nennen wir das hier in der Stadt, in der ich Leiterin einer Buchhandlung bin, die von meiner Religionsgemeinschaft betrieben wird. Försterwetter, weil solche Stürme die Arbeitsplätze der Landesforstbeamten sichern.
Nachdem ich ausgiebig geduscht hatte – mein Dienst beginnt aus Sparmassnahmen erst um zehn Uhr in der Früh –, las ich intensiv die Zeitung, insbesondere den Lokalteil. Eine Buchhändlerin muss immer auf dem Laufenden sein, werden wir doch an unserem Arbeitsplatz oft in Gespräche mit Ortsbezug verwickelt. Der zwischenmenschliche Kontakt ist schliesslich der Hauptinhalt unserer Lebensberufung, wir befassen uns mit Buchwelten, um diese den Mitmenschen näher zu bringen. Zahlreiche Kundschaft verlässt sich auf mein Urteil bei der Auswahl von Lesestoff. Und ich kenne die literarischen Vorlieben von so vielen Menschen, dass ich längst vor der von Geheimdiensten gepflegten Internetprofilerstellung, Profile der Stärken und Schwächen – selbst der geheimsten – meiner Leseratten erstellen könnte. Dass wir in unserem Unternehmen Literatur mit Musik verbinden und so Brücken zwischen den beiden schlagen, erfüllt mich mit Stolz, denn der ausgezeichnete Ruf unserer Musiknotenabteilung ragt weit über die Stadtgrenzen hinaus. Kulturvermittlung ist wohl die geeignetere Bezeichnung der Tätigkeit unseres Teams. Und ich empfinde das in dieser Zeit des kulturellen Zerfalls als eine grosse Herausforderung, die ich in meinen Schulungen vornehmlich den Auszubildenden besonders ans Herz lege. Denn was gibt es Vornehmeres, als zur Rettung der abendländischen, so reichhaltigen Kultur beizutragen und sie in unserer Stadt zu fördern!
Nun, an jenem Morgen, als ich mich auf meinen Fussmarsch zur Arbeitsstätte begab, der Himmel war zwischenzeitlich beinahe schwarz, zuckten die ersten donnerlosen Blitze bereits am Horizont und die Vorboten, Töchter und Söhne des Sturms, wehten mir in hohem Bogen Staub aus der Gosse entgegen, sodass ich mein Seidenhalstuch vor Mund und Nase schob. Wenn ich nur trockenen Fusses bis zur Buchhandlung komme, dachte ich und liess dabei ein Stossgebet zum Himmel steigen, auf direktem Wege zum Wettergott. Ich wurde erhört.
Die ersten dicken Tropfen, den kommenden Hagel ankündend, stoben zerplatzend vom Himmel just in dem Augenblick, als ich unter dem Schutz des Vordachs die Alarmanlage routiniert ausser Betrieb setzte und den Haupteingang öffnete, den ich jedoch, nachdem ich die Morgenschicht meiner Kolleginnen und Kollegen hineingelassen hatte, sogleich wieder abschloss. Ich begab mich in mein kleines Büro, nahm die Post in Augenschein, besprach mich mit meinem Stellvertreter, einem jungen Mann, der, das sah ich seiner Nasenspitze an, grosse buchhändlerische Ambitionen hegte.
Als ich mich den Pendenzen widmen wollte – die vorwiegend ruhigen Vormittagsstunden sind für diese Tätigkeit ein wahrer Segen –, klopfte es heftig an meiner Türe. Nach meinem sonoren »Herein« – meine im Sängerverein ausgebildete und äusserst begehrte Stimme, auf der ein grosser Teil meines ausserbetrieblichen Stolzes ruht – stürmte die jüngste Auszubildende mit einem an die siebzig Jahre alten Herrn in mein Büro. Ausser Atem – sie musste das Treppenhaus richtig erstürmt haben, was ja zum Wetter bestens passte –, begann sie, nach Atem ringend, mir das entstandene Problem zu erläutern.
Die junge Frau hütete, bis die Abteilungsleiterin mittags eintraf, die Musikalienabteilung:
»Der Herr wünscht die Partitur des Lebens und ich weiss einfach nicht, wo ich nachzusehen habe. Zudem betont er immer wieder, zwar keine Noten lesen zu können, doch müsse er jetzt, besonders seines fortgeschrittenen Alters wegen, endlich die Angelegenheit in Angriff nehmen und die Partitur erwerben, um die Zusammenhänge zu verstehen.«
Der Herr begleitete die Wortkaskade der langmähnigen blonden Mitarbeiterin im Takt nickend.
Ich beruhigte meine Auszubildende mit den Worten:
»Lassen Sie mich nachsehen«, und setzte mich an den Rechner, ein älteres Modell, das die Zierde meines Schreibtisches darstellt.
Nach weniger als einer Minute wurde ich fündig.
»Suchen Sie die Partitur von Bedrich Friedrich das Streichquartett e-Moll (Aus meinem Leben)?«
Der Herr verneinte kopfschüttelnd und liess sein Haupt um zehn Grad tiefer sinken und richtete bittende Augen, als hänge sein Leben von meinen Suchkünsten ab, auf meine Lippen.
Ich suchte weiter.
»Ist es möglicherweise die Partitur La Vita Nuova für Sopran und Kammerorchester von Nicholas Maw«, die ich selber bestens, da bereits persönlich interpretiert, kenne?
Wiederum verneinte der Mann, diesmal mit einer Träne im linken Auge. Begann dann mit heiserer, klagender Stimme:
»Sie wollen mich nicht verstehen! Ich will das Leben verstehen. Mein Leben. Das Leben allgemein. Ihr Leben. Das Leben der Menschen. Das Leben der Tiere. Das Leben der Steine. Ich gehe jetzt auf die Achtzig zu. Letzte Gelegenheit, die Partitur des Lebens zu finden. Zu verstehen!«, und er drehte sich um und verliess uns zwei, die mit offenem Mund Zurückbleibenden, wohl auf dem Weg, seine Suche nach dem Sinn des Lebens an einem anderen Ort, hoffentlich nicht im aussen tobenden Gewittersturm fortzusetzen.