25. April
Anna und Tim saßen sich stumm in dem kleinen Wohnraum der Jagdhütte gegenüber. Nachdem Ronald gegangen war, hatten sie sich erschöpft in die Sessel fallen lassen und seitdem nicht mehr bewegt. Doch gerade hatte die kleine Kuckucksuhr an der Wand Mitternacht geschlagen und Anna konnte ihr Magenknurren nicht länger ignorieren.
»Ich schau mal nach, was ich im Kühlschrank und in der Speisekammer finde. Vorne ist ein Bad mit Dusche, vielleicht machen wir uns frisch und essen etwas. Dann erzähle ich dir alles, okay Tim?«
»Soll ich als Erster ins Bad?«
»Ja, mach mal. Ich kümmer mich dann schnell ums Feuer.« Anna inspizierte zunächst den Kühlschrank, der bis auf zwei Flaschen Champagner und drei Gläser Oliven völlig leer war. Sie schüttelte den Kopf. »Typisch Ronald. Dann eben Dosenfutter.« Sie holte aus der Kammer zwei Büchsen Ravioli und kippte deren Inhalt in einen Topf. Nachdem sie den Herd angeschaltet hatte, ging sie zum Kamin und entzündete die Holzscheite, die darin bereitlagen.
Als Tim frisch geduscht den Raum betrat, prasselte bereits das Feuer und Anna hatte den großen, schweren Holztisch mitten im Zimmer gedeckt. Während sie aßen, verloren sie kein Wort. Nicht nur Tim, auch Anna verschlang gierig die aufgewärmten Teigtaschen und spülte sie mit Mineralwasser hinunter. Der lange Tag und vor allem die anstrengende Flucht durch den Wald hatte sie einiges an Kraft gekostet!
Nachdem die letzte Ravioli verspeist war, bat Anna Tim, eine Kanne Tee zu kochen, und ging duschen. Als Anna in ein weißes Badetuch gehüllt zurückkehrte, saß Tim gedankenverloren am Esstisch und schaute sich in dem geräumigen Raum um. Sein Blick blieb an präparierten Raubfischen hängen, die mit offenen Mäulern zwischen Ronalds Angeln neben einem Regalbrett mit den unterschiedlichsten Haken hingen.
»Die Bezeichnung ›Jagdhütte‹ ist reichlich untertrieben, das hier erinnert eher an eine komfortable Blockhütte in Kanada. Von außen sah das Haus gar nicht so geräumig und chic aus«, sagte er.
»Ja, Ronald neigt dazu, alles imposant und kostspielig zu gestalten. Das ist eben so seine Art«, erwiderte Anna, während sie sich eine Tasse Tee eingoss und sich Tim gegenübersetzte. »Ich schätze, dass du jetzt eine Erklärung hören möchtest?«
»Ja, gerne«, antworte Tim.
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Was ich dir zu erzählen habe, wird dir überhaupt nicht gefallen. Es fällt mir echt schwer.«
»Fangen Sie einfach mal von vorne an.«
Stumm blickte Anna ihn an. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er sie wieder siezte. Vielleicht war es ein unbewusstes Zeichen dafür, dass sich die Distanz zwischen ihnen vergrößerte.
»Nun gut«, begann Anna schließlich zögerlich. »Wenn man plötzlich einen geliebten Menschen verliert, fühlt man sich wie ein Goldfisch, der allein in einem Aquarium seine Bahnen zieht. Man nimmt zwar alles wahr, aber nichts kann zu einem vordringen. Es ist wie in einem einsamen Kerker. So ging es mir. Ich dachte, der einzige Weg, zurück ins Leben zu finden, ist der, die Scheibe um mich herum zu zerstören. Und diese Scheibe warst du, Tim. Ich sage es direkt und ehrlich heraus: Ich habe dich gehasst. Ich hab dich gehasst, weil du mir das Liebste genommen hast. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, als ich aus deinem Brief von dem bevorstehenden Ende deiner Haft erfuhr. Ich wollte Rache und dachte, selbst für Gerechtigkeit sorgen zu müssen. Daher habe ich beschlossen, dich am Tag deiner Entlassung zu töten. Ich dachte wirklich, wenn du tot wärst, könnte ich wieder ein normales Leben führen.«
Tim schluckte. Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Uff … Das ist ziemlich hart. Das muss ich erst mal verdauen.« Nach einer kurzen Pause blickte er sie argwöhnisch an. »Aber ich habe Ihnen doch geholfen. Ich habe mein Leben für Sie riskiert! Und wie soll ich heute beruhigt mit Ihnen unter einem Dach schlafen? Haben Sie immer noch Mordgedanken?«
»Nein, nein!« Anna schüttelte energisch den Kopf. »Das ist vorbei! Ich habe den Fehler gemacht, alles in deine Person zu projizieren. Doch letztendlich war ich diejenige, die sich nicht mit der Realität abfinden konnte. Ich bin nicht damit klargekommen. Du warst … Ich kann es dir nicht beschreiben. Du warst eben das Aquariumglas, das ich zerschlagen musste. Und dann habe ich etwas Schreckliches getan.«
Anna seufzte. Sie nahm einen Schluck warmen Tee, bevor sie Tim die Geschichte von Anfang an erzählte. Von ihrem Anschlag auf den Falschen vor der JVA und von dem nächtlichen Einbruch. Von dem Boxergesicht, der sie wegen der CD bedroht hatte und nun tot im Güllebecken lag. »Tja, und die letzte Attacke hast du ja selbst miterlebt«, schloss sie ihren Bericht. »Ich habe keine Ahnung, wer diese Männer sind und was sie wollen. Es muss aber mit meiner Tat zusammenhängen.«
Tim schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann habe ich es einem reinen Zufall zu verdanken, dass ich hier lebend sitze? Ich fasse es nicht!«
»Ich habe mich an dem Falschen gerächt und meine Rache war falsch«, erwiderte Anna mit zittriger Stimme. »Es tut mir alles unendlich leid. Dieses Mal bin ich diejenige, die um Verzeihung bitten muss …« Sie merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, und sah auf ihre Tasse, die sie fest umklammerte.
Tim lachte bitter. »Um ein Haar hätten mich dann auch noch diese finsteren Typen umgebracht. Muss wohl mein Karma sein, was? Ich komme mir vor wie in einem schlechten Film. Das ist doch ein übler Scherz …«
»Nein, leider ist das die bitterernste Realität«, gab Anna leise zurück. »Es gibt sowohl für mein Vorhaben als auch für die Tat keine Entschuldigung. Das weiß ich. Allerdings ist in den letzten Tagen so viel passiert, dass ich gar nicht richtig darüber nachdenken konnte. Ich weiß nicht, was ich tun soll … Ich weiß nur, dass du die Wahrheit verdienst, nach all dem, was du für mich getan hast. Und es wäre wohl besser, wenn du gehst, bevor ich dich in noch größere Gefahr bringe. Bestimmt ist es das Vernünftigste, wenn ich jetzt die Polizei informiere und alles gestehe.«
Tim verharrte regungslos auf seinem Stuhl und starrte auf die Tischplatte. Anna wischte sich die Tränen von den Wangen. Nachdem sie sich eine Weile stumm gegenüber gesessen hatte, stand sie auf und ging zur Küchenzeile, um mit etwas kaltem Wasser ihr Gesicht zu kühlen.
»Weißt du was?«, sagte Tim plötzlich hinter hier.
Anna registrierte sofort, dass er sie geduzt hatte. Hatte sie durch ihr Geständnis und ihre Ehrlichkeit sein Vertrauen zurückgewinnen können?
Sie wandte sich ihm zu und lächelte ihn an. »Was?«
»Ich trinke eigentlich nie Alkohol, doch jetzt könnte ich einen Schnaps vertragen. Dein Freund hat bestimmt welchen im Eisfach. Du kannst sicher auch einen gebrauchen, oder?«
»Ja, das wäre nicht schlecht«, antwortete Anna und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Das mit Ronald ist aber nicht so, wie du denkst.«
»So? Wie ist es denn? Ihr habt euch vorher draußen sehr innig umarmt.« Tim deutete mit dem Kopf auf eines der Fenster.
Anna durchsuchte den Kühlschrank und fand eine volle Flasche Korn. Mit zwei Gläsern trat sie an den Tisch und goss sie randvoll. »Es ist … Ach, ich kann das nicht erklären. Es ist einfach alles zu viel. Das mit Ronald ist … ich weiß nicht was. Er ist ein guter Freund. Vielleicht auch mehr, vielleicht auch nicht.«
Sie kippten ihren Schnaps in einem Zug hinunter. Der Korn brannte angenehm in Annas Magen. Nachdenklich blickte sie zu dem Kamin, in dem das Feuer loderte.
»Ach, hast du eigentlich noch diese CD?«, unterbrach Tim das Schweigen.
»Ja, sicherlich. Die müsste noch in der Tasche meines Kittels stecken. Der ist im Bad, ich hole ihn gleich. Was hast du mit der CD vor?«
»Was ich damit vorhabe?«, wiederholte Tim ihre Frage. Er blickte sich suchend im Raum um. »Ich habe da so eine Idee. Aber die muss wohl bis morgen warten.«
*
Erfreulicherweise hatte sich der Taxifahrer an Rustes Anweisung gehalten und war mit halsbrecherischem Tempo durch die Stadt und über die Landstraße nach Ratemicke gejagt. Nach rekordverdächtigen sieben Minuten Fahrzeit war Ruste im Dorf eingetroffen.
»Vielleicht bewerben Sie sich bei Ihrem Talent bei der Autobahnpolizei«, verabschiedete er sich von seinem Chauffeur, der das Lob mit einem zufriedenen Lächeln quittierte.
Vor der ›Dorfschenke‹ standen bereits zwei Streifenwagen. Trotz der späten Stunde hatten sich zahlreiche Neugierige aus dem Ort zusammengefunden. Bei den Minustemperaturen stieg ihr Atem im Licht der Straßenlaternen in kleinen Wölkchen auf.
Ruste wurde bereits von einem uniformierten Beamten erwartet. »Kommissar Ruste, der Tatort liegt im Wald. Ich habe die Anweisung, Sie hinzufahren.«
Nachdem sie in eines der Polizeiautos eingestiegen waren, steuerte der Kollege den Wagen über die Landstraße und bog nach wenigen Minuten in einen dunklen Wirtschaftsweg ab, der sich entlang des Waldes schlängelte. Ruste sah in einiger Entfernung einen taghellen Lichtschein, der sich oberhalb des Wirtschaftsweges im Wald abzeichnete. Als sie sich näherten, erkannte Ruste zahlreiche Einsatzfahrzeuge, die kreuz und quer auf dem Weg parkten. Sie umzingelten einen großen Traktor samt Anhänger, der quer am Waldrand stand. Ruste blickte nach links, wo eine große Kuhweide lag, deren Stacheldrahtzaun an einer Stelle niedergedrückt war. Als er aus dem Wagen stieg, dröhnte der Dieselkompressor, der den Strom für die zahlreichen Lampen erzeugte, in seinen Ohren. Und neben dem Dieselgestank des Kompressors stieg ihm der penetrante Geruch frischer Gülle in die Nase.
Widerwillig stapfte Ruste das steil ansteigende Gelände in den Wald hinauf, wo die meisten Halogenstrahler aufgestellt waren. Ohne eine Taschenlampe gestaltete sich der Anstieg mühsam. Ständig stolperte Ruste über Wurzeln, die im Dunkeln auf ihn zu lauern schienen. Als er endlich am Tatort ankam, stemmte er keuchend die Hände auf die Knie. Hätte er gewusst, dass er noch eine halbe Wanderung hinlegen muss, hätte er heute Abend nicht so viel geraucht.
Als er wieder zu Atem kam, stellte er sich aufrecht hin und verschaffte sich einen Überblick. Eine vergleichsweise große Waldfläche war mit Flatterband abgegrenzt worden, in der die Kollegen der Spurensicherung in ihren weißen Overalls schon zugange waren. Jenseits der Absperrung stand ein Zinksarg. Der Deckel war nicht verschlossen. Direkt davor unterhielten sich Korfmacher und Schwenke angeregt. Ruste registrierte zufrieden, dass neben dem Rechtsmediziner und dem Leiter der Spurensicherung Schröder und Leuters ihren Posten bezogen hatten. Hatte sich der diensthabende Kripobeamte also trotz kranken Kindes die Ehre gegeben. Wenigstens etwas! Dann blieb nicht alles in dieser Nacht an ihm hängen.
Schröder erblickte seinen Chef als Erster und winkte ihn aufgeregt heran. »Kommissar Ruste, guten Abend. Hier ist das Opfer, wenn Sie es sehen möchten?«
Ruste trat an den Sarg heran und warf einen Blick hinein, bevor er in die Runde fragte: »Also, was ist passiert?«
»Soll ich anfangen?«, wollte Schröder wissen.
»Nur zu«, ermunterte Leuters seinen jungen Kollegen.
Schröder blätterte in seinem Notizblock. »Also, die Situation stellt sich wie folgt dar: Drei ältere Jäger, die Personalien haben wir aufgenommen, wurden von Unbekannten beschossen. Die Herren haben sich gewehrt und das Feuer erwidert. Dabei wurde dieser Mann«, er deute auf die Leiche, »tödlich getroffen. Wir haben seine Fingerabdrücke genommen und direkt durch den mobilen Scanner unten im Einsatzwagen geschickt. Das Opfer heißt Alexej Borgmann, ein Russlanddeutscher aus Kierspe, der wegen diverser Delikte aktenkundig ist.«
»Schon wieder ein krimineller Russlanddeutscher aus Kierspe? Erstaunlich viel Zufälle, was?«, fragte Ruste.
»Genau«, erwiderte Schröder. »Und noch viel mehr: Wie dieser Roman Neufeld und Boris Wassiljew wird er dem Umfeld der Mafia zugerechnet.« Er blickte seinen Vorgesetzten auffordernd an.
»Erstaunlich viele Mafiosi im Sauerland, was?« erwiderte Ruste und grinste seinen Schützling an.
Schröder ließ sich nicht beirren und fuhr fort: »Einer von den Jägern wurde ebenfalls angeschossen. Er ist jedoch nicht lebensgefährlich verletzt und auf dem Weg ins Krankenhaus. Außer dem Todesopfer müssen noch weitere Menschen an der Schießerei beteiligt gewesen sein. Zum einen wurden zahlreiche Fußspuren sichergestellt, die auf mehrere Personen hindeuten. Zum anderen haben wir Hülsen von zwei verschiedenen Handfeuerwaffen gefunden. Die vielen Einschusslöcher im Traktor unten am Waldrand stammen von denselben Kalibern. Die Maschine gehört einer Bäuerin, deren Hof hinter der Koppel liegt. Ihr Name ist Anna Lobbisch. Wir hatten noch keine Gelegenheit, zu ihr zu fahren und sie zu vernehmen. Und zuletzt steht auf der Weide noch ein verlassener BMW voller Gülle. Der Wagen hat gefälschte Nummernschilder. Wir nehmen an, dass das Opfer und vermutlich weitere Personen damit gefahren sind. Tja, das ist alles sehr mysteriös. Aber vielleicht hängt der Fall mit dem Mordversuch vor der JVA zusammen? Immerhin gibt es doch gewisse Parallelen.«
»Was meint ihr?«, gab Ruste die Frage an seine anderen Kollegen weiter.
»Das Opfer wurde jedenfalls mehrfach getroffen«, erklärte der Rechtsmediziner. »Noch konnte ich nicht feststellen, welche Kugel letztlich tödlich war. Sieht aber nach einem Herzschuss aus.«
Ein Streifenbeamter tippte Ruste auf die Schulter. Er reichte ihm einen dampfenden Pappbecher mit Kaffee.
»Oh, danke. Der kommt genau richtig!« Ruste nahm einen großen Schluck, bevor er erneut fragte: »Also, was denkt ihr?«
»Ich glaube, dass sich die Schießerei mit den Jägern unbeabsichtigt ergeben hat«, antwortete Leuters. »Das war bestimmt nicht geplant. Die waren hinter jemand anderem her. Auch das Zusammentreffen mit der Bäuerin beziehungsweise ihrem Traktor erscheint mir eher zufällig. Vielleicht hat sie etwas gesehen, was sie nicht sehen sollte. Ich würde vorschlagen, als Nächstes zu ihrem Bauernhof zu fahren. Es ist seltsam, dass sie sich noch nicht bei uns gemeldet hat. Die beiden Jäger sind wegen der Schießerei ohnehin so aufgeregt, dass sie das ganze Dorf verrückt machen. Bald haben wir die komplette Weltpresse hier! Schröder, Sie haben doch mit den Männern bereits gesprochen und zur Diskretion gemahnt, oder? Vielleicht setzen Sie am besten das Protokoll auf? Sie haben die Fakten sowieso schon hervorragend zusammengetragen.«
Schröder reagierte nicht und suchte angestrengt mit seiner Taschenlampe auf dem Waldboden nach Spuren. Ruste musste grinsen. Das würde ihm auch nicht helfen!
Ruste deutete auf die zahlreichen Einschüsse in den umstehenden Bäumen und bemerkte süffisant: »Sieht ja aus wie im Krieg hier …«
Das Kratzen des Funkgeräts von Schwenke setzte Rustes Ausführungen ein jähes Ende. Der Leiter der Spurensuche entfernte sich einige Schritte, um in Ruhe die Meldung entgegenzunehmen.
»Das dürfte euch interessieren«, rief Schwenke in die Runde. »Einer meiner Männer hatte den Auftrag, die Fußspuren weiterzuverfolgen. Ein paar führen den Wald hinauf und jenseits des Hügels wieder hinunter. Dort kommt man auf die Landstraße nach Ratemicke, allerdings verliert sich da die Fährte. Nach seiner Ansicht müssen es drei Personen gewesen sein. Zwei waren im Wald dicht beieinander, die dritte hat einen anderen Weg gewählt.«
»Sieht nach einer Verfolgungsjagd aus, oder?«, fragte Schröder.
»In der Tat. Notieren Sie das, Schröder!«, befahl Ruste. »Und jetzt fahren wir zu dieser Bäuerin. Auf geht’s!« Er klatschte in die Hände, um Schröder und Leuters anzutreiben, und begab sich selbst an die Spitze seines Teams.
Als sie unten auf dem Wirtschaftsweg angekommen waren, stiegen die Kripobeamten in einen Streifenwagen, der sie zu dem nahe gelegenen Hof brachte. Ausgerüstet mit lichtstarken Taschenlampen näherten sie sich dem alten Fachwerkhaus, das im Dunkeln lag.
»Kein Licht.« Leuters zückte seine Dienstwaffe. »Man kann ja nie wissen, kommt mir alles unheimlich vor.«
Wie Schröder griff auch Ruste automatisch nach seinem Holster, doch hielt dann in der Bewegung inne. Er war ja eigentlich gar nicht im Dienst! Seine Waffe war sicher im Schrank verschlossen! Er gab seinen zwei Kollegen ein Zeichen, dass er hinter ihnen in Deckung gehen würde. Eigentlich hätten sie schusssichere Westen anziehen können, doch dafür war es jetzt zu spät.
Gemeinsam versuchten sie, in der Dunkelheit auszumachen, ob jemand im Schutz der Dunkelheit auf sie lauerte. Als sie nichts Verdächtiges bemerkten, ging Ruste resolut auf die Eingangstür zu. Er betätigte die Schelle, doch im Haus rührte sich nichts. Nachdem sich nach wiederholtem Klingeln nichts regte, drückte er die Klinke hinunter. Die Tür war unverschlossen. Ruste ließ seinen bewaffneten Kollegen den Vortritt.
»Hallo, hier ist die Polizei! Ist jemand da?«, rief Leuters und taste sich in den dunklen Flur vor.
Als eine Reaktion ausblieb, durchkämmten die Beamten Zimmer für Zimmer. Nirgendwo war eine Spur von dieser Anna Lobbisch zu finden. Der Fall wurde zunehmend verzwickter.
»Und jetzt?«, fragte Schröder, als sie wieder auf dem Hof standen.
»Jetzt nehmen wir uns den Schuppen da vor.« Ruste leuchtete mit seiner Lampe auf den Anbau neben dem Bauernhaus.
Doch auch hier war in den zahlreichen Ecken und Winkeln zwischen den landwirtschaftlichen Geräten nichts zu entdecken. Anschließend folgten sie einem Pfad den Hügel hinauf zu einem Stall, der offensichtlich erst vor Kurzem erbaut worden war. Nachdem Ruste das Tor aufgeschoben hatte, leuchteten Leuters und Schröder mit ihren Waffen im Anschlag in den Stall. Die Kühe blickten müde in das grelle Licht und begannen lauthals zu muhen. Ansonsten schien alles ruhig zu sein.
Ruste ertastete neben dem Eingang einen Lichtschalter. Im grellen Licht der zahlreichen Neonröhren begannen die Beamten, den gesamten Stall zu inspizieren. Als die Suche erfolglos war, nahmen sie sich den angrenzenden, kleineren Raum vor, in dem Kälbchen und eine trächtige Kuh untergebracht waren. Auch hier keine Spur.
»Eine Bäuerin würde niemals freiwillig ihre Tiere allein lassen«, sagte Ruste und trat nach draußen. Er zündete sich eine Zigarette an und schaute auf seine Armbanduhr. Mittlerweile war es drei Uhr in der Früh. »Wir sollten es morgen noch mal versuchen. Schröder, Sie setzen die Befragung im Dorf fort und ich fahre zu den Eltern von diesem …?«
»Äh …« Schröder zückte seinen Notizblock und blätterte wild darin herum. »Alexej Borgmann.«
»Genau. Und du, Peter, machst dich schnell auf den Weg zu deiner Kleinen ins Krankenhaus. Schröder kann den Bericht schreiben. Danach brauche ich dich aber wieder für die Ermittlungen. Schlafengehen lohnt heute sowieso nicht mehr.«
»Es ist nicht meine Aufgabe, den Bericht zu schreiben«, sagte Schröder, als sie zum Streifenwagen hinuntergingen.
Ruste drehte sich zu ihm um. Er war mutig, das musste man ihm lassen! Vielleicht wurde es ja doch etwas mit ihm und dem Sauerland.
»Nein, das ist nicht ihre Aufgabe, Schröder. Völlig richtig«, sagte Ruste milde. »Aber der Kollege wird es Ihnen nie vergessen, wenn Sie ihm das abnehmen und er dadurch Zeit für seine kranke Tochter hat. Und bei mir hätten Sie auch was gut, Schröder.«
Schröder nickte. »Okay. Wenn das so ist, mache ich es gerne.«
*
Frühmorgens wachte Anna in einem der drei kleinen Schlafzimmer der Jagdhütte auf. Auf der Fensterscheibe zeichneten sich zarte Eisblumen ab. Die Morgendämmerung zeigte sich nur in einem schwachen Lichtschein am Horizont. Anna trat ans Fenster und blickte hinaus auf den Stausee der Listertalsperre. Von hier oben hatte man wirklich eine atemberaubende Aussicht! Sie erkannte, dass der Wasserstand der Lister bis an die Krone der Staumauer heranreichte. Auf der anderen Seite der Wand stürzten Wasserfälle durch die Überlauföffnungen herunter in den tiefer liegenden See der Biggetalsperre. Ein schönes Schauspiel, das sich Anna gern ansah.
Doch daran war heute nicht zu denken, ihre Sorge galt in erster Linie ihren Kühen. Hoffentlich hatte Ronald den Wernike angerufen und die Tiere waren versorgt.
Nachdem sie sich einen der Bademäntel für Gäste umgeworfen hatte, stieg Anna die Treppe hinunter. Im Kamin glommen noch einige Scheite. Anna legte Holz nach und blies kräftig in Glut. Dann machte sie sich in der Küchenzeile auf die Suche nach Kaffee und Filtertüten.
Während der Kaffee durchlief, nahm sie eine heiße Dusche, um sich aufzuwärmen. Als sie zurück in den Wohnraum kam, brannte das Feuer mollig warm. Tim saß bereits an dem großen Tisch.
»Guten Morgen, danke für den Kaffee«, begrüßte er Anna. »Möchtest du auch?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und schenkte Anna eine Tasse ein. Mit Schrecken stellte sie fest, dass Tim seine verdreckten Sachen vom Vorabend trug, und sie ebenfalls keine saubere Kleidung zum Wechseln hatte.
»Komm, wir schauen mal, ob Ronald hier etwas zum Anziehen hat«, schlug sie vor. »Vielleicht passt uns ja was.«
Mit den Kaffeetassen in den Händen gingen sie nach oben in die Schlafräume und durchsuchten die Schränke. Tatsächlich fanden sie zwei verwaschene Jeans, T-Shirts und Pullover, die ihnen zwar nicht ganz passten, aber immerhin sauber waren. Nachdem Tim geduscht hatte, trat er in Ronalds Sachen in den Wohnraum. Anna musste grinsen. Die Hose war zu kurz, dafür schlackerte sie ihm um die Beine und den Bauch. Auch der Sweater sah aus, als ob er ihn zu seiner Konfirmation bekommen hätte. Tims lange Gliedmaßen ragten weit aus den Ärmeln hinaus. Seine dunklen Haare, die strubblig in alle Richtungen abstanden, machten das skurrile Bild perfekt.
»Du siehst auch nicht besser aus«, sagte Tim schmunzelnd, als Anna lauthals lachte.
»Gib mir lieber mal die CD«, forderte er sie auf.
»Was hast du damit vor? Ist sowieso nix drauf«, erwiderte Anna und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Keine Musik, aber vielleicht was anderes«, antwortete Tim kryptisch.
Anna ging ins Bad, wo ihr dreckiger Kittel auf dem Boden lag. Die CD war tatsächlich noch da. War die Aufschrift ›Hits‹ also ein Täuschungsmanöver gewesen?
Nachdenklich kehrte sie zu Tim zurück. »Auf die Idee, dass es eine Daten-CD ist, hätte ich auch kommen können«, sagte sie.
»Bist du aber nicht. Vielleicht bringt sie uns in der ganzen Geschichte weiter«, erwiderte Tim, steckte die CD in seine Hosentasche und kramte ein paar Münzen aus seiner verdreckten Jeans. »Ich fahre nach Meinerzhagen in ein Internetcafé und schau mal, ob da was drauf ist.«
»Sollen wir das nicht zusammen machen?«
»Lieber nicht. Die sind hinter dir her, Anna. An deiner Stelle würde ich mich hier versteckt halten, bis wir herausgefunden haben, was es mit dieser CD auf sich hat.«
Anna zögerte. Doch was Tim sagte, war einleuchtend.
»Kann aber dauern«, verabschiedete er sich an der Tür. »Bevor ich in den Knast kam, waren die Busverbindungen in der Gegend furchtbar schlecht. Mal sehen, vielleicht komme ich per Anhalter nach Meinerzhagen.«
»So wie du aussiehst, glaube ich kaum, dass jemand anhält«, rief sie ihm lachend hinterher.
Anna schenkte sich noch einen Kaffee ein und setzte sich an den Tisch. Sie hatte das erste Mal seit Tagen ein gutes Gefühl. Sie glaubte daran, dass sich die Dinge aufklären würden und der Albtraum für sie bald ein Ende hätte. Aber sie plagte auch das schlechte Gewissen. Sie hatte Tim für einen skrupellosen Raser und Mörder gehalten – und sich damit all die Jahre getäuscht. Er war ein guter Kerl! Und er trug lediglich eine Teilschuld. Wären nur nicht diese gefälschten Teile im Auto eingebaut gewesen! Hätte, wäre, wenn! Es war ein tragischer Schicksalsschlag. Anna war langsam bereit, dies zu akzeptieren.
*
Rustes Schädel dröhnte. Nach den zwei Stunden Schlaf auf der Couch fühlte er sich alles andere als ausgeruht. Doch bevor er nach Kierspe zu den Eltern des Opfers fuhr, wollte er unbedingt auf dem verlassenen Bauernhof dieser Lobbisch vorbeischauen.
Ruste parkte seinen Dienstpassat vor dem Fachwerkhaus und ging zur Haustür. Noch immer war sie unverschlossen und niemand anzutreffen. Als er dem Weg zum Kuhstall auf dem Hügel folgte, hörte er bereits, dass drinnen die Melkmaschinen liefen. Ruste beschleunigte seine Schritte und schob eilig das Tor zur Seite. Ein alter Mann stand in dem Karussell und legte gerade den Kühen Zitzenbecher an.
»Guten Morgen, Ruste mein Name. Ich komme von der Kripo Olpe und möchte gerne mit Frau Anna Lobbisch sprechen. Ist die hier irgendwo?«, rief Ruste über den Lärm hinweg.
»Morgen«, gab der alte Herr knapp zurück und ließ sich nicht von seiner Arbeit ablenken.
»Kennen Sie die Bäuerin Anna Lobbisch, die diesen Hof bewirtschaftet?«, hakte Ruste nach und trat näher an das Rondell heran.
»Ja, sicher kenne ich die.«
»Und? Ist sie hier?«
Der Mann ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. »Ich sehe sie nicht, woll?«
»Wer sind Sie denn und was machen Sie hier?« Langsam reichte es Ruste mit diesem grimmigen Kauz.
»Wernike. Ich melke die Kühe.«
»Das sehe ich. Machen Sie das immer? Sind Sie bei Frau Lobbisch angestellt?«
Wernike schüttelte den Kopf und antwortete mit einem entrüsteten: »Nee.«
»Das kann ich ja nicht wissen«, erwiderte Ruste forsch. »Jetzt machen Sie doch mal die Zähne auseinander. Wissen Sie, wo ich Frau Lobbisch finde?«
Wieder kam dem Mann nur ein lang gezogenes »Nee« über die Lippen.
Ruste verlor langsam die Geduld. Er war müde und musste noch nach Kierspe fahren. Er hatte überhaupt keine Lust auf dämliche Ratespiele.
»Wie kommen Sie dazu, hier zu melken?«
»Der Junge von den Webers hat mich angerufen. Die Anna sei verhindert und ob ich dann die Kühe versorgen könnte. Das mache ich gerne, habe ich ihm gesagt. Seit meiner Rente habe ich Zeit, woll? Wir hatten früher ja auch einen Hof. Mit 80 Viechern …«
Jetzt kam Wernike plötzlich ins Plaudern. Doch für Rustes Geschmack ein bisschen zu sehr. Er hob die Arme und unterbrach den Redeschwall des sauerländischen Bauern. »Moment! Sagten Sie ›der Junge von den Webers‹? Welcher Weber?«
»Na, wie heißt der Bursche noch? Der Kleine, der den Betrieb vom Vater übernommen hat. In Attendorn. Ach, ich komm gleich drauf … Rüdiger … Rolf … Roland … Nee, Ronald heißt der, woll?« Die Augen von Wernike glänzten vor Freude.
»Sie meinen Ronald, Ronald Weber?«, vergewisserte sich Ruste.
»Ja, sag ich doch, woll?«
»Hat er Ihnen noch etwas erzählt? Warum Frau Lobbisch nicht kann oder wo sie sich aufhält?«
Wernike nahm die Zitzenbecher von einem Euter ab. Er fuhr sich durch seinen dichten weißen Haarschopf. »Nee!«
»Also hat er Ihnen nichts über Frau Lobbisch gesagt?«, fragte Ruste sicherheitshalber nach. Diese knappen Verneinungen des alten Bauern machten ihn verrückt.
»Sag ich doch«, bestätigte Wernike.
»Was denn? Was sagen Sie denn in Gottes Namen?«, hakte Ruste völlig entnervt nach.
»Na, dass er nix gesagt hat. Also der Junge von den Webers über die Anna. Er meinte nur, dass sie nicht kann. Und dafür kann ich ja nichts. Da müssen Sie nicht gleich so unhöflich werden, junger Mann! Auch wenn Sie von der Polizei sind! Mein Schwager, der war übrigens ebenfalls bei der Polizei. Aber nicht in Olpe, sondern in Schmallenberg. Vielleicht haben Sie ihn gekannt? Der hat … och … der hat schon vor ewig langer Zeit aufgehört … Wann hat der nur aufgehört?«
Wernike legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. Ruste nutzte die unverhoffte Chance und verabschiedete sich schnell: »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Im Eilschritt verließ er den Kuhstall und lief den Hügel zu seinem Passat hinunter. Mit quietschenden Reifen brauste er vom Hof auf die Landstraße. Zum Glück blieb ihm während der Fahrt nach Kierspe etwas Zeit, um wieder herunterzukommen. Der alte Bauer hätte ihn um ein Haar in den Wahnsinn getrieben!
Nach einer Weile merkte Ruste, wie übermüdet er war. Er versuchte, sich auf den Weg zu konzentrieren, doch die Augen fielen ihm immer wieder zu. Als er Kierspe erreichte, hielt er an dem erstbesten Kiosk und holte sich einen Kaffee. Mit dem Becher in der rechten Hand steuerte er durch die Straßen des beschaulichen Städtchens. Während er nach dem Haus der Familie Borgmann suchte, ging er nochmals alle Fakten durch. Die Geschichte wurde immer verwirrender. Hingen der Mordversuch vor der JVA und die nächtliche Schießerei zusammen? Dafür sprach, dass in beiden Fällen Russlanddeutsche aus Kierspe involviert waren. Hinzu kam das seltsame Jagdmesser als Tatwaffe. Und jetzt waren wieder Jäger in den Fall verwickelt. Waren das alles nur Zufälle?
Nachdem Ruste die richtige Adresse gefunden hatte, parkte er seinen Wagen vor dem großen Einfamilienhaus und ging durch den gepflegten Vorgarten zur Eingangstür. Er hasste diese Seite an seinem Job. Angehörigen eine Todesnachricht zu überbringen ging ihm immer selbst an die Substanz. Innerhalb eines kurzen Moments veränderten seine Worte ein ganzes Leben und stürzten die Menschen in einen Abgrund der Trauer. Das Schwierigste war jedoch, dass er sie in dieser Schocksituation meistens auch noch befragen musste.
Eine grauhaarige Frau öffnete Ruste die Tür, hinter ihr stand ein älterer Mann im Unterhemd. »Ja, bitte«, sagte die Frau mit einem leichten Akzent.
»Frau Borgmann, Herr Borgmann?«, fragte Ruste.
»Ja?«
»Ich bin Kommissar Ruste, können wir uns bitte drinnen unterhalten?« Er zeigte den Eheleuten seinen Dienstausweis.
»Geht es um Alexej?«, fragte Frau Borgmann mit sorgenvoller Stimme auf dem Weg in das nüchtern eingerichtete Wohnzimmer.
Ruste nickte und nahm auf dem Sofa Platz. »Ich muss Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen. Ihr Sohn wurde bei einem Schusswechsel tödlich getroffen.«
Die Frau schlug die Hände vors Gesicht, während ihr Mann nur den Kopf schüttelte. »Ich habe es kommen sehen, ich habe es kommen sehen!«, rief er aufgebracht. »Wie oft habe ich ihn vor denen gewarnt. Das sind alles Verbrecher! Dabei war er so gut in der Schule. Aber nein, Alexej wusste ja immer alles besser!«
Frau Borgmann ließ schluchzend die Arme sinken. »Mein Sohn war ein guter Junge. Seine Freunde, die sind böse und haben ihn auf die schiefe Bahn gebracht! Dieser Viktor, Boris, Roman und wie sie alle heißen.«
Ruste wartete eine Weile, bis sich die Eltern von Alexej etwas beruhigt hatten, bevor er fragte: »Die Freunde, von denen Sie gerade sprachen … Kennen Sie die vollständigen Namen oder die Adressen, Telefonnummern? Irgendwas?«
»Ja, die Adressen habe ich«, antwortete Frau Borgmann und ging zu dem schweren Wohnzimmerschrank an der Stirnseite des Raumes.
»Aber was ist eigentlich passiert?«, unterbrach ihr Mann.
»Die genauen Umstände sind noch nicht geklärt. Ich kann sagen, dass Ihr Sohn mit bislang unbekannten Komplizen gestern Nacht im Wald bei Ratemicke Jäger beschossen hat. Diese haben in Notwehr ebenfalls das Feuer eröffnet und dabei Alexej tödlich getroffen. Aber wie gesagt, wir stehen ganz am Anfang der Ermittlungen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir jetzt die Namen von Alexejs Freunden geben könnten.«
Frau Borgmann trat zurück ans Sofa und reichte Ruste ein kleines, ledernes Adressbuch. »Boris heißt Wassiljew, von Roman und Viktor kenne ich die Nachnamen nicht. Aber ich weiß, wo sie wohnen. Sind alle aus dem Ort.«
Zufrieden übertrug Ruste die Angaben auf seinen Notizblock. Endlich war er einen großen Schritt weitergekommen! Dass Boris Wassiljew zu den Freunden Alexejs gehörte, bestätigte seine Vermutung, dass die Fälle zusammenhingen. Blieb nur noch zu klären, wie. Wenn er das herausfand, würde er auch sehr bald den oder die Täter schnappen.
Ruste bedankte sich bei den Borgmanns und verabschiedete sich von ihnen. Vor ihm lag ein Tag voller Arbeit, er durfte keine Zeit verlieren. An Schlaf war heute auch nicht zu denken. Er wollte direkt zu Alexejs Bekannten fahren und sie vernehmen.
Auf dem Weg zu seinem Auto rief er Schröder an, um dessen Stand der Ermittlungen zu erfahren. Sein junger Kollege ging direkt nach dem ersten Klingeln ran.
»Ach, Chef, Sie sind es, ich hätte mich auch gleich bei Ihnen gemeldet.«
»Lassen Sie diese Arschkriecherei mit dem ›Chef‹ und erzählen Sie mir lieber, was es Neues gibt! Sind Sie mit den Befragungen im Dorf vorangekommen?«
Schröder räusperte sich. »Ich habe nochmals mit den Jägern gesprochen, das hat nichts gebracht. Das Feuer wurde ohne Vorwarnung eröffnet. Interessant war aber mein Gespräch mit der Wirtin der ›Dorfschenke‹, der Kneipe im Ort. Sie sagte, dass die vermisste Bäuerin, Frau Lobbisch, in der Nacht völlig verdreckt mit einem jungen, unbekannten Mann in die Gastwirtschaft gekommen ist. Frau Lobbisch hat erklärt, sie habe eine Panne gehabt, und dann vom Festnetz aus ein Telefonat geführt. Danach ist sie mit dem Mann verschwunden. Das Gespräch konnte die Wirtin nicht hören, auch wusste sie nicht, wen Frau Lobbisch angerufen hat. Anhand der Wahlwiederholung habe ich jedoch die Nummer ausfindig gemacht. Eine Handynummer. Ich habe sie überprüfen lassen, der Anschluss ist auf einen gewissen Ronald Weber eingetragen. Ein Industrieller aus Attendorn. Wir haben ihn bisher nicht erreichen können. Auch ist er heute noch nicht in seiner Firma aufgetaucht. Von Frau Lobbisch fehlt nach wie vor jede Spur.«
»Ronald Weber? Das ist ja interessant …«, erwiderte Ruste nachdenklich. Das war also der Anruf gewesen, den sein Schützenbruder gestern Abend erhalten hatte und wegen dem er überstürzt losgestürmt war. Dabei hatte er etwas von Schwierigkeiten in der Firma gemurmelt – und offensichtlich gelogen! Ruste versuchte, sich genauer zu erinnern. Hatte Weber nicht hartnäckig versucht, ihm Informationen über den Fall in Attendorn zu entlocken? Hatte das Opfer Boris Wassiljew nicht in Webers Firma gearbeitet? War Weber etwa in den Mordanschlag vor der JVA verwickelt?
»Herr Ruste? Sind Sie noch am Telefon?«, riss ihn Schröders Stimme aus seinen Gedanken.
»Ja, ja«, erwiderte Ruste. »Ich kümmere mich um Weber, den kenne ich persönlich. Außerdem haben mir die Eltern von Borgmann die Adressen von seinen engsten Bekannten genannt. Darunter ist auch Boris Wassiljew. Sieht also ganz so aus, als ob die Fälle zusammenhängen würden. Und dann wären da noch ein Viktor und ein Roman, deren Nachnamen die alten Herrschaften nicht kannten. Würde mich nicht wundern, wenn der eine dieser Neufeld ist. Denen werde ich jetzt einen Besuch abstatten, Sie können derweil die Vornamen und die Adressen durch unseren Computer laufen lassen. Ich werde Ihnen gleich die Daten per SMS schicken. Damit dürfte es nicht allzu schwer sein, an weitere Informationen zu kommen. Rufen Sie mich an, sobald Sie was in Erfahrung gebracht haben.«
»Da ist noch etwas«, sagte Polizeimeister Schröder schnell, bevor Ruste auflegen konnte. »Die türkische Frau, deren Finger abgeschnitten wurde. Ihr Verlobter hat sie in ein Kölner Krankenhaus verlegen lassen. Heute Morgen ist sein Anwalt gekommen und hat die Sache in die Wege geleitet. Wir konnten nichts dagegen unternehmen. Wir wissen aber, welches Krankenhaus es ist.«
Diesen Arslan hatte Ruste fast vergessen. Es gab so viele neue Spuren, die verfolgt werden mussten, dass er diese Verstümmelungstat überhaupt nicht gebrauchen konnte. Und wer wusste schon, ob es wirklich eine Verbindung zwischen Arslan beziehungsweise diesem Bandenkrieg in Köln und dem Anschlag in Attendorn gab!
»Na, ist doch gar nicht so schlecht, das mit dem Kölner Krankenhaus«, sagte er zu Schröder. »Rufen Sie die Kölner Kollegen an, die sollen den Fall von dieser Cengiz übernehmen. Sollen die sich doch mit diesem Arslan herumschlagen! Einen Bericht meiner Unterhaltung mit ihm reiche ich nach. Und die Kollegen sollen sich melden, wenn Sie etwas Neues über den Vorfall in der Diskothek herausbekommen. Damit wären wir diese Sache erst mal los. Wir haben genug zu tun, Schröder.«
Ruste legte auf. Er musste sich erst einmal auf die neuen Spuren konzentrieren. Sollten die Beamten in Köln doch in der Zwischenzeit den Rest erledigen! Viel entscheidender für den Fall in Attendorn erschien ihm die Schießerei letzte Nacht. Und er musste herausfinden, inwiefern Weber mit dieser Geschichte zu tun hatte. Er kannte ihn seit vielen Jahren als zuverlässigen Schützenbruder. Nie im Leben hätte er ihm irgendwelche kriminellen Verwicklungen zugetraut. Andererseits hatte Ruste in der Vergangenheit schon viele Fälle gehabt, bei denen er überrascht worden war. Die Idylle und die heile Welt des Sauerlands waren eben trügerisch, dachte Ruste. Bestes Beispiel war ja diese Bäuerin. Was hatte eine völlig unbescholtene Bürgerin mit solch einem Fall zu tun? Wieso war sie wie vom Erdboden verschluckt? Und warum war sie überhaupt beim Gülleausfahren beschossen worden? Doch nicht allein wegen des Scheißgestanks! Dass Gestalten wie der schießwütige Alexej Borgmann und dieser Boris Wassiljew in Verbrechen verwickelt waren, verwunderte Ruste wiederum nicht. Auch solche Leute lebten …
Mit quietschenden Bremsen lenkte Ruste seinen Passat rechts an den Straßenrand und brachte ihm zum Stehen. Das hatte er fast vergessen, heute war er wirklich nicht in bester Form! Aus der Innentasche seiner Jeansjacke holte er seinen Notizblock heraus und tippte die Angaben über Alexejs Kumpane ins Handy ein. Nachdem er die angekündigte SMS an Schröder verschickt hatte, durchforstete er seine Kontakte. Die Nummer von Ronald Weber war eingespeichert. Mit dem Mobiltelefon am Ohr steuerte er seinen Wagen wieder auf die Straße Richtung Olpe. Nach fünf Freizeichen meldete sich Mailbox.
»Ronald, hier spricht Ruste. Es ist sehr dringend, bitte melde dich sofort, wenn du die Nachricht abgehört hast.«
Ruste legte auf und warf sein Handy auf den Beifahrersitz. Er hatte Olpe fast erreicht, als das Funkgerät im Passat knackte. Er drehte die Lautstärke auf.
»Achtung. An alle Wagen in der Nähe von Sundern am Biggesee. An alle Wagen in der Nähe von Sundern am Biggesee. Begeben Sie sich sofort an die Anlegestelle der Bigge-Ausflugsschiffe. Spaziergänger haben dort ein Objekt im Wasser treiben sehen. Es könnte der entführte Schützenvogel oder eine ertrunkene Person sein. Ich wiederhole, es könnte der Schützenvogel sein. Es gilt äußerste Diskretion. Informationen dürfen nicht nach außen dringen.«
Sollen die Kollegen in den eiskalten Biggestausee springen, um den Vogel da rauszuholen? Ruste schmunzelte bei dem Gedanken. Zwar befand er sich in der Nähe, doch er dachte überhaupt nicht daran, sich um diesen Vogel zu kümmern.
»Lieber Gott, lass es einen Ertrunkenen sein, der macht weniger Ärger«, murmelte er und trat aufs Gas.