Schnecken sind seltsame Tiere. In den ruhigen Stunden kurz vor Mitternacht unserer Bahnhofsbuchhandlung mit ihren langen Öffnungszeiten habe ich mir dieses Thema vorgenommen. Vertiefe mich in das Schneckenleben, das mich in dieser hektischen Ecke des menschlichen Daseins, dem Bahnhof, besonders fasziniert. Habe mir alle lieferbaren Schneckenbücher zur Ansicht bestellt. Plane als Kontrapunkt zur aufgeregten Atmosphäre hier eine Buchausstellung über diese von mir bewunderten Lebewesen.
Die Schnecken bewegen sich so langsam und doch sind sie uns Menschen in einem Punkt verwandt: Oft unternehmen sie unmöglich erscheinende Wagnisse und können scheinbar Unmögliches vollbringen. Von so einer Schnecke will ich Ihnen berichten:
Von einer Königsschnecke.
Sie wissen nicht, was eine Königsschnecke ist?
Nun, spätestens am Schluss meines Berichts werden Sie diese Wissenslücke geschlossen haben, dessen bin ich mir sicher.
Die einzige Frage, die ich Ihnen nicht beantworten kann, ist, ob es sich tatsächlich um eine Königsschnecke handelte oder um eine Königinnenschnecke, oder beides in einem. Die Geschlechtsmerkmale sind bei diesen Weichtieren mit ihren harten Gehäusen äußerst schwer ausfindig zu machen. Es ist aber nicht von so grosser Bedeutung, ob es eine Königin oder ein König war. Ich meine, im Verhalten sind ja alle Schnecken gleich, obwohl das auch wieder eine unangemessene Verallgemeinerung darstellt, als wollte ich behaupten, alle Pferde oder alle Schweine oder gar alle Menschen seien gleich.
Einzig für unser Auge jedoch haben alle Schnecken gewisse einschlägige Merkmale, anhand derer wir sie einordnen können.
Eine Dame stand vor mir und schmökerte in einem der Schneckenbücher, das auf der Kassentheke lag, die ich gerade studierte, und strich mit ihrer Hand über das graublaue, gepflegte, dauergewellte Haar, das unnatürlich, perückenhaft wirkte und ich hatte in meinem jugendlichen Übermut die Vorstellung, sie streichle ihre Fühler. Aus ihrer Rede schloss ich nämlich, dass sie einiges von Schnecken verstand, eine Verwandtschaft also nicht auszuschliessen war.
»Also die Königsschnecken sind erstens recht lang und von graublauer Farbe …«, erklärte die Dame.
»Bitte, verehrte Dame, ich bin hier, um Auskünfte zu erteilen und kann Ihnen deshalb leider nicht weiter zuhören, obwohl ich mich brennend für Schnecken und ihre Arten und Unarten interessiere. Doch ich kann mich Ihnen jetzt nicht widmen, sonst vernachlässige ich meine Dienstpflicht auf das Gröbste, was ich nicht zulassen kann«, entschuldigte ich mich, denn es standen trotz der späten Stunde an die fünf Kunden an der Kasse, alle in Eile. Wie sollte es an einem Bahnhof anders sein?
Die Dame strich wiederum über ihr Haar, verweilte jedoch mit beiden Händen länger an einer Stelle, rieb sich leise die Kopfhaut und, das war irritierend, zupfte an einer Stelle, als müsste sie die Fühler ob meiner beschämenden Bemerkung aufrichten.
»Mein Herr«, bemerkte sie verletzt und mit spitzem Tonfall, »wenn Sie nicht in der Lage sind, sich um die entscheidenden Dinge des Lebens zu kümmern, muss ich Sie bedauern, sogar sehr bedauern. Schnecken sind nämlich Wesen, die großen Wert auf Zeit legen und fähig sind, sich stets Zeit zu nehmen. Im Gegensatz zu Ihnen, kennen sie keine Ungeduld und sind wie ein Umkehrschluss zur heutigen schnelllebigen Zeit. Die Schnecken wenden sich vergänglichen Lebewesen zu, wie Sie eines darstellen, scheuen keine Mühe auf ihr Gegenüber einzugehen und versuchen, es zu erfassen.«
Erneut strich sich die Dame über den Kopf und führte weiter aus:
»Sich dem anderen zuzuwenden, sich für ihn Zeit nehmen und selbst bei Unwägbarkeiten Risiken in Kauf nehmen, Wagnisse, wie ich bereits einmal bemerkt habe, wenn Sie sich noch gnädigst daran erinnern wollten.«
Das Wort »gnädigst« sprach sie voller Spott und nicht ohne Giftigkeit aus und mich durchzuckte der Gedanke, dass es womöglich giftige Schnecken geben könne.
Jetzt fixierte sie mich mit ihren kleinen, blauen Stecknadelaugen und fuhr fort:
»Wagnisse zum Beispiel, sich selbst mit jemandem wie Ihnen zu unterhalten, obwohl dieser weit entfernt ist von der Adelsgröße einer Königsschnecke. Ja, Sie meine ich, der Sie sich dem Gespräch zu entziehen suchen, aus Eile, aus falscher Dienstauffassung, mein Herr, aus Nachlässigkeit und um aus fehlendem Mut, sich nicht den Gegebenheiten des Lebens stellen zu wollen. Ja, ja, sehen Sie mich nur voller Entsetzen an!«
Die Dame legte eine Pause ein. Jetzt sah ich, dass sie einen Rucksack trug, reichlich seltsam für eine Dame in ihrem Alter. Es war ein Rucksack mit spiralförmigem Stoffmuster. Fast wie ein Schneckenhaus, folgerte meine innere Stimme.
Nein, das kann doch nicht so weiter gehen!, dachte ich, wandte mich ab und drehte meinen Kopf in Richtung der Kasse und der wartenden, ungeduldigen Kundschaft. Doch auch dort stand die Dame und beobachtete mich. Ich drehte mich um, aber hier befand sie sich auch.
Ich scheine zu träumen, es ist ein Alptraum, suchte ich mich innerlich zu beruhigen, doch musste ich feststellen, dass ich im Dienst war und mich mit beiden Beinen hier an meiner Arbeitsstelle am Bahnhof befand. Ich muss völlig übermüdet sein, tröstete ich mich erneut. Doch irgendetwas stimmte hier nicht, denn jetzt waren es bereits sechs, nein ein Dutzend alter Damen, die mich umringten. Sie hatten alle blau-graue Haare, ihre Hände berührten den Kopf und mit den Fingern massierten sie eine bestimmte Stelle auf dem Haupt. In kakophonischen Tönen flüsterten sie und versuchten, mich mit einer dissonanten Melodie einzulullen.
Ich muss fort von hier, war mein nächster Gedanke und dabei zog sich mein Zwerchfell angstvoll zusammen.
Nun sah ich eine übergroße Schneckendame auf mich zukommen, sie schlug mit einem großen Stab in der Hand den Takt für alle anderen Schnecken. Töne überlagerten alle Bahnhofsgeräusche, die spiralförmigen Muster auf den Rucksäcken schillerten im Scheinwerferlicht. Die Uhr zeigte null Uhr zehn an und ich musste nicht ganz bei Sinnen sein.
Mit einem Mal drückte mir die Anführerin der Königsschnecken einen Zettel in die Hand, auf dem mit fetten Buchstaben SCHNEGGE CLIQUE stand.
Da fiel mir ein, dass an diesem Tag die Fasnacht begann.
Befreit lachte ich auf und wandte mich an die übergroße Dame:
»Gratuliere, Ihre Kostüme sehen verblüffend echt aus. Vor allem mitten in der Nacht führen sie zu ganz abwegigen, spiralförmigen Gedanken!«