ORDNUNG

In einer Buchhandlung muss alles seine Ordnung haben. Wer würde sich sonst zurechtfinden? »Jedes Buch an seinen Platz« lautet die Devise, ohne die wir, je grösser das Buchhaus ist, im Chaos untergehen würden. Chaotische Lagerung mag zwar in der Industrie angehen, nicht jedoch in unserer Branche. Wie müssen jeder Nachfrage gerecht werden können und jedes Buch an seinem genauen Aufenthaltsort festhalten, damit es auch auffindbar bleibt. Teilweise, und das kommt bei guter Autorenschaft öfters vor, sind zwei Exemplare eines Werks an verschiedenen Stellen beheimatet, sodass, wenn ein Titel verkauft wurde, wir noch mit einem zweiten Heimatort dienen können.

Besonders schwierig ist es, einen Buchinhalt einem einzigen Gebiet zuzuteilen. Was bei der Bibel, immerhin dem ältesten noch heute nachgefragten Titel, problemlos auf ein Thema, nämlich Religion, reduziert werden kann, ist bei anderen Titeln viel komplexer. Gehört Bertold Brecht zu den Klassikern oder zur modernen Literatur? Der kleine Prinz, zu den Jugendbüchern, Erwachsenenmärchen oder in den Bereich der Lebenshilfe? Wir jedenfalls haben diesem herrlichen Werk von Antoine de Saint-Exupery eine eigene Kategorie zugewiesen. Ich nehme an, weil der Buchhändler sich von meiner Schwärmerei für diesen Autor Mehrumsatz verspricht.

Es war am vergangenen langen Weihnachtswochenende – der 25. Dezember fiel auf einen Freitag –, sodass uns Mitarbeitern nach der strengen Geschenkschlacht drei volle Schliessungstage endlich ein wenig Erholung boten. Als wir am Montag den 28. Dezember wieder den Laden aufschlossen und uns auf das wie jedes Jahr zu erwartende Umtauschgefecht gefasst machten, sah alles so aus, wie wir es am Heiligabend, verlassen hatten. Die Bücher schlummerten in den Gestellen, darauf wartend, Menschen neue Welten zu erschliessen. Mein metallener Teebecher stand am Informationstisch, selbst mein Apfel, den ich in der Hetze der Schlusskäufe vergessen hatte, strahlte mich in seinem Giftgrün aus meinem persönlichen Schubfach an, als ich dieses öffnete, um meine persönlichen Gegenstände zu verstauen.

Und dennoch hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Waren es die Büchergrössen, die Farben der einzelnen Buchgestelle. Ich konnte es nicht auf einen Blick erfassen. Und doch lag beinahe Unheimliches in der Luft. Ich fühlte es in meiner Magengegend – ein für mich untrügliches Zeichen für Übernatürliches. Noch nie hatte ich dasselbe so intensiv in meinen langen Dienstjahren verspürt. Wir haben genügend Gelegenheit, in unserer Esoterikabteilung zu schmökern, natürlich nur in den ruhigen Zeiten, wie zum Beispiel im sogenannten Januarloch, um uns mit Aussergewöhnlichem zu befassen. Und Aussergewöhnliches lag in der Luft, in der Atmosphäre dieses frühen Montagmorgens. Kunden konnten erst in einer Viertelstunde unser Geschäft betreten. Die Kassen stürmen. Jedenfalls hatten wir genug Bargeld und Gutscheine gebunkert, um dem Nachweihnachtsrummel der falschen Geschenke Herr werden zu können.

Mein Verantwortungsbewusstsein trieb mich zu einem Rundgang in unserem dreigeschossigen Haus. Was ich sah, traf mich wie ein Schlag. An diesem langen Wochenende mussten Gespenster gespukt haben. Kein Buch stand mehr an seinem ursprünglichen Platz. Unter dem Thema Kinderbücher waren jetzt Sciencefiction-Romane eingereiht. Unter Wissenschaft, Esoterik. In der Reiseliteratur standen alle Werke zur Traumdeutung, das Gebiet Klassik war mit Sex-Literatur bestückt, um nur einige Beispiele zu nennen. Zwar war immer ein Bezug zur Gattung hergestellt, mit viel Fantasie war durchaus eine leichte Verbindung herzustellen. Aber oft eine falsche, irreführende.

So jedenfalls konnten wir die Buchhandlung nicht für die Kundschaft öffnen. Wir würden zum Stadtgespräch. Zum Spott. Zum Journalistenfressen und, davor fürchtete ich mich am meisten, zu einem Youtube-Hit, der uns am Boden zerstören konnte. Und ich war an diesem Morgen für den Betrieb verantwortlich, und das freiwillig. Die anderen Abteilungsleiter und das Management hatten die Freiheit, sich die Neujahrsbrücke von weiteren vier freien Tagen zu Gemüte zu führen.

Was war zu tun? Die Polizei benachrichtigen? Den Besitzer aus seinem Skiurlaub in den österreichischen Bergen nach Hause beordern? Doch er konnte unmöglich rechtzeitig hier in der Buchhandlung sein. Und war bestimmt bereits unerreichbar braungebrannt auf stiebenden Schneehängen unterwegs. Jedenfalls durfte ich niemanden einlassen.

Also schrieb ich in aller Eile mit Grossbuchstaben drei krakelige Plakate: »Wegen Inventur bis Mittag geschlossen«. Und klein geschrieben darunter: »Wir bitten die Kundschaft um Verständnis«. Ich bat meine Kolleginnen, die Hinweise unverzüglich bei den drei Eingängen mit Tesafilm zu platzieren und eilte selbst zum Haupttelefon, wo ich den gleichen Text – ich versuchte, meiner Stimme ein ruhiges Timbre zu verleihen, was mir äusserst schwer fiel – auf den Anrufbeantworter sprach. Dann atmete ich tief durch, erleichtert und stolz, wenigstens einige Stunden gewonnen zu haben, denn »mittags« war ein dehnbarer Begriff.

Trotz allem war ich ob des bevorstehenden nötigen Prozederes völlig ratlos. Wo nur sollte ich beginnen? Alles umräumen, kam nicht in Frage. Dazu fehlte schlichtweg die Zeit. Doch da kam mir der rettende Gedanke: Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg gehen. Ich musste einzig die Beschriftungen ändern. Als ich versuchte, den Hausmeister zu erreichen, musste ich feststellen – ich merkte förmlich, wie die Sorgenfalten auf meiner Stirn sich vertieften –, dass er ebenfalls Brückenpläne geschmiedet hatte und diese Woche mit Abwesenheit glänzen würde.

Da war guter Rat teuer. Wie sollte ich nur die Situation meistern? Ein Alptraum war das! Und mir blieb nur Hoffnung übrig. Hoffnung, dass die Gespenster, es waren ja keine Einbruchsspuren vorhanden, also mussten es Geister gewesen sein, die mir diesen üblen Streich gespielt hatten, ein Einsehen haben und das Chaos bereinigen würden. Dem Credo der Buchhandlungen »Jedes Buch an seinen Platz« erneut huldigen würden.

Und tatsächlich, als ich alle Gestell-Beschriftungen in meiner krakeligen Schrift provisorisch geschrieben hatte, ich benötigte dazu gute zwei Stunden, diese anbringen wollte, waren alle Bände wieder richtig eingereiht. Ich musste einer Schimäre aufgesessen sein. Ich stellte mir die Frage, ob meine über fünfunddreissig Dienstjahre im Buchhandel, davon achtundzwanzig allein in dieser Buchhandlung, mich allmählich Gespenster sehen liessen. Ich ordnete sogleich an, die Plakate bei den Eingangstüren abzunehmen und die Tore für die Kundschaft zu öffnen. Der Ansturm war wie erwartet gross. Erst als sich gegen zwölf Uhr dreissig eine Kundin bei mir beschwerte, dass unter Klassik das Kamasutra eingereiht sei, begann ich an meinem guten Draht zu den Gespenstern zu zweifeln und freute mich zum ersten Mal auf meine Pensionierung, die in zwei Monaten anstand. Ich schwor mir, mich dann unmittelbar an der hiesigen Universität für Okkult-Wissenschaften einzuschreiben.