RAINER MARIA RILKE

Ein wundervoller Frühlingstag ist angebrochen. Es fällt mir nicht leicht zur Arbeit aufzubrechen, mich ins Kunstlicht zu begeben. Wie herrlich wäre es jetzt, mit meinem Freund Hand in Hand einen Maibummel in der freien Natur zu unternehmen! Ich muss meine tief in mir verwurzelte Wunschzentrale richtiggehend bändigen, um nicht der Versuchung zu unterliegen, mich krank zu melden.

Wäre ja wirklich keine Katastrophe, flüstert diese mir ein, heute werden kaum Kunden in die Stadt, geschweige denn in die Buchhandlung kommen! Lass die Arbeit Arbeit bleiben! Du wirst nur herumstehen müssen, um die Zeit im leeren Laden totzuschlagen! Doch mein Verstand ruft gleich nach dem Gewissen und beide verbünden sich, um den Wunsch zu unterdrücken, legen Argumente vor: Dein Freund hat doch nicht frei. Geht seiner Arbeit nach. Willst du wirklich deine Arbeitsstelle aufs Spiel setzen?

Es folgt ein weiterer innerer Dialog, dem ich in der Frühe, noch gegen die Sandkörner in meinen Augen kämpfend, kaum gewachsen bin. Ich fordere mit lauter innerer Stimme Ruhe. Still jetzt, ihr Plagegeister!, schreie ich lautlos in mich hinein. Ich bin der Boss und bestimme! Ein tausendfaches Echo, das bis zu meinen Zehenspitzen dringt, diese zum Vibrieren und Wippen bringt, erschüttert meinen Körper. Diese inneren Unruhegeister muss ich zum Schweigen bringen. Zumindest morgens in der Frühe. Ich werde ernsthaft mit ihnen ein Härchen zu rupfen haben, denke ich während des Kämmens, der Bändigung meiner Frisur.

Die Sonne strahlt mich beim Gang zum Bus an und weckt erneut den inneren Streit, den ich aber mit einem grossen Punkt hinter jedem Wort beende. An meinem Arbeitsplatz angekommen, begrüsse ich meine Kollegen, die wohl auch alle lieber die Natur genossen hätten. Griesgram tröpfelt, als sei er eine Infusion, durch das ganze Lokal. Ich lasse mich nicht anstecken und genehmige mir einen starken Kaffee aus dem Automaten.

Wenn nur nicht dieser Kartongeschmack des Bechers so aufdringlich wäre! Tassen aus Porzellan könnte der Chef uns doch gönnen. Womit ich feststellen muss, dass die griesige Ansteckung bereits erfolgte. Das positive Denken muss aus dem Hirnhinterzimmer sofort zum Einsatz befohlen werden. Lass dir nicht den Tag vermiesen!, wirft der Verstand mir seine Flanke zu, die ich geschickt aufzufangen weiss und mir den Maibummel nun einfach virtuell vorstelle.

Die Eingangsjalousien werden aufgezogen.

Wie erwartet ist Kundenebbe. Ich begebe mich zu meiner Lieblingsecke, der klassischen Literatur und will mir emotionale Frühlingsgedichte zu Gemüte führen. Ein kleiner Ersatzzucker für den entgangenen Frühlingstag. Da kommt ein junger Mann in zerlöcherten Jeans, ziemlich dürr, wie es mir scheint, oder halb ausgehungert, wenn ich genauer hinsehe, Piercings in Lippe und Nase, ein Blick, der sich in der Unendlichkeit verliert und dennoch zielsicher mich anvisiert.

»Sind Sie hier zuständig?«

»Zuständig für was? «

»Für diese Abteilung!«

»Wir sind für alle Abteilungen zuständig«, antworte ich ihm. »Unser Ziel ist die Zufriedenheit der Kundschaft. Eines jeden Kunden. «

Wie ich auf solch hochgestochene Worte komme, ist mir selbst ein Rätsel. Vermutlich will ich den Kerl, der so zerlumpt daherkommt, sich aber herrisch aufführt, beeindrucken.

»Sind Sie zuständig für die Aufnahme von Werken in ihr klassisches Sortiment?«

Und er zeigt mit weit ausschweifender Armbewegung auf die prall gefüllten Büchergestelle der Klassik.

»Ja«, antworte ich ihm, »ich betreue diese Abteilung persönlich. Hier sind die Schätze der Deutschen Literatur vergraben. Eine wahre Schatulle an Weisheit.«

Er nickt. Nickt ein zweites und ein drittes Mal. Verzieht sein Gesicht zuerst zu einem Frätzchen, dann zu dem eines Wissenden. Er muss ein unendliches Repertoire an Gesichtsmasken in seinem Inneren verborgen vorrätig haben. Jetzt die Philosophenmine. Die belehrende. Alleserkennende.

»Ja, ich weiss das zu schätzen. Sehr zu schätzen. Dass die klassische Literatur so gepflegt wird. Mit so feinen Händen!«

Will der Kerl mich anbaggern? Versucht er, mir nahe zu kommen? Mich überzieht eine wahre Hühnerhaut bei diesem Gedanken. Doch er unternimmt einen Schritt zurück. Betrachtet noch einmal die ganze Bücherwand. Ein beinahe überirdisches Lächeln umspielt jetzt seine Lippen. Dann bröckeln die Worte: »Es sind meine Verwandten. Verwandte im Geist« aus seinem verzogenen Mund, der jetzt einen Ewigkeitsanstrich erhält.

»Ich habe nämlich auch einen Klassiker geschrieben. Ein Werk der Weltliteratur. Nehmen Sie es in Ihre beeindruckende Auswahl auf?«

Ich muss mich innerlich an der angelernten Seriosität festhalten, sonst würde ein knatterndes Lachen meinen Hals verlassen. Der und ein Werk. Der und Weltliteratur. Der Klassiker. Wie kann er nur. Der Schalk in mir foppt mich: Nicht einmal die richtige Auswahl kannst du treffen. So ein entscheidendes Werk der Weltliteratur einfach auslassen! Du bist eine hundertprozentige Niete! Und zu ihm sage ich ganz ruhig:

»Wunderbar, dass Sie ein so hervorragendes Werk geschrieben haben! Ist Ihr Verleger bereits am Drucken oder lektoriert er noch?«

Der Schalk versetzt mir einen Fusstritt in die linke Hälfte meiner Seele. Die rechte protestiert umgehend. Mein innerer Hofnarr aber entgegnet mit einem Tremolo in der Stimme – er hat sich zwischenzeitlich die Narrenkappe aufgesetzt: Nicht ganz so dick auftragen, und ich muss ihm zustimmen. Fahre also fort:

»Haben Sie ein gedrucktes Exemplar bei sich, damit ich einen kurzen Blick auf das Meisterwerk«, – diesmal sitzt der Tritt auf der rechten Seelenseite – »werfen kann?«

»Ja, wie soll ich denn! Jeder Verleger hat bisher abgelehnt. Ich verstehe das einfach nicht!«

Jetzt ist die griechische Erinnyen-Maske im Einsatz.

»Ich werde schlichtweg verkannt! Aber auch Rainer Maria Rilke war zu seinen Lebzeiten nicht angesehen. Ich werde es auch schaffen!«

Er vollführt mit seinem linken Schuh eine halbe Pirouette, den rechten hebt er in die Luft und entschwindet, diesmal mit einer mephistophelischen Maske, meinem Blickfeld, nicht ohne mir eine Visitenkarte auf den Beratungstisch zu werfen. Feinstes Büttenpapier. Als ich diese lese übermannt mich im Gegensatz zur Hühnerhaut eine heftige wahre Hahnenhaut:

Rainer Maria Rilke

Na Príkope 16

Praha