DIÄT

Unsere Buchhandlung befindet sich im gehobenen Viertel unserer Stadt. Klug hat der Besitzer, ein ehemaliger Angestellter der grössten Buchhandlung der Metropole, den Standort ausgesucht. Denn die Belesenen, »die Möchtegernliteraten«, die in Kulturangelegenheiten mitsprechen wollen, wohnen hier. Es sind die Menschen, die auch bei Smalltalk über Neuerscheinungen, bei neu aufgehenden Sonnen der Literatur und deren Eruptionen mitsprechen wollen.

Sie kommen beinahe täglich zu uns. Betrachten aufmerksam die Bestsellerlisten. Noch mehr aber die Neuerscheinungen, denn dort liegen die Plauderschätze ausgegraben, mit denen in der Gesellschaft zu glänzen ist. Hier ist Neues zu entdecken. Hier kann Neuwissen erworben und dann bei der Abendgesellschaft zungenwarm als geistiges Häppchen dargeboten werden.

Auch wir Buchhändlerinnen – was für ein famoser Ausdruck der deutschen Sprache: Händlerinnen, wir handeln doch nicht, jonglieren auch nicht mit unseren Händen, sondern vermitteln Inhalte – sind für solche Kunden eine wahre Schatzkammer an Kultur. An Wissen. Einen besseren Beruf kann ich mir für mich nicht vorstellen. Nicht einmal im Schlaf. Auch nicht im Traum.

Eine der Gesellschaftsdamen, oder besser gesagt Möchtegerndazugehörende, mit, so schien es mir, Aussenseiter- oder Anfängerstatus, besuchte uns werktäglich immer zur selben Zeit. Um Punkt elf Uhr zwanzig, mit einer Normalabweichung von plus minus vier Minuten, um eine von den Fachkräften – weshalb bezeichnet man uns weibliche Exemplare nicht mit Fachkräftinnen, wiederum so ein Vorurteil, Frauen hätten keine Kraft – in ein ellenlanges Gespräch zu verwickeln. Die Dame war kaum in die Jahre gekommen, so etwa dem Mittel-Alter zuzuzählen – kann das in literarischem Deutsch als »aus den Jahren gefallen« bezeichner werden? – ich werde meinen Boss, einen Germanisten, demnächst darüber befragen.

Bereits beim Eintreten der besagten Kundin verkrümelten sich alle verfügbaren Verkaufskräftinnen – ich führe jetzt und hier eigenmächtig dieses Wort in unseren Sprachgebrauch ein, der Duden wird mir schon folgen, die Emanzipation (weshalb nur mit einem »n« geschrieben) schreitet ja unaufhaltsam voran – und nur wer wie ich selbstvergessen am Computer sitzt, immer wieder in den Lesewelten und Leseproben versunken, war dann ein begehrtes Plauder- und Auskunftsopfer.

Gestern erwischte es mich erneut. So richtig kalt. Ja, wenn ich nur an die vergangenen Gespräche denke, kriechen mir kalte Schlangen langsam das Rückgrat hinunter. Nicht angenehm, das kann ich jedermann versichern. Zwar begann das Gespräch so anders als andere Male und ich schöpfte bereits Hoffnung, dass es mit dieser Kundin ein einziges Mal zumindest spannend werden könnte. Sie erkundigte sich nicht nach Neuerscheinungen. Nicht nach neuesten Klatsch-Paperbacks. Auch nicht nach philosophischen Themen, in deren Abglanz ihr Abendstern hell erleuchten mochte. Keineswegs.

Das Gespräch begann sie mit der Frage nach dünnen Büchern. Solche, die durchaus mit Inhalt aufwarten, jedoch nicht zu dick sein sollten. Dünn war also die gestrige Parole. Ich ging als gute Verkäuferin (hier hat sich die Emanzipation, nein, ich schreibe diese ab heute auf meine Art, Emannzipation, durchgesetzt) selbstredend auf den Wunsch der Dame ein und führte sie zu den kleinen Dünndrucken. Ich wies besonders auf die wundervollen Einbände hin. Eine wahre Kunst wird da zelebriert. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt. Auch die dünnsten Ausgaben sind ein ansprechendes Gedicht. Gedicht natürlich im übertragenen Sinne. Obwohl auch Dünndrucke in Kleinstformat mit Gedichtinhalten angeboten werden.

Jedenfalls schienen die dünnen Bändchen der Kundin zuzusagen. Sie nahm sie in die Hand, wog eines gegen das andere ab, beide Hände benutzend. Stellte mir dann die Frage, ob diese Bändchen auch einmal dick gewesen seien. Und wie diese es schafften, so elegant und schlank daher zu kommen. Ich müsse wissen, so bemerkte die Literaturplaudertasche, dass sie heute Abend zu einer Gesellschaft der Weight Watchers eingeladen sei, obwohl sie persönlich das gar nicht nötig habe. Sie sah dabei an sich herab und hob darauf stolz ihr blond gemähntes Haupt. Das Thema sei bestimmt das Abnehmen und da wolle sie mit dem notwendigen Wissen antreten.

Abnehmen. Zunehmen.

Ich nehme mir vor, meine schmalhansigen Bändchen ordentlich mit Buchstaben zu füttern: Auch sie sollen dem Wunsch der Kundin entsprechend eines Tages in den Genuss einer In-Diät kommen.