Wir versuchen stets topaktuell zu sein. Das ist heute das Erfordernis im Buchhandel, um Kundschaft anzuziehen. Kreativität ist da gefragt. Das Erspüren der Trends, der Weltlage, dessen, was die Menschen beschäftigt. Und das ist nicht einfach. Bei morgendlichen Konferenzen der Mitarbeiter, wenn aller Gaumen nach Kaffee lechzt und die letzten Sandkörnchen der Nacht sich an den Strand des Tages bemühen, benötigen wir immer Zeit, um uns aufzuwärmen und neue Ideen zu entwickeln.
Die Zusammenkünfte finden jeweils am Freitagmorgen eine halbe Stunde vor Geschäftsöffnung statt. Dreissig Minuten haben wir Weile, um in Eile die kommende Woche vorzubereiten. Ein Thema aus dem Fundus unserer Buchhandlung und demjenigen unseres Wissens sowie des kollektiven, im Sitzungszimmer versammelten Unterbewusstseins zu bestimmen.
Meine Aufgabe ist es, unter der Woche die Trends, die die Menschen gerade am meisten beschäftigen, aus dem Internet herauszufiltern und beim Meeting zusammengefasst und präzise zu rapportieren. Das bedeutet Mehrarbeit für mich. Unbezahlte Mehrarbeit, die ich meist in der Nacht oder im Morgengrauen erledige. Und in jener des vergangenen sehr frühen Freitagsmorgens erkannte ich tatsächlich Grauen. Nicht graues Grauen, sondern rabenschwarzes. Solches, das mich zutiefst erschreckte.
Ein schwarzer Freitag schien sich anzukünden. Denn ich stiess nur auf Katastrophen. Auf Meuchel- und Massenmorde, kriegerische Auseinandersetzungen, eine unaufgeklärte Entführung, einen Vulkanausbruch, Überschwemmungen und drei Amokläufe, wenn auch einer davon schon in Planung aufgedeckt worden war.
Angewidert wandte ich mich von dem Bildschirm ab, fuhr den Rechner in den Tiefschlaf und legte mich noch einmal aufs Ohr. Schlief nach einem entsetzlichen Traum bis über die Aufstehzeit, bemerkte das Weckergerassel nicht und wachte erst kurz vor der angesagten wöchentlichen Themabestimmung in einem Ruck auf. Ich sprang in Notfallart, wie solche im Militär geübt wird, aus dem Bett, stieg in die Kleider, labte meinen Kopf mit einem Schwall eiskaltem Wasser und raste wild spurenwechselnd und Ampelgelb durchfahrend an den Arbeitsplatz.
Mit zehn Minuten Verspätung kam ich an. Der Inhaber der Buchhandlung, der am Kopfende des Tisches sass – wo das Ende oder der Beginn des Tisches war, bestimmte er –, begrüsste mich mit den spitzen Worten: »Zu lange gefeiert gestern Nacht?«, was ich nun wirklich als rabenschwarzes Unrecht empfand, hatte ich mir doch das Grauen im Dienste meines Arbeitgebers eingefangen. Wie auch den Alpptraum, (wirklich mit Doppel-P, denn darin war ich in einer Alphütte , diese mit nur halbem P, so einfach war sie ausgestattet, mit Plumpsklo aussen, das nur über einen Eishang zu erreichen war, der bestimmt zum Lebensende führen musste) eingesperrt. Aber, als Ausgleich sozusagen zu der unwirtlichen Unterkunft, entdeckte ich ein süsses Hundewelpchen, nicht älter als zwanzig Tage, das die eisige Welt um sich zu erforschen begann. Es schnupperte an der Eingangstüre und dann an mir. Und ich als Hundenarr war mit der Welt versöhnt. Ich holte meinen Eispickel, legte meine Steigeisen an und erreichte nach einigen Ausrutschern den Abort – hier wirklich das treffende Wort –, erleichterte mich und nahm den beschwerlichen Aufstieg, der leichter von statten ging als der Abstieg, unter die scharfen Eisen.
An der massiven Eichentüre, die die wohlige Wärme der Hütte versprach, angelangt, stockte mir das Herz. Es setzte für einige Schläge aus, um dann in einer galoppierenden Geschwindigkeit davonzurasen, sodass ich befürchtete, es würde mich abwerfen. Denn was ich sah, war so entsetzlich, dass sich meine Haare sträubten. Und nicht nur das Kopfhaar, nein auch mein Bart stand stoppelig von meinen Wangen ab. Ich musste aussehen wie ein Elektrisiermaschinenopfer der frühen Psychiatrie, dachte ich.
Der Welpe lag an der Schwelle des Hütteneingangs, tot. Die Hundemutter war bei dem Kleinen und leckte es voller Hingabe, wollte es zurück ins Leben führen. Ein zweiter Welpe hing leblos am Türrahmen, kreuzweise angenagelt. Mir schossen die Tränen aus den Augen. Wer konnte so grausam sein, unschuldige, wehrlose Wesen so umzubringen, Wesen die gerade mal am Beginn ihres Daseins waren? Ich schwor mir, den Mörder zu finden, weit konnte er nicht gegangen sein. Das Wetter war für einen Auf- oder Abstieg viel zu garstig.
Da rasselte der Wecker, den ich in meinem Entsetzen für einen Abgesandten des Himmels hielt, der Gerechtigkeit auf Erden schaffen wollte. Was war ich glücklich, dass Rettung und Recht erschien! Doch da begann die ganze Hütte zu rutschen. Immer schneller, auf den Abhang zu. Schneestiebend, bis sie sich rumpelnd überschlug und ich mich des fürchterlichen Lärms wegen schreckensbleich aufrecht in meinem Bett wiederfand. Und das alles meiner brötchengeberbedingten Internetforschung wegen. Und jetzt diese unberechtigten Anschuldigungen!
Ich setzte mich auf meinen Platz, an dem, wohl als Strafe für das Zuspätkommen, keine Kaffeetasse stand. Alle Blicke waren auf mich gerichtet, denn ich musste ob der Worte vom Tischende her puterrot angelaufen sein. Alle warteten auf meine schlagfertige – dafür war ich bekannt – Antwort. Ich musste sie rasch bekannt geben, wollte ich nicht meinen Arbeitsplatz verlieren. Also sagte ich:
»Das Thema für nächste Woche lautet: Haarsträubend!!« Mit zwei Ausrufezeichen. Ein allgemeines Gelächter, nicht hämisch, sondern eher befreiend, antwortete mir und der Boss – so nannte ich ihn, wenn ich ärgerlich war – nickte vielsagend mit dem Kopf und antwortete: »Ausgezeichnet! Bringt dem Schläfling eine Tasse starken Kaffee, auf ihn kann man sich verlassen. An die Arbeit! Sucht mir zusammen, was es an haarsträubender Literatur gibt. Aber echt haarsträubend«, und strich sich dabei über seine glänzend gepflegte Glatze.
So lautete denn das Thema ab dem darauf folgenden Montag: Haarsträubend!! Die Schaufenster waren danach ausgerichtet, die Plakate, die Prime-Sites des Ladens. Einfach alles, was Aufmerksamkeit erregen sollte, war darauf ausgerichtet. Die Mitarbeiter hatte man gebeten, sich dem Thema anzupassen und entsprechend gekleidet zu erscheinen, was bei den Älteren allgemeine Proteste auslöste und zu einer Intervention des Betriebsrates führte, sodass der Anordnung zur allgemeinen Erleichterung bereits am Samstag das Signal »freiwillig « beigefügt wurde.
Wir Jüngeren aber machten uns einen Spass daraus, der abgehalfterten Anordnung zu folgen und uns entsprechend zu kostümieren. Da gab es Draculas, Wilderer, Räuber Hotzenplotzs, wandelnde Leichen, als hässliche Hexen getarnte Schönheiten – weshalb sich die Hübschesten stets als Hässlichkeiten zu maskieren pflegen, übersteigt mein Wissen; vielleicht einzig, um die Kontraste zu erleben und dann erlöst wie ein Schneewittchen in den Alltag zu schreiten. Ein wahres kleines Horrorhaus war unser Buchladen an diesem Montag und wurde rasch zum Stadtgespräch.
Doch nicht so schnell, dass alle Bewohner und Besucher ausreichend informiert waren, denn gegen sechzehn Uhr dreissig, kurz vor meiner Vesperpause, kam eine junge Frau auf mich zu, in die ich mich sogleich verguckte, so strahlend trat sie auf. Ihre langen blonden Haare, genau wie ich sie liebe, umspielten ihr Haupt – also wenn die Schönheit länger im Laden bleiben wollte, wäre kein Kraut gegen mein Verlieben in sie gewachsen – und stellte mir die Frage:
»Sind Sie der Figaro, der die Haare sträuben lassen kann? Haben Sie noch einen Termin frei? Jetzt? Haarsträubend!! ist ein herrliches Thema für die Haarkunst. Ich danke dafür. Endlich werde ich so aussehen, wie ich es mir erträume und kein Friseur bisher es schaffte.«
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