In der heutigen Post – der Bote liefert sie stets zwischen elf und zwölf Uhr mittags – befindet sich ein rot gestreifter Umschlag. Keine Ahnung, was er beinhaltet. Ich trage ihn, nachdem ich dem Postboten noch einen Morgengruss nachgerufen habe, er ist bereits wieder beim Abstieg, zusammen mit der Tageszeitung in meine Wohnküche, in der das Feuer im Kamin behaglich knistert, setze mich in den Lehnstuhl und entscheide, mich zuerst dem Tagesgeschehen hinzugeben. Ja, Hingabe ist das treffende Wort, wenn ich deren Hiobsbotschaften täglich verinnerliche.
Hingabe zeigt jedoch auch mein Postbote, der täglich bei jedem Wetter den mühsamen Weg hoch zu mir, in meine Alphütte, die nur zu Fuss erreichbar ist, unternimmt. Ich bewundere ihn, ja, beneide ihn, denn er hat wie ich früher, als ich noch Buchhändler war, einen geregelten Lebensinhalt, während ich als Schriftsteller mich stets aufs Neue aufraffen muss, Erdachtes dem Papier zuzuführen, um es dann meistens mit der Löschtaste wieder zu entfernen, da der Gedanke in meinem Kopf glänzender erstrahlte, als er sich dumpf auf Papier präsentiert.
Ein Schreiberling zu sein ist kein geregelter Beruf. Oft übermannen mich Zweifel, ob der vollzogene Seitenwechsel vom Verkäufer in der Grossbuchhandlung zum Buchgestalter richtig gewesen sei. Wäre ich Postzubringer geworden, wüsste ich am Ende des Tages, der Woche, des Jahres, dass ich meine Pflicht erfüllt hätte und mich ruhig in den Lehnstuhl setzen könnte. In den Lehnstuhl, in dem ich jetzt gerade sitze. Unzufrieden. Unerfüllt. Den Kopf voll und leer zugleich. Ohne heutige Pflichterfüllung.
Es kostet mich Überwindung, die Zeitung aufzuschlagen. Und dies allein in der vagen Hoffnung, darin Anregung für die Fortsetzung meiner Erzählung zu finden, die seit Tagen ins Stottern geraten ist, ja, sich zur Sprachlosigkeit, zur Stummheit hin entwickelt. Mord und Totschlag begleiten mich bei den neusten Nachrichten. Durchblättern. Hass und Krieg. Bissige Kommentare zu kulturellen Werken, Häme versprühend. Unglücksfälle. Diebe. Überfälle. Crashs. Einzig die wundersame Rettung aus einem abgestürzten Fluggerät, aus dessen Wrack genauer gesagt, gibt meiner Seele leichten Auftrieb. Ich spreche wie fast jeden Tag das Todesurteil über den Überbringer der schlechten Nachricht.
»Tod auf dem Scheiterhaufen!«, exklamiere ich lauthals und verbrenne genüsslich all das Leid, das Unglück, die Intrigen, säubere damit einen winzigen Teil unseres Planeten, so denke ich und hoffe auf diese Weise zur Kreativität zu gelangen. Durch das Fegefeuer Auftrieb zu bekommen zum Fortsetzen meiner mir selbst aufgetragenen Pflicht. All das was ich an meiner früheren Stelle nicht unternehmen konnte. Keine Buchexekutionen von Geschmacklosem von Negativinhalten waren damals möglich. Ich musste diese still leidend erdulden. Wenigstens in dieser Hinsicht bin ich aufgestiegen. Nicht nur zur Alphütte. Nein, hier oben kann ich handeln. Aus Notwendigkeit. Schon nur um auch den Kamin zu entzünden.
Aber, da ist doch noch dieser geheimnisvolle Brief ohne Absenderangabe. Soll ich ihn auch zum Tode verurteilen? Ohne Anhörung? Nein, das wäre ungerecht. Doch wer sich nicht outet, hat Strafe verdient. Aber nicht ohne Prozess. Die Exekution kann anschliessend guten Gewissens erfolgen. Nach der Verteidigung des Briefs, seines Inhalts.
Ich behändige das Küchenmesser, das zur Herstellung von Spänen neben dem Kamin bereit liegt. Es gleitet mir aus der Hand. Ich fasse das Messer, leider an der scharfen Klinge. Ein Schnitt! Dieser Brief weiss sich zu verteidigen, so mein Gedanke. Aggressiv ist er! Ich muss ihm Fesseln anlegen, bevor ich ihn öffne. Handschellen. Und ich stehe auf, nehme die grosse Pendenzenklammer, die auf dem Küchenbord voller Zettel und offener Rechnungen liegt und klemme den Umschlag fest. Blutflecke zieren jetzt seine Ränder. Ich gehe zum Verbandskasten, pflastere nach eiskaltem Fingerbad in meinem Quellwasser die Wunde zu und wende mich erneut zum Bösewicht, der jetzt still in seinen Fesseln liegt. Ich greife nach dem Messer, schlitze ihn auf und entwinde ihm den Inhalt. Sehe, dass auch dieser rotgeädert leuchtet. Ich hole meine Lesebrille und entfalte das Blatt – mein Blut bedeckt einen Teil der Schrift.
Ich habe Mühe zu lesen. Es handelt sich um eine Vorladung … zu einer Prüfung. Was soll das? Sie findet in vier Jahren und dreihundertneunundfünfzig Tagen statt. Um welche Prüfung handelt es sich denn? »Lebensprüfung« steht da und darunter am Seitenende: »Sie haben sich pünktlich einzufinden!«
Doch den Absender, das Amt, kann ich nicht entziffern. Was habe ich nur verbrochen? Ich versuche den Blutfleck, der meiner Wunde zuzuschreiben ist und den Unterzeichner verdeckt, wegzuwischen. Das Blut ist eingetrocknet.
Ich muss mich schlau machen: Suchmaschine. Blutfleck auf Papier entfernen. Ich werde fündig:
Ist Papier betroffen, muss man besonders vorsichtig vorgehen. Entweder tupft man die Stelle vorsichtig mit einem in Chlorwasser getränkten Wattebausch ab oder man legt die Stelle mit dem Blutfleck zwischen zwei Blätter Löschpapier und träufelt etwas Wasserstoffperoxid darauf.
Ha! Wo Wasserstoffperoxid finden? Das Chlorwasser! Ich habe doch noch eine Chlortablette für alle Quellverschmutzungsfälle.
Ich finde sie gleich. Bin stolz auf meine Ordnung. Ich nehme einen Wattebausch, tupfe ab und erbleiche ob des Gesehenen.
Da steht als Unterzeichner: DAS JÜNGSTE GERICHT.