BUCHANDLUNG
ZUM GOLDENEN BUCHSTABEN

Unser Chef, oder war es die Werbeagentur – der geschniegelte, pomadierte Jüngling, seines Zeichens Assistent der führenden Verführer unserer Landeshauptstadt, schlich bereits wochenlang in unserer Buchhandlung herum, hatte beschlossen, eine einmalige Kreativaktion zur Förderung des Buchabsatzes um jeden Preis – denn ob mehr Bücher gelesen würden, war denen mit Sicherheit egal – durchzuführen. Es seien, wurde so laut und umfassend verkündet, als ob alle Spatzen der Stadt bestochen worden wären, damit sie die Neuigkeit von den Dächern pfiffen, in der Buchhandlung auf jedem Stockwerk fünf goldene Buchstaben versteckt, und wer diese als Erster finde, könne jene in 18 Karat gegossenen kleinen Kunstwerke sein Eigen nennen.

Am Morgen nach dieser Bekanntgabe drängten sich bereits zwei Stunden vor der Öffnung der Lokalitäten Menschentrauben vor dem Eingang. Schubsten sich. Beschrien sich, um eine bessere Startposition zu ergattern. Jedenfalls konnte bei diesem Gedränge niemand umfallen. Auch Tote würden aufrecht stehen bleiben. Der Boss sah aus dem Fenster im ersten Stock, das er weit geöffnet hatte, klopfte dem Schnösel, der mit einem modernen Abakus, einer Zählmaschine, die bei Knopfdruck jeweils eins dazu addierte, auf die linke Schulter, hob die rechte Hand und klatschte damit den Pomadierten ab.

Es schien also, dass sich die Urheber der Goldenen-Buchstaben- Idee ob deren Erfolg mächtig freuten, sich an ihrer Machtausübung gütlich taten, denn für mich war der ganze Spuk ein typisches Männermachospiel. Massen zu bewegen war seit Alexander dem Grossen über Napoleon bis hin zu den Diktatoren der Neuzeit ein Steckenpferd meist kleingewachsener Männer. Und tatsächlich kam mir unser Chef, der am Fenster stand und sich in seinem vermeintlichen Erfolg suhlte, von sonnen konnte keine Rede sein, viel kleiner vor als früher. Er war geschrumpft. Wie ein Kaschmir-Pullover, der nach der Wäsche in Babygrösse grüsst.

War ihm der Erfolg zu Kopfe gestiegen und hatten die Glieder dafür an Substanz eingebüsst? Jedenfalls war er, der Mächtige, nun klein, was mich keineswegs störte, zu lange hatte ich unter seinen Spleens zu leiden gehabt. Einmal war der Kaffee, den ich ihm kredenzen sollte, zu heiss. Ein andermal zu hell. Alles, gerade wie es ihm im Augenblick passte, sodass er, so vermutete ich mit meiner hohen intuitiven Trefferquote, seine Sorgen über den schrumpfenden Umsatz an mir, seiner Blitzableiterin, abreagieren konnte.

Nun also hatten sich die Voraussetzungen für mich und die Kollegen im Hause gebessert. Er war geschrumpft und so musste meiner bescheidenen, aber zutreffenden Meinung nach der Umsatz als Gegengewicht auch zwangsläufig zunehmen. Es gab in meinen Augen keinen anderen Weg. Und der kleine, jedoch angenehme Nebeneffekt war, so dachte ich in meiner Euphorie, dass ich ab jetzt die Oberhand über ihn hätte und er mir in Zukunft den Pfefferminztee, ich verabscheue den bitteren Kaffee, servieren würde. Grösse bringt Macht mit sich und die gedachte ich auszunutzen.

Denn der Eindruck, den dieses billige Schauspiel mit den goldenen Buchstaben abgab, kränkte meine Seele tief. Ein Kulturgut so zu »pushen«, es gab keinen passenderen Ausdruck als diesen amerikanischen Marketingbegriff, ist einfach abscheulich! Ich beschloss mit aller Schärfe nicht zu protestieren, das hatte ich bereits hinter mir. Nein, ich wollte die Sache hintertreiben, koste es, was es wolle.

Die Menge vor dem Eingang wurde mit jeder Minute, die sich der Öffnungszeit der Buchhandlung entgegen schleppte, unruhiger und wuchs wie ein Luftballon, den ein Kind bis möglichst an seine Grenze aufblasen möchte; wenn sich proportional zum Wachsen der gewölbten Membran auch die Angst aufbläht, könnte der Ballon gleich platzen. Der Pomadierte rieb sich die Hände und sprach gestenreich auf den Boss ein, der, so schien es mir, zunehmend beängstigt auf die Szene vor seinem Unternehmen sah. Überlegte er sich etwa, vorzeitig die Eingangstüren frei zu geben? Könnte aber dann nicht jeder, der später eintraf, einen Regress auf ihn, den Besitzer, nehmen und vor Gericht ziehen, um mindestens einen goldenen Buchstaben als Kompensation einzufordern? So dachte er bestimmt.

Ich hatte über die Dienstjahrzehnte hinweg gelernt, seine Gedanken nicht nur ansatzweise zu lesen, nein, auszuformulieren. So erledigten wir auch die Korrespondenz. Er musste nur ein Wort sagen und mir dabei in die Augen blicken, wirklich nur einen Augenblick lang, und ich konnte den in seinen Augen perfekten Brief aufsetzen, an dem es nichts zu mäkeln gab. Für Letzteres hatte er ja den Kaffee. Da konnte er sich so richtig austoben, und das tat niemandem ausser mir weh. Und wenn ich dadurch »ausser mir« war, betraf das ihn, den Macho in seinem Machtfüllewahn höchstens als Bestätigung.

Die Menge vor der Buchhandlung wuchs und wuchs mit jeder Minute. Ich hörte bereits durch die Schaufensterscheiben hindurch erste Schreie von Bedrängten. Dann grölende Männerstimmen. Kinder riefen nach ihrer Mutter. Die Situation schien ausser Kontrolle zu geraten und ich hatte immer weniger Zeit, einen Stock in die Speichen der Marketingdampfmaschine, deren Kessel zu explodieren drohte, zu stecken. Zudem hatte ich noch keine einzige Idee, wie das zu bewerkstelligen sei. Schnelle Hirnleistung war nun gefragt.

Ich hörte das Rascheln meiner Gedanken, das Seitenblättern in meinem Kopf. Wohl ein Berufssymptom von Menschen wie mir, die ihr gesamtes Leben den Büchern gewidmet haben. Und tatsächlich, bald vernahm ich einen Gedankenseitentango. Dann einen Walzer, wobei nur jeder dritte Gedanke und dann einzig jeder Vierte für würdig befunden wurde, in mein Bewusstsein zu dringen. Als immer noch kein brauchbarer Lösungsansatz auftauchte, schaltete mein Hirn das Notaggregat, den Denkturbo ein, was das Gefühl eines platzenden Kopfes, das Sie bestimmt auch kennen, auslöste.

Der Gedankensturm wirbelte Gedankenseiten, ja ganze Gedankenbücher durcheinander, Worte kämpften darum, auf die rasenden Gedanken aufspringen zu dürfen. Denn nur so konnten sie ihrer Erfüllung näher kommen. Gelang ihnen kein Aufsitzen, drohte der Garaus, das Versinken im Wortnirwana. In der Hektik verbanden sich Worte, formten sich neu und wurden unverständlich, sodass bald ganze Abfallgedankenzüge entsorgend mein Gehirn verliessen. Die verständlichen Worte klammerten sich an die wirbelnden Gedanken, bis ich vollkommen durcheinander geriet und trotz dieser Hirntortur keinerlei gangbare Lösung finden konnte.

Hätte ich nur einen Verbündeten!, schrie mein Herz in das brodelnde, sich wie ein Meteoritenstrom verhaltende Denkmeer. Und da! Eine Gedankenkette bildete sich. Sprach laut und deutlich, meinen Lippen die Impulse gebend: »Goethe. Doktor Faustus«. Ich erschrak zutiefst: Einen Pakt mit dem Bösen schliessen, um Böses zu verhindern. Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Das widerstrebte mir. Und wer sollte die Rolle des Hinkebeins, des Hufbeschlagenen übernehmen? Der Boss? Oder war vielleicht der Pomadierte eine moderne verkleinerte Mephisto-Ausgabe? Ein Bonsai-Mephisto mit unheimlichen Kräften?

Los, gehe zu ihm!, rief ein an meiner Hirnrinde gestrandeter Gedankensplitter aus seinem Rettungsboot mir zu.

Ich gehorchte subito. Nahm zwei Stufen auf einmal, um nach oben zu gelangen, setzte mein unschuldigstes Engelslächeln auf, schliesslich musste ich den Kerl überzeugen, und dachte, dass auch ein »Böser Bube« gegen einem ihm Hoffnung verheissendem Lächeln nicht immun sein könne.

»Darf ich den Herren einen Kaffee kredenzen?«

Der Chef sah mich böse an und stiess zwischen den Zähnen hervor:

»Wir haben genug Aufregung, ein Koffeinschub ist jetzt total fehl am Platz.« Doch Bonsai-Mephisto war anderer Ansicht. Machte sich wohl Hoffnung auf meine Seele. Seelenfressend gelassen antwortete er mit einem Lächeln, in dem ich die grinsend verzogene Teufelsmaske zu sehen vermeinte:

»Sehr gerne, mit Zuckerzeugs dazu. Bitte.«

Und zum Boss gewandt:

»Beruhigen Sie sich bitte! Läuft doch alles perfekt! So viel Kundschaft hat ihr Laden (das Wort Laden sprach er despektierlich aus) noch nie gesehen. Mein Honorar wird sich mehr als auszahlen. Und die Kassen werden mit dem Kirchturm um die Wette klingeln ...«

Was er weiter auf seinen Kunden einredete, vernahm ich nicht mehr, da die Kaffeezubereitung, die ich mir selbst eingebrockt hatte, mich vom Ort des Geschehens wegriss. Ich tröstete mich damit, dass möglicherweise der Kaffeesatz – ich wollte die Reste des Aufgebrühten in meinen persönlichen Becher giessen – mir Aufschluss über die vor mir liegenden Minuten geben könnte.

Tatsächlich blieb im hastig mit kaltem Wasser versetzten Getränk, um dieses in rasch Trinkbares zu verwandeln, ein herrlicher Satz. Ein Vogel? Eine Libelle? Ein Haus? Eine Menschenmenge? Die Hölle? Ich sass über der Tasse und grübelte. Befürchtete, dass ein neuer Gedankensturm aufziehen würde, der mich dann entführen und auf Nimmerwiedersehen meiner Aufgabe, Mephistos Pläne zu durchkreuzen, entziehen könnte. Aus diesem Satz wurde ich nicht klug. Schliesslich bestand er nicht aus Worten, Worten die mein Inneres, meine Seele erfüllten. Konnten es Flammen sein? Oder eine Eisblume? Ein Eis am Stiel? Bestimmt nicht. Denn die Aktion mit den goldenen Buchstaben war so ohne Stil, dass selbst ein kleines »e« sich verwahrt hätte, in dieses kurze Wort hinein zu schlüpfen. Wo aber konnte ich den wortlosen Satzerklärer finden, der mir weiterhalf.

Ratlos sass ich da. Wusste, dass die mir verbleibenden Sekunden leise durch die Sanduhr des Tages rieselten. Das Stundenglas der Hölle grüsste schon mit ewiger Langsamkeit, die mit teuflischem, scharf gewürzten Tempo versetzt war. Da! Plötzlich erblickte ich im Kaffeesatz einen Schmetterling. Nein, nicht bunt. Schwarz wie der Tod. Ein Flatterwesen, das aus der Unterwelt den Weg in meinen Becher gefunden hatte. Was sollte das bedeuten? Wie konnte das Bild mir helfen? Wie konnte ich mit ihm den Bonsai-Mephisto, der auf seinen Kaffee wartete, samt meinem Boss besiegen, und das Unheil abwenden, das sich vor dem Geschäftseingang zusammenbraute und die Kultur in die Gosse zu ziehen suchte?

Vor meiner leeren Kaffeetasse sitzend kam ich mir vor wie ein mittelalterlicher Anti-Alchemist, der aus Gold einfachstes Blech gewinnen wollte. Denn sicherlich, das sah ich den angedeuteten pechschwarzen Fühlern des Satzschmetterlings an, würde der Hype rasch in sich zusammenbrechen, wenn sich einzig Blechbuchstaben in den Regalen fänden. Die Wutwogen der goldgierigen Masse würden dann meinen Chef samt seinem Berater in das Meer des Vergessens spülen und ich wäre beide los. Doch halt! Dann wäre auch meine Arbeitsstelle weggespült und ich arbeitslos. Sackgasse!, warnte mich mein Gedankenrettungsschirm. Anti-Alchemist war kein Notausgangsstollen in dieser bedrohlichen Situation.

Verzweifelt liess ich den Satz Kaffeesatz sein, stand auf, brachte den bereits fast erkalteten Kaffee zum Besteller, der für mich wahrlich kein Bestseller war. Kalter Kaffee, dachte ich, passt zu dem Werbefritzen. Kann ihn nur noch hübscher machen. Er nahm den Kaffee samt Zuckerzeugs mechanisch dankend an, ohne mich eines Blickes zu würdigen, betätigte »Klick, Klick« seine Zählmaschine, als zähle er all die Seelen, die er am heutigen Tag als Beute abernten und abberufen könnte. Und da, wie ein Donnerschlag, traf mich die Erkenntnis, dass ich einzig in die Gedankenwelt des Schnösels einzudringen hatte wie eine Bodenwespe, die sich tief im Erdreich ein Nest zu bauen weiss und von dort aus die Raubzüge zur Ernährung ihrer Brut unternimmt. Meine Brut aber war die Rettung der Kultur. Der Literatur. Der Schutz unserer abendländischen Traditionen. Wenn es Goethe gelungen war, eine Parabel über Gut und Böse so genial zu verfassen, sollte es mir, selbst wenn ich mich keineswegs mit diesem Genie vergleichen möchte, glücken, den Pomadierten mit seinen gemeinen Plänen auszutricksen.

Also versetzte ich mich in tiefe Meditation, die weder der Boss noch sein Begleiter – zu fest waren sie mit Beobachten und Händereiben beschäftigt – bemerkten, und drang bewehrt mit dem Wort »Stachel« in meiner Linken und dem Ausdruck »gedankenfindig« – das Gegenteil von »gedankenverloren« – in die Hirnrinde des Marketingspezialisten ein.

Hier brannte, ich erschrak bei diesem Anblick, ein grosses, mich blendendes Feuer, in dem Tausend kleine Klauenpfoten Eisen verflüssigten, die heisse Masse in kleine käferartig gestaltete Förmchen gossen, diese, sobald gefüllt, mit eisigem Wasser aus dem Herzen des Kerls abschreckten. Dadurch zischte es und weisser Rauch stieg auf, der nicht etwa einen neuen Papst ankündigte, im Gegenteil die coolen Käfer in die Stratosphäre schoss, um sie über den Jetstream auf dem gesamten Globus zu verteilen. Ihre mir offenkundige Aufgabe war es, dort, wo sie hingelangten, Begierden auszulösen. Begierden nach mehr und noch mehr. Ganz gleich, um welche sofort zu erfüllenden Wünsche es sich handelte. Sie sollten die Menschen antreiben, um sie in die Masslosigkeit der Begierden zu führen.

Und ich sah eine Gold-Rush-Rakete mit Tausenden der kleinen Viecher auf die Menschenmenge vor unserem Eingang zusteuern und sich dort rasant schnell verbreiten. Die Menge begann darauf zu toben und rief im dissonanten Chor:

»GOLDBUCHSTABEN! Goooldbuuuchstaben! Jetzt! Und nicht dann! Jetzt und nicht dann!«

Was nur konnte ich dem mit meiner Meditation entgegensetzen? Ich musste die Produktion im Hirn des Verkaufgenies unterbrechen. Dort Antikäfer produzieren lassen. Doch wie war das zu bewerkstelligen?

Ratlos legte ich auf der Hirnrinde des Schnösels eine kurze Denkpause ein. In diesem Augenblick hörte ich ein Krächzen. Ein durchdringendes »Korah, Korah«, erstaunlicherweise einzig auf dem linken Ohr. Das rechte war wie taub.

Ich wagte einen Blick fort von der Hirnrinde auf meine Schulter und sah dort einen überdimensionierten Raben, der sich auf meine Schulter gesetzt hatte und sich meinem Ohr näherte. Nun, Raben sind nicht zierliche, jedoch zutrauliche Wesen, räsonierte ich. Wer weiss, möglicherweise will er mir eine Botschaft vermitteln. Doch weit gefehlt. Meine Annahmen, meine Intuition, meine Klarsicht schienen mich an diesem Morgen verlassen zu haben, denn anstatt mit mir zu sprechen, schrumpfte der Vogel, wurde zunächst klein wie ein Spatz – Spätzchen wäre der bessere Ausdruck, korrigierte mich mein seit Jahren ebenfalls geschrumpfter, aber immer noch unermüdlicher Lehrerseelenanteil –, dann flatterte er wie ein schwarzer Kolibri um mein Haupt, um dann zusehends die Grösse einer Mücke anzunehmen, sich in mein linkes Trommelfell vorzuarbeiten und mir dort in hellsten Tönen, die mich an Mozarts Königin der Nacht erinnerten, einzuflüstern:

»Ich bin der Zahn der Zeit, mach dir nichts draus, der Tanz um den goldenen Buchstaben hat begonnen und du, du bist mittendrin!«

Der Tanz um den goldenen Buchstaben? Mein Blick wandte sich dem Eingang zu. Da sah ich ihn, diesen zügellosen Tanz, ein wogendes Menschenmeer, das einem einzigen Gedanken gehorchte: dem Ziel einzudringen und der ausgelobten Buchstaben Herr zu werden. Gelobt? Wie konnte so ein Unsinn, ein solches Ziel gelobt werden? Oder lag im Wörtchen »aus« die Rettung vor dem Bonsai-Mephisto? Aus und fertig!

Ich hatte die Aufgabe, die Bücherwelten, diese fantastischen in sich vollkommenen Planeten und Universen vor der goldenen Zerstörung in Sicherheit zu bringen. Denn falls dieser Mob eindringen würde, lägen die Bücher bald mit zerrissenen Seiten zerfleddert am Boden, geschändet, nichts als Abfall, bereit für die nächste Papiertonnensammlung. Und das durfte niemals geschehen, das konnte ich nicht tolerieren!

Noch einmal drang ich in die Gedanken des Werbeteufels ein, überwand die Sperre seiner Hirnrinde, sodass ich mich nun frei in seinem Gedankenwald bewegen konnte, der dunkel, kaum Licht einlassend, sturmwogend vor mir lag. In weiter Ferne jedoch sah ich einen Sonnenstrahl, der es geschafft hatte, das Dunkel zu vertreiben, eine Lichtinsel zu schaffen, die, als wäre es ein Boot, bereit zum Ablegen vor mir lag. Und nun war es wie ein Geschenk des Himmels, da verbanden sich in meinem Kopf zahllose Gedanken, bauten Gänge, gruben Höhlen, stiegen tief hinab in mein Unterbewusstsein. Fahndeten dort nach Lösungstrümmerteilen, die sie zu einem Ganzen zu kitten suchten.

»Etwas bauen! So viel können wir sagen. Nicht mehr und nicht minder«, war ihre Botschaft an mich und sie verabschiedeten sich in den wohl verdienten Feierabend, wie sie betonten. Die Gedankengewerkschaft hätte ihnen untersagt, weiter zu forschen, denn sonst könnten Forderungen von Nach- und Nachtarbeit entstehen, was sie zwar bereit wären zu leisten, doch eine Gedankengewerkschaftsrüge, nein, die könnten sie nicht riskieren. So zogen sie sich alle hurtig in den gedanklichen Feierabend zurück, labten sich an Köstlichkeiten und Delikatessen, schlürften aus kristallenen Hirnströmen Ambrosia und weigerten sich, zuerst standhaft und anschliessend leicht beschwingt, an Lösungsansätzen zu arbeiten, nach denen es mich trieb.

Auf einmal erkannte ich, wie es sich anfühlte, mit einer gespaltenen Persönlichkeit in sich zu leben. Denn auf der einen Seite war da mein absoluter Wille, der Entweihung unserer kulturellen Berufung einen Damm entgegen zu setzen, auf der anderen lag mein Unwille, mich dem Quasistreik meiner Gedankenkraft zu stellen.

Von so viel Entscheidungsdruck überfordert, liess ich mich einfach in mein Gedankenmeer fallen. Schwamm genüsslich in deren Freizeitwogen. Erblickte eine Gedankenkette die sich dem Segelvergnügen hingab. Über Gedankenwellen surfte. Wellen schlug. Volle Segel setzte und sich bald wie ein Geschoss auf Gedankengischt treiben liess. In meinem Inneren löste dieser Anblick Erinnerungen an die Kindheit aus. An den Bau der Arche Noah. An die erstaunten Blicke aller Tierpaare, als kein Land mehr in Sicht war. Meine Fantasie hatte damals eindrückliche Kopfbilder gemalt. Ich, die inmitten aller Geschöpfe am Steuerruder der Arche stand, meinem Ehemann beistehend den schrecklichen Sturm zu überleben und den verheissenen Berg Ararat zu finden. Und trotz oder eben wegen des scheinbar zwecklosen Freizeittreibens meiner Gedanken, wusste ich auf einen Schlag, was zu unternehmen sei.

Ich baute, meinen Gedanken viel Spass dabei versprechend, eine handliche Buchstabenarche. Hastete dann in die Buchhandlung und sammelte von jedem Buchstaben ein Paar. Jeweils kräftige Exemplare, denn diese würden die Garanten der Zukunft sein, sobald ihre Vermehrung zur Sicherung der Bücherwelt nach der Landung am Berg Ararat einsetzen würde. In grösster Eile suchte ich auch all die fremdländischen Buchstaben, ob Arabische, Hebräische, Japanische oder Chinesische zusammen, selbst Hieroglyphen vergass ich nicht. Darauf packte ich alles in meine Kopfbilderarche ein und stach mit meiner wertvollen Ladung in das unendliche aufgewühlte Gedankenmeer. Die goldenen Buchstaben des Marketing-Genies liess ich absichtlich zurück. Sollten diese doch die Gierigen erfüllen.

Doch nach zwei vollen Tagen (oder waren Wochen oder gar Jahre auf hoher See des Gedankenmeers verflogen?) erblickte ich in der Buchstabenecke, die sich auf meiner Gedankenarche die französischen Nasalen ausgesucht hatten, einen menschlichen Artgenossen, hinter dessen breitem Grinsen, als er mir den Kopf zuwandte, ich den geschniegelten Werbekumpanen meines Chefs erkannte …