Der Kunde – es war bereits Feierabend an diesem regnerischen Samstag und ich freute mich auf das Wochenende mit meiner Familie – liess sich durch das laute »Ende-Arbeit-Klingeln« in seinem Stöbern in der Esoterik-Abteilung nicht stören. Meine Kollegin und ich, die an jenem Tag Schlussdienst zu leisten hatten, wurden allmählich nervös. Solche Menschen, die keine Rücksicht auf uns, die Bediensteten nehmen, kennen wir aus dem Effeff. Sie suchen uns regelmässig heim, lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, sehen uns als Buchsklaven ohne jedes Privatleben an. Da nützt meist weder räuspern, noch hüsteln, selbst das direkte Ansprechen unter Hinweis auf den Ladenschluss wird mit giftigen Blicken oder mit Weghören quittiert.
An jenem Abend jedoch antwortete der Kunde mit wutentbrannter Stimme:
»Kein Wunder, dass die Internet-Bestellungen überhandnehmen. Dort kann ich ungestört bis weit in die Nacht stöbern, ohne gestört zu werden!«
Ja, was sollte ich da antworten? Wie dem Mann Beine machen? Sollte ich welche zeichnen? Ihm ein Buch über Beinhäuser (das Beinhaus, das Ossuarium, von os, Knochen, ist ein überdachter Raum, in dem sich Gebeine von Toten befinden) vorschlagen? Schliesslich war er in der Esoterikabteilung, da würde sich anbieten: klappernde Gebeine. So wie in Gabriel García Márquez' »Hundert Jahre Einsamkeit «, der 1982 den Nobelpreis für Literatur erhielt, die Gebeine eine der Protagonistinnen, in einem Säckchen klappernd, durch das Leben begleiten.
Oder sollte ich ihn mit einem Feierabendgeist, der nicht einer Flasche entschwebt, sondern sich aus einem dicken Wälzer wälzt, so erschrecken, dass er seine Beine unter die Arme nimmt und entfleucht (ich liebe dieses Wort, das nach Duden altertümelnd scherzhaft von Autoren eingesetzt wird). Doch die Dschinns erscheinen mir nur in meinen Träumen. Wie ich sie im realen Leben beschwören kann, entzieht sich meinen Kenntnissen. Möglicherweise bin ich mit meinen siebenundvierzig Jahren dafür noch zu jung.
Jedenfalls schmökerte der Mann weiter. Beachtete mich nach seinen unhöflichen Worten gar nicht mehr. Ich war, so fühlte ich, für ihn so lästig wie eine Schmeissfliege. Da war guter Rat teuer. Und fragen, wie vorzugehen sei, konnte ich nicht einmal einen Chef, da ich an diesem Tag der Ranghöchste in der Buchhandlung war, also selbst entscheiden musste.
Sollte ich ihn einfach einschliessen? Eine Nacht in einem Buchladen zu verbringen, ist sicher kein Zuckerschlecken. Er konnte zwar nicht wissen, dass in der Dunkelheit die Buchstaben aus allen Büchern hüpfen, Sarabande und Tango tanzen, sich eng umschlingen und an der erlangten Freiheit berauschen; oder zu entfliehen suchen, um zu Autorinnen und Autoren zu gelangen, in der Hoffnung, kreativ eingesetzt, neu erfunden zu werden, frischen Lebenssinn zu ergattern, was nur wenigen gelingt. So eine gespenstische Buchstabenchaosnacht zu überleben, dazu waren Nerven in Drahtseildicke von Nöten und die traute ich unserem Quälgeist-Gast nicht zu.
Also musste ich ruhig bleiben. Weiter nach Lösungen suchen. Beobachten. Erkennen, wonach er sucht. Ihn damit befrieden. Ihn ohne Randale das Lokal verlassen lassen. Nach einem Hooligan sah er nicht aus. Und bei jedem Buch, das er in seine erstaunlich feingliedrigen und gepflegten Hände nahm, sah er einzig auf das Preisetikett.
Musste er ein Geschenk für jemand Lieben besorgen und hatte zu wenig Geld? Das konnte ich kaum glauben, war er doch gut gekleidet und ein Duft eines teuren Aftershaves, das ich sehr mochte, umgab ihn wie eine leichte, filigrane Wolke. Wartete er einzig auf einen unbewachten Augenblick, um etwas in seiner Manteltasche – er trug einen diskreten, Luxus verströmenden Burberry-Regenmantel über seinem rechten Arm – verschwinden zu lassen? Doch da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ich war an diesem Abend der Wirt, der die Polizeistunde verkündete. Zwar erwarteten ihn und mich keine Busse wegen Nichtbeachtung gesetzlicher Bestimmungen, doch meine Gemahlin bereitete jeweils ein exzellentes Familien- Abendmahl – mittags habe ich mich mit einem belegten Brot zu begnügen, zu kurz ist die Mittagspause bemessen – und ein vernichtender Blick von ihr des Zuspätkommens wegen ist eine schlimmere Strafe als ein pekuniär zu begleichender Strafbefehl. Ein verdorbener Abend ist ein Leben lang nicht mehr einholbar.
So wagte ich mich denn noch einmal zu einem friedlichen Frontalangriff – sofern ein Angriff überhaupt friedlich ausgeführt werden kann.
»Sie suchen eine gewisse Preisklasse? Da kann ich bestimmt helfen «, sprach ich ihn an.
Er hob seine Augenbraue – ich stellte fest, dass die linke weit buschiger als die rechte war –, sah mich an und eine Lächelfalte erschien an seinem unteren rechten Lippenrand. Ein Grübchen, das sich munter hin und her bewegte, als würde es einen Reigen tanzen.
Ich schien also auf dem rechten Weg. Der feine Duft, der vom Kunden ausging, beflügelte mich, neben dem imaginären Duft des bevorstehenden Nachtessens, der jetzt schon meine Nasenpapillen kitzelte.
»Wie teuer darf es denn sein? Was ist ihr Limit?«
Die Lächelfalte verschwand im Nu. Eine sich kräuselnde, dann sich vertiefende Stirnfalte erschien sogleich.
Sackgasse, signalisierte meine rechte der linken Hirnhälfte. Auf Glatteis bist du jetzt gelangt, finde einen kreativen Ausweg. Ich hatte in der Eile ohne Weile den gröbsten Fehler eines Verkäufers begangen. Schon in der Lehrzeit lernen wir, niemals die Frage »Wie teuer darf es sein?« zu stellen oder uns nach einem Preislimit zu erkundigen.
Noch bevor der Herr mir antworten konnte, bemerkte ich in der Hoffnung, zu klassischen Bügelfalten zurück zu gelangen, den Kopf demütig leicht gesenkt:
»Der Preis spielt mit Sicherheit keine Rolle. Ein Geschenk muss von der Seele kommen!« – Volltreffer!, signalisierte der rechte Hirnstrom seinem Partner.
Und tatsächlich erschien erneut das Grübchen unten rechts. Die Stirnfalte glättete sich, als ob wir uns unmittelbar im Auge des Taifuns befinden würden und absolute Windstille eine spiegelglatte Stirnfläche herzuzaubern wüsste.
»Ja! Sie haben es erfasst! Ich muss ein Buch für meine Freundin erwerben, dessen Preis aus lauter herrlichen Siebenern besteht. Sie ist überzeugt, dass Zahlen zum Glück führen können. Insbesondere die Sieben. Also, können Sie mir etwas anbieten, was siebenundsiebzig siebenundsiebzig kostet und das Preisschild auf alle Fälle auf dem Geschenk belassen? «
Ich zermarterte sofort mein Hirn. Im elektronischen Buchregister konnte ich ja so etwas nicht finden. Da kam mir, beflügelt vom virtuellen Nachtessensduft in meinem Kopf, der nun allmählich mein ganzes Wesen zu übernehmen schien, eine Lösung, auf die ich noch heute stolz bin. Sehr stolz sogar.
In unserer Unterhaltungsabteilung bieten wir Rätselhefte an. Bei einem davon, den Symbolrätseln, kommen Zahlenfetischisten voll auf ihre Kosten. Jedes Symbol steht für eine Zahl. Durch logisches Kombinieren können die Rätselfreunde herausfinden, welche Zahl sich hinter welchem Symbol verbirgt. Das Heft jedoch war wesentlich günstiger als der erwünschte Vier-Siebener-Preis, kostete vier neunzig – da hatte sich der Verlag wahrhaftig nicht in die Zahlenfetischisten hineingedacht. Er hätte seine Gewinnspanne wesentlich erhöhen können, hätte der Heftpreis sieben siebzig betragen. Und auch wir hätten mehr verdient.
Nun, ich führte den Kunden zur Unterhaltungsabteilung und zeigte ihm das Heft. Seine Stirnfalte wuchs beim Betrachten des Preisschilds erneut.
»Keine Angst, mein Herr, ich drucke Ihnen ein neues Etikett. Sieben siebenundsiebzig. Ist das so in Ordnung?«
Jetzt erschien auch ein zweites Grübchen links der Unterlippe. Zufrieden verliess er unsere Buchhandlung und ich genoss zuerst das virtuelle, später das echte Nachtmahl und dankte meiner linken Hirnhälfte mit einem herrlichen spanischen Wein.