TECHTELMECHTEL

Nicht dass Sie denken, ich hätte ein Techtelmechtel begonnen. Weit davon entfernt. Obwohl der eine oder andere Kunde mir durchaus gefallen hätte. Aber ich war verheiratet, hatte drei Kinder im schulpflichtigen Alter und lebte in einer glücklichen Familie. Beruflich war ich Wiedereinsteigerin, nachdem ich mich über Jahre um die Kinder gekümmert hatte. Hätte ich den Karrierepfad gewählt, ich wäre bestimmt Besitzerin einer eigenen Buchhandlung gewesen. Und zwar für Kinder, denn eine ebensolche Abteilung leitete ich in der Buchhandlung an der Fussgängerzone unserer Kleinstadt.

Ja, wir waren stolze Begünstigte einer nur den Zweibeinern vorbehaltenen Strasse, denn Hunden sowie Fahrzeugen aller Art, mit oder ohne Hund, war das Begehen dieser Zone untersagt. Der Abgase wegen. Der Umwelt zuliebe. Und um Verunreinigungen zu vermeiden. Einen Strassenputzdienst konnte sich unser Städtchen nämlich nicht leisten. Zu klamm waren die Steuereinnahmen des Rathauses.

Während der Planung der Fussgängerstrasse hatte es Oppositionen dagegen gegeben, Unterschriftensammlungen und gar einen Halbtagsstreik der Einzelhändler. An den sich aber nicht alle gehalten hatten, sodass er bereits nach fünfzig Minuten um neun Uhr fünzig abgebrochen worden war. Da hatten noch nicht einmal alle Geschäfte geöffnet. Und damit hatte sich diese Massnahme als ein Schlag ins Wasser erwiesen, mit vielen Druckerschwärzespritzern, denn das Lokalblatt hatte heftig über das Ereignis geschrieben. Selbst der Regionalsender des Fernsehens war dabei gewesen und hatte im Vorabendprogramm einen langen Beitrag mit Interviews gesendet.

Auch mich hatte es getroffen. Persönlich fand ich die gesperrte Strasse einen Segen, durfte es jedoch nicht so direkt sagen, da mein Chef dagegen war. Und dann war ich zutiefst erschrocken, als ich mich auf dem Bildschirm sah. So pummelig. Ein derart unattraktives Gesicht. Und erst die Haare – total nullachtfünfzehn. Damals beschloss ich, mich mehr um mein Äusseres zu kümmern.

Doch auch sieben Jahre später hätte mich bestimmt keine Agentur für Models angestellt. Aber immerhin bemühte ich mich. Schon um der Kunden willen. Der jungen Väter, von denen ich in ruhigen, kundenarmen Zeiten inzwischen manchmal träumte. Doch beim Gedanken an ein Techtelmechtel gab mir das Gewissen einen Stoss ans Schienbein, sodass ich laut »Auuuuaaah!« schrie, was meine Kollegin jedes Mal in Aufruhr brachte.

Sie pflegte die Bestseller, wusste stets, was auf dem Buchmarkt geschieht. Sie war ein junges Ding mit bestimmt nur der Hälfte meiner Jahrringe, die am Fernsehen als Nachrichtensprecherin Furore gemacht hätte. Aber sie liebte Bücherwelten. Bücheruniversen. Und war immer aufs Neue verliebt. Jedenfalls besuchten sie zahlreiche junge Herren während der Arbeitszeit. Der Besitzer liess die Kollegin gewähren, denn der Verkauf wurde bei den Stelldicheins nicht vernachlässigt. Keiner ihrer Verehrer ging je ohne den neuesten Bestseller aus dem Haus.

Ich gebe zu, ein wenig eifersüchtig war ich schon. Und nahm mir fest vor, vor meinem Eintritt ins Seniorenalter, noch einmal ein Techtelmechtel zu erleben. Aber erst wenn die Kinder aus dem Hause wären. Und mein Mann einen mehrtägigen Fortbildungskurs besuchte. Doch bevor ich meine hochtrabenden Pläne realisieren konnte, trat ein Ereignis ein, das alles durcheinander wirbelte.

Eines Morgens, es war ein Freitag, jedoch nicht der Dreizehnte und auch nicht Vollmond – abergläubisch bin ich nicht, das kann mir bestimmt niemand vorwerfen –, kam ich als erste in unser Geschäft, trat durch den Personaleingang ein und nahm den Gang links, um zu meiner geliebten Kinderbuchabteilung zu gelangen. Ich schaltete unterwegs Lichtbahn um Lichtbahn ein, durchquerte die Romanabteilung und erreichte die Schnulzenecke – so nennen wir die Abteilung, in der billige Liebesromane stehen –, Ersatzwelten für Menschen, die, obwohl kein Wölkchen am Himmel sich zeigt, davon träumen, vom Liebesblitz getroffen, jedoch nicht erschlagen, zu werden. Und da entdeckte ich die Katastrophe.

Viele der leicht gebundenen Bücher, ein Kollege hatte sie einmal »unsere leichten Mädchen« genannt, nicht zu Unrecht wie ich empfand, lagen wild durcheinander auf dem Fussboden. Teilweise zerrissen. Fleckig. Übereinander. Untereinander. Ein fürchterliches Chaos fand ich vor. Schon fürchtete ich mich davor, in meine angrenzende Abteilung zu schreiten, denn es sah nach einem Erdbeben oder einem Schlachtfeld aus.

Doch meine Kinderbücher lagen alle brav geordnet, friedlich und unschuldig nebeneinander. Erleichtert kehrte ich zurück in das Durcheinander, wo ich nun noch mehr Schäden erkannte. Ich wunderte mich über lose Haare, die am Boden lagen, über zerbrochene Einbände und zerbeulte Buchkarosserien. Da hatte jemand fürchterlich gewütet.

Musste ich die Polizei einschalten? Ging es um Einbrecher? Liebeshungrige, die sich verlustiert hatten? Ich hatte keine Ahnung. Aber das Chaos sah aus wie das Weltall vor der Schöpfung. Obwohl, das hatte ich erst letzthin gelesen, auch im Chaos eine gewisse Ordnung herrschen soll. Ich musste herausfinden, wie dieses hier aufgebaut war, möglicherweise brachte mich das ein Stück weiter.

In zwanzig Minuten öffneten die Tore unserer Buchhandlung. Und im Dezember, wir schrieben den Neunten dieses Monats, war immer viel Betrieb. Ich konnte unmöglich Kundschaft durch dieses Chaos waten lassen. Sollte ich Polizeiabsperrbänder anfordern oder die der Feuerwehr? Doch dafür war die Zeit zu knapp. Keine Kunden einlassen? Das hätte nicht unserer Devise entsprochen, Kundschaft nie zu enttäuschen.

Ich schaute mich in der Schnulzenabteilung um. Hob da ein Buch auf. Und dort. Da stand plötzlich ein fast unversehrter Band auf und blickte mir mit seinem Impressum tief in die Augen. Ein zweites folgte und unmittelbar Hunderte andere. Sie standen in einer Reihe und glotzten mich in Buchstabenseelenruhe an. In einem monotonen Singsang sprachen sie mich an:

»Siehst du, wozu ein Techtelmechtel führt? Nimm dich in Acht, nimm dich in Acht, nimm dich in Acht …«

Durch ein lautes Rasseln schreckte ich auf. Ich blickte auf das Ziffernblatt meines Weckers, das acht anzeigte. Höchste Zeit, zu meinem Arbeitsplatz zu eilen!

Die Bücherreihe hatte Recht.

Es war acht – nimm dich in Acht!