Zehntausende, ja hunderttausende von Büchern bleiben jährlich unverkauft und werden an die Verlage zurückgesandt. Obwohl gelernte Buchhändlerin, wunderte ich mich seit jeher, was mit ihnen geschehen würde.
»Eingestampft!«, antwortete mir der Lehrer in der Berufsschule.
Und mein erster Chef:
»Ist doch egal, oder etwa nicht?! Konzentriere dich aufs Verkaufen. Hänge nicht solchen unsinnigen Fragen nach, die nur vom Entscheidenden ablenken.«
Als mir später die Verantwortung für eine ganze Abteilung unserer Buchhandlung übertragen wurde, ergab sich die Möglichkeit, mit Verlagsvertretern zu sprechen, was mir Hoffnung gab, dieser für mich brennenden Frage endlich auf den Grund zu gehen. Doch weit gefehlt. Die Damen und Herren Vertreter hatten nur eines im Kopf: das Verkaufen. Sie hatten bestimmt von ihren Vorgesetzten, den Verlagsinhabern oder den Schulungsleitern den gleichen Satz vernommen wie ich von meinem damaligen Chef.
Das Geheimnis blieb also und belastete mich. Wie nur sollte ich je die Wahrheit über das Los der vielen ungeliebten Bücher erfahren? Wurden sie eingestampft? Verbrannt? Als Heizenergie verwendet? Oder Schweinen zur Fütterung vorgeworfen? Verinnerlichten wir deren Inhalt, ohne es zu bemerken, beim Würstchen- oder Steakessen? Ist das der Grund für die Vielfalt der Kultur, obwohl sich so zahlreiche Menschen der Bücherwelt und dem Lesen verschliessen? Das Rätsel blieb für mich ungelöst. Und ungelöste Lebensrätsel belasten die Seele.
Vor einigen Monaten, da mein Ruhestand nicht mehr weit entfernt war und es mir davor graute, nicht mehr an der Quelle der möglichen Rätsellösung zu sitzen – das Problem also mit in den Unruhestand mitzuschleppen – begann ich verstärkt nach Abhilfe zu suchen. Ich musste einen Weg finden, hinter den eisernen Vorhang des Buchverschwindens zu gelangen.
Als hervorragende Kundenberaterin bekannt, geschah es seit einiger Zeit öfter, während einer Buchempfehlung plötzlich abgelenkt zu sein. Mich den Wünschen des Kunden weniger zuzuwenden, sondern das Buch, seine Seiten, seine Kapitel zu betrachten und mich zu fragen, welches das Schicksal dieses Bandes sein würde, falls ich es nicht an die Frau oder den Mann brächte. Und ebendiese Unkonzentriertheit führte dazu, dass die Welt dieses Buchs nicht bei der beratenen Person ankam und der Band seinem geheimen Schicksal immer näher rückte.
Letzten Dienstag rief mich der Buchhändler, ein umgänglicher Chef in meinem Alter – wir arbeiteten nun bereits lange Jahre zusammen und vertrauten uns vollkommen – in sein Büro. Ich nenne es auch Befehlsstand, denn hier gibt er der Mannschaft jeweils die Tagesordnung durch, zwinkert mir dabei häufig zu, da so vieles für mich Wiederholung von immer Gesagtem, für die meisten jedoch neu ist. Und er fragte mich ganz direkt, ob es mir gut gehe oder Probleme irgendeiner Art mich belasten würden. Etwas mit der Gesundheit? Mit der Familie? Oder gar in der Beziehung? Ich verneinte wahrheitsgemäss, da ich ihm schliesslich nicht eröffnen konnte, dass mich einzig das Schicksal der remittierten Bücher beschäftigte und ich vor Ende meines Arbeitslebens unbedingt wissen musste, was für ein Geheimnis dahinter steckte. Der Chef bat mich dann, wieder wie früher exakt zu arbeiten. Er habe in den letzten Monaten öfter meinen starren Blick auf Bücher bemerkt, die Kunden in der Hand hielten. Er sei auch bereit, mir einige Extraurlaubstage zu gewähren, sollten meine möglicherweise lädierten Nerven dies unbedingt erfordern.
Ich dankte und nahm mir vor, mich zu bessern und die Buchschicksale aus meinem Kopf zu verbannen. Doch nichts ist schwerer, als einer fixen Idee, der man erlegen ist, zu entsagen. Kaum sah ich ein Buch, rastete mein Gehirn aus. Ich konnte nichts dagegen unternehmen, so fest ich mich auch bemühte. Ich, die früher wie ein Stein geschlafen hatte, konnte kaum mehr über eine Stunde am Stück Ruhe finden. Selbst im Traum erschienen mir Bücher, allesamt mit kurzen Pfötchen bewehrt. Sie kamen drohend auf mich zu und zeigten mit Buchstabenfingern auf mich, bezichtigten mich des Buchmords; eine Anschuldigung, die ich nicht auf mir sitzen lassen konnte. Und als ich mich mit Zähnen und Klauen, bildlich gesprochen, dagegen wehrte, fuhren die auf mich zukommenden Bände ihre Kapitel-Kanonen aus und begannen auf mich zu schiessen, bis ich mich in mein Schicksal ergab und in ein Buch schlüpfte. Dort liess ich mich auf Seite siebenundachtzig nieder und harrte der Dinge, die da kommen würden, denn das ausgewählte Schlupfbuch war ein Remittenten-Exemplar. Das hatte ich an der ISBN-Nummer gleich erkannt.
Es wurde dunkel um mich und ich vernahm eine Stimme ausserhalb des Buches: »Ja, das auch.« Jetzt war es rabenschwarz und der Boden begann zu schwanken. Heftige Schläge erschütterten mich. Festhalten an einem Q war alles, was ich tun konnte, weil mir dessen Unterschlaufe dafür gemacht schien. Nun vernahm ich Motorenlärm und bald darauf fühlte ich heftige Schläge. »Buch-Recycling-Zentrum « konnte ich, als wieder Licht eindrang, lesen. Und dann wurde mein Buch in einen riesigen Schlund geworfen. Ein entsetzlicher Luftzug erfasste mich. Es dröhnte und ein allumfassender Pfeifton zerriss mir beinahe das Trommelfell. Millionen Minimäuschen, alle in buntem grellgelbem Rock, jedes nicht grösser als wenige Millimeter, stürzten sich auf die Buchstaben, die heftig schrien, als sie vom Papier abgenagt und entblösst in einen weiteren Trichter fielen. Jeder stiess dabei seinen ihm zugeordneten Laut erschrocken aus, sodass eine wahre Kakophonie meine Gehörgänge zu quälen begann. Auch ich wurde angesogen. Meinem Q platzte ob meines Gewichts beinahe der bauchige Körper. Obwohl es sich entsetzlich davor fürchtete, zu einem unvollkommenen U verstümmelt zu werden, konnte es den Trichter nicht vermeiden, in den wir beide unter Getöse fielen. Wir landeten auf einem Fliessband und wurden inmitten Tausender von abgenagten Buchstaben nach vorn geschoben, um dann in ein Schüttelsieb zu gelangen, das alles durcheinander warf.
Da ertönte eine leise Fistelstimme:
»Was haben wir denn da?«
Und eine riesige Überhand pickte mich aus dem Buchstabengewimmel heraus. »Können wir nicht gebrauchen«, fuhr sie fort. »Sie könnte dem Inhalt der recycelten Bücher schaden. In so einem ganzen Menschen stecken zu viele Emotionen.«
Die Hand setzte mich am Ausgang der Maschine auf eine grüne Gartenbank, von wo ich mit staunenden Augen aus beobachtete, wie Bestseller um Bestseller – wenigstens wurden sie als solche angekündet – aus dem gigantischen Apparat ausgespuckt wurden. Glänzend und mit neu zusammengestellten Buchstaben hatten sie eine neue Papierheimat gefunden. Selbst mein Q, von dem ich mich hatte trennen müssen, erkannte ich an seinen von mir zugefügten Dellen wieder auf dem schrill farbigen Titel der Neuerscheinung »Die Quelle «, die das Ungetüm soeben ausgespuckt hatte.
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