DIE SCHULE

Das Gebäude sah unscheinbar aus. Bis vor einem Jahr beheimatete es im Untergeschoss eine Buchhandlung. Ein Stadthaus, wie es Hunderte davon gab. Grüne Jalousien, Sprossenfenster. Nicht aufgeklebt. Bewahre! Jede Sprosse handwerklich geformt. In echter Schreinerarbeit. Im Holz steckte der Stolz der Handwerkergilde. Strahlte, als ob jede Holzfaser von Radioaktivität geladen wäre. Demnächst das Zeitliche segnen und in Halbwertszeit ewig strahlen wolle.

Ja, das Gebäude sah unscheinbar aus. Scheinbar unscheinbar. Denn aus dem Inneren hörte ich Schreie. Befehlstöne. Kommandostimmen. Und eben Schreie. Niemand störte sich daran. Kein Passant. Kein Kleinkrämer oder Pizzakoch. Sie alle schienen diese schrillen Töne nicht zu vernehmen. Kamen die Schreie aus meiner Fantasie?

Ja, ich bin damit gesegnet. Mehr als gesegnet. Mein Kopf, mein Geist gehen oft mit mir, als seien es scheuende Pferde, durch. Also, so schloss ich daraus, kamen die Schreie aus meinem Unterbewusstsein. Aus meiner Seele. Horrende Protestgesänge über die Ungerechtigkeit dieser Welt etwa. Die zwar so wunderbar ist, aber schreiend gemein sein kann. Auch im Inneren von Häusern. Von Menschen. Von mir. Doch ohne Ablenkung durch meine Seele, meiner Seelenpein, hörte ich weiterhin Lärm, ja, Tumult, der aus dem beobachteten Hause drang, als wäre es Rauch eines schwelenden Feuers oder Schlamm aus einem überquellenden Sumpf.

Ich beschloss, mich gegenüber in ein Café zu setzen, in der Hoffnung der Angelegenheit auf den Grund zu kommen, wieder festen Boden in mein Leben einziehen zu lassen. Denn so voller innerer Unruhe, Un-Ruhe im wörtlichen Sinne, zu sein, hielt ich einfach nicht aus. Alles war besser als dieser Zustand der inneren Revolte, die mein Leben umzukrempeln drohte, drauf und dran war, es in ein brüllendes Chaos zu verwandeln. Ein Sturmchaos, bei dem kein Stein auf dem anderen bleiben konnte.

Ich bestellte einen kleinen Schwarzen, heiss, wie ich betonte, denn kalten Kaffee kann ich aus tiefstem Abscheu nicht leiden. Gab, als die Kellnerin in ihrer langen schwarzen Schürze diesen servierte, den Zucker mit einem gequälten Lächeln zurück, denn mir stand der Sinn wirklich nicht nach Süssem.

In diesem Augenblick strömten Jugendliche aus dem beobachteten Gebäude. Lachende, schwatzende junge Menschen. Bildhübsche junge Frauen. Feingliedrige und doch muskulöse Männer im Teenageralter. Alle trugen übergrosse Stofftaschen mit sich, die Tragriemen dieser Behältnisse lässig über die Schultern gehängt. Keine Schreie drangen mehr aus dem Haus. Einzig Lachen erfüllte die Strasse. Fröhlichkeit. Jugendausgelassenheit. Umarmungsklänge erfüllten die Gasse. Küsse flogen zwischen Lippen hin und her.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stand auf. Befragte einen jungen Mann, der schlendernd aus dem Hause trat, auch er seine schwarze Tasche lässig über der linken Schulter tragend.

»Bitte«, sagte ich, »bitte, was hat das mit den Schreien im Hause hier für eine Bewandtnis? «

Erstaunt blickte er mich aus verträumten Augen an und antwortete beinahe flüsternd:

»Im Untergeschoss lernen wir. Lernen in der Buchhandlung des Lebens. Wir lassen in unserer Lebensschule alle Bitterkeit und alles Leiden des Lebens zurück. In uns liegt das Glück. Tief eingewickelt in unseren Seelen. Wir lernen in den Büchern des Lebens es auszupacken. Auszubreiten. Wollen Sie ein Stück davon mit mir teilen?«