Gestatten, mein Name ist Buchlaus. Mit wem habe ich die Ehre?«
Ich erschrecke ob der Fistelstimme, die neben meinem Ohr aus einer Enzyklopädie flüstert. Ich ordne nach Ladenschluss die Neuerscheinungen der Grossbuchhandlung ein und bin soeben bei den Lexika angelangt. Als Studentin der Germanistik wurde ich für diese nächtliche Dienstleistung eingestellt. Es ist bald Mitternacht und Zeit nach Hause zu gehen. Habe ich schon Halluzinationen? Ist es die Einsamkeit dieses Jobs, die dazu führt? Stürmen die Milliarden Buchstaben all dieser Bücher meinen Kopf und tanzen dort Cha- Cha-Cha oder gar Rock?
»Gestatten, mein Name ist Buchlaus. Ich will nicht stören! Möchte einzig mein Wissen vergrössern. Bin Lehrbeauftragter an der hiesigen Hochschule für Humanwissenschaften, wo ich den Buchlausnachwuchs unterrichte, und würde gerne aus erster Hand erfahren, was Realität und was erfunden ist.
Also lediglich einige Informationen wünsche ich. Informationen, die unser Wissen, das Wissen weiterer Generationen von Buchläusen vermehrt. Ihnen das Überleben einfacher gestaltet.«
Ich muss wirklich todmüde sein. Stimmen im Ohr sind kein gutes Zeichen! Und dann eine Buchlaus, die meine Sprache spricht. Zudem, oder täusche ich mich, sehe ich jetzt ein lausförmiges Wesen über die aufgeschlagene Seite des Lexikons huschen. Und in drei Wochen ist meine Zwischenprüfung. Ich schlafe eindeutig zu wenig. Aber wie soll ich sonst mein Studium finanzieren? Mit aller mentalen Kraft, deren ich fähig bin, denke ich mir die Stimme einfach fort. Sollte funktionieren. Hat bereits mehrmals geklappt. Besonders, wenn ich in einen alkoholischen Abend geraten bin.
»Gestatten, mein Name ist Buchlaus. Schenken Sie mir einige Minuten. Damit ich lernen kann.«
Nicht wegzukriegen dieser mentale Störenfried. Diese sprechende Hirnwindung. Und ich habe doch seit Tagen keinen Schluck mehr getrunken. Ist das bereits das Delirium, vor dem die Ärzte stets warnen? Schluss jetzt! Noch zehn Wälzer einzuordnen, dann ist Feierabend. Und die mich narrende Hirnwindung sende ich dann ins Pfefferland.
»Gestatten, mein Name ist Buchlaus. Wenn Sie es wünschen, stelle ich mich vor. Aus unserem Lausipedia:
Die Staubläuse (Psocoptera) wurden in der Geschichte schon mit einer Vielzahl von Namen belegt: Staubläuse, Bücherläuse, Steinläuse, Papierläuse, Flechtlinge oder auch Wandschmiede. Weltweit wurden bislang ca. 2.000 Arten beschrieben, davon kommen ca. 93 Arten in Mitteleuropa vor. Staubläuse haben sich einer breiten Palette von Lebensräumen angepasst. Analog zu ihren Lebensräumen unterscheidet man innerhalb der Gruppe Psocoptere die einzelnen Arten an Hand der bevorzugten Lebensräume: als Bewohner von Blättern (Blattbewohner: Follicole), Rinden (Rindenbewohner: Corticole), Steinen (Steinbewohner: Lapidocole), Höhlen (Höhlenbewohner: Carvernicole), Nestern (Nestbewohner: Nidicole) und als Bewohner von Häusern (Domicole). Insbesondere auf die Hausbewohner (die domicolen Arten) wie Staub- oder Bücherläuse soll hier eingegangen werden.
Bestimmung:
Die eigentlichen Staub- bzw. Bücherläuse (insbesondere Familie Liposcelidae) sind zwischen 0,66 und 1,40 mm groß, weichhäutig, meist gelb oder bräunlich.
Lebensweise/Biologie:
Staubläuse ernähren sich insbesondere von Schimmelpilzen und Algen, Vorrats- und Getreideprodukten, Teigwaren, Insektenresten und anderen pflanzlichen oder tierischen Stoffen sowie von Papiermaterial. Kot und abgestorbene Tiere können Lebensmittel verunreinigen und sie damit verderben. Staubläuse kommen vor allem in feuchten Wohnungen und Neubauwohnungen, aber auch in Bibliotheken und in Kellerräumen, auf offen gelagertem organischem Material in Küchen oder Vorratskammern sowie in Zimmern mit Zimmerpflanzen vor. In frisch tapezierten oder feuchten Neubauwohnungen kommt es oft zur Massenvermehrung. Sie fressen dort den kaum sichtbaren Schimmelpilzrasen von der Tapete ab und hinterlassen einen feinen Papierstaub. Die optimalen Bedingungen für ihre Entwicklung liegen bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 80 % und Temperaturen von 25°C. Die Entwicklungsdauer ist temperaturabhängig und beträgt 20 bis 40 Tage. Sie verläuft über das Eistadium und die anschließenden 3 bis 6 (8) Larven-Nymphen-stadien bis zum fertigen (adulten) Insekt. Staubläuse gehören zu den Hemimetabolen, d.h., es wird keine Metamorphose durchlaufen. Schon die Larven sehen wie ›richtige Mini-Staubläuse‹ aus. Ein Weibchen legt circa 100–110 Eier. Die Eier werden ganzjährig produziert, sodass mindestens 6–8 Generationen pro Jahr (in Häusern) erreicht werden können. Die Lebensdauer von Staubläusen beträgt etwa 10–12 Wochen. Werden Staubläuse als mögliche Auslöser von Allergien unterschätzt? Staubläuse treten in Wohnungen wesentlich häufiger auf, als angenommen wird. Diese Insekten könnten, ebenso wie Hausstaubmilben, ein Auslöser für Allergien sein. In einer Untersuchung bei 87 Allergikern wurden bei einem Drittel der Patienten im Blut Antikörper gegen Antigene von Staubläusen gefunden.1
Gestatten, mein Name ist Buchlaus. Ich habe mich nun vorgestellt. Bitte tun Sie das auch! Sonst löse ich eine Allergie aus.«
Was soll ich nur unternehmen, um die Stimme loszuwerden?
»Gestatten, mein Name ist Buchlaus. Ich helfe Ihnen. Lese aus dem Lausikon vor. Will nur wissen, ob das stimmt. Korrigieren Sie mich, falls sich Fehler eingeschlichen haben:
Der Mensch (Homo sapiens) ist innerhalb der biologischen Systematik ein höheres Säugetier aus der Ordnung der Primaten (Primates). Er gehört zur Unterordnung der Trockennasenaffen (Haplorrhini) und dort zur Familie der Menschenaffen (Hominidae).
Der Mensch ist die einzige überlebende Art der Gattung Homo. Er ist in Afrika seit rund 200.000 Jahren fossilbelegt und entwickelte sich dort über eine als archaischer Homo sapiens bezeichnete Mosaikform vermutlich aus Homo erectus. Weitere, jedoch deutlich jüngere fossile Belege gibt es für die Art aus allen Kontinenten außer Antarktika. Der Mensch ist der nächste lebende Verwandte des Schimpansen und heute das Säugetier mit der größten bekannten Population von über sieben Milliarden.
Die Menschen haben sich einer breiten Palette von Lebensräumen angepasst. Analog zu ihren Lebensräumen unterscheidet man innerhalb der Gruppe Homo Sapiens die einzelnen Arten anhand der bevorzugten Lebensräume: als Bewohner von Städten (Stadtbewohner: Follicole), Land (Landbevölkerung) Höhlen (Höhlenbewohner) und als Bewohner von Häusern (Domicole). Insbesondere auf die Hausbewohner (die domicolen Arten) wie den Homo Sapiens soll hier eingegangen werden.
Bestimmung:
Die eigentlichen Menschen im Unterschied zu den Affen (insbesondere Familie Homo sapiens) sind in der Regel zwischen 140 cm und 190 cm groß, weichhäutig, meist weiss, gelb oder bräunlich.
Lebensweise / Biologie:
Menschen sind mörderische Wesen. Sie ernähren sich insbesondere von ermordeten Tieren, Vorrats- und Getreideprodukten und anderen pflanzlichen oder tierischen Stoffen. Menschen kommen beinahe überall vor. Sie sind sehr anpassungsfähige Schädlinge. Die Entwicklungsdauer beträgt 9 Monate. Menschen gehören zu den Hemimetabolen, d.h., es wird keine Metamorphose durchlaufen. Schon die Embryos sehen wie ›richtige Mini-Menschen‹ aus. Ein Weibchen verfügt über unzählige Eizellen, die jedoch nur selten zu Nachwuchs gedeihen. Die Eier werden ganzjährig produziert. Die Lebensdauer von Menschen beträgt etwa 75–90 irdische Jahre. Menschen treten in unseren Lebensräumen wesentlich häufiger auf, als angenommen wird. Sie sind gemein und gefährlich! Unser Verhältnis zu ihnen ist bipolar. Einerseits morden sie ohne Rücksicht, teilweise mit Pestiziden, andererseits stellen sie uns die Lebensgrundlage, die Bücher, kostenlos zur Verfügung. Unsere Zuchtbemühungen, dieses mörderische Wesen zu zähmen, sind bisher gescheitert.
Dem kann ich aus vollem Herzen absolut nicht zustimmen, sodass ich die Buchlaus zwischen meinen Fingernägeln zerquetsche. Eine Anmassung, uns Menschen als Schädlinge zu bezeichnen. Oder etwa nicht?