5. Mai
Frisch herausgeputzt saß Ruste in der Küche von Anna Lobbisch. Er trug seine Haare waren zwar immer noch halblang, hatte ihnen aber einen ordentlichen Schnitt verpassen lassen. Und statt Jeans und Kapuzenpulli hatte er sich für eine helle Stoffhose und ein dunkelblaues, sportliches Sakko entschieden. Nach dem desaströsen Eindruck, den er in dem Hotel gemacht haben musste, wollte er die sympathische und attraktive Bäuerin beeindrucken und das Bild von sich wieder geraderücken.
Ruste hatte sich schon über eine Woche auf dieses Wiedersehen gefreut. Nachdem er sich, angeschlagen wie er bereits war, am Tatort eine Mandelentzündung inklusive Fieber zugezogen hatte, hatte er Anna Lobbisch am Tag nach den Morden nicht vernehmen können. Stattdessen hatte Schröder ihre Angaben fein säuberlich zu Protokoll genommen. Es war wirklich eine verrückte Sache, in die die Bäuerin da unschuldig hineingezogen worden war und die sie fast das Leben gekostet hätte. Aber Anna Lobbisch war eben eine beeindruckende, tapfere Frau, die nebenher noch einen ganzen Hof allein bewirtschaftete.
»Es ist eine unglaubliche Geschichte, in die Sie da hineingeraten sind, Frau Lobbisch. Aber jetzt fügt sich langsam das Puzzle für uns zusammen. «Ruste nahm einen Schluck Bier aus der Flasche. Immerhin war er nicht im Dienst und sein Besuch mehr privater Natur. »Ich war gerade in der Nähe und dachte mir, ich komme mal vorbei, um Ihnen den Stand der Ermittlungen mitzuteilen. Ich denke, nach allem, was Sie erlebt haben, ist es ihr gutes Recht, das zu erfahren.«
Anna Lobbisch lächelte ihn an, schlug jedoch sogleich die Augen nieder. »Gerne«, sagte sie und strich imaginäre Falten auf der Kunststofftischdecke glatt.
Ruste beobachtete ihre hilflose Geste und musste grinsen. War sie etwa verlegen? Diese Seite kannte er gar nicht an ihr, machte sie aber nur noch sympathischer.
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, so verworren ist alles«, begann Ruste. »Also, am besten von vorne: In Ronald Webers Wagen haben wir die CD gefunden, von der Sie sprachen. Darauf waren Daten gespeichert, die belegen, dass Weber in Schmuggelgeschäfte mit der Russenmafia verwickelt war – und zwar in erheblichem Ausmaß. Er importierte unter dem Deckmantel seiner Firma gefälschte Teile nach Deutschland, die umdeklariert und als Originalersatzteile in Umlauf gebracht wurden. Der dabei entstandene Schaden geht wahrscheinlich in die Millionen! Auf der CD waren umfangreiche Informationen vorhanden: Hintermänner, Kuriere, Transportwege und vieles mehr.«
Ruste machte eine kurze Pause, um seinen Worten Gewicht zu verleihen. Das musste die arme Frau ja erst mal sacken lassen, ihn selbst hatte es fast umgehauen, als er von den Machenschaften des ach so unbescholtenen Webers erfahren hatte.
»Aufgrund der Fingerabdrücke gehen wir davon aus, dass sich die CD im Besitz von Boris Wassiljew befunden haben muss, einem hiesigen Anführer der Russenmafia«, fuhr Ruste fort. »Wassiljew saß in der JVA in Attendorn. Er muss dort die CD Tim Mazcevski übergeben haben, auch dessen Fingerabdrücke konnten wir nachweisen. Mazcevski ist derjenige, der Ihren Mann überfahren hat … Aber das wissen Sie ja.« Ruste räusperte sich. Er begann Blödsinn zu reden. Die Nähe dieser Frau machte ihn völlig konfus. Dabei wollte er wichtig und intelligent klingen.
»Äh, ja. Wo war ich? … Ach ja, die CD«, setzte Ruste seine Erklärung fort. »Wir gehen davon aus, dass die beiden, also Boris Wassiljew und Tim Mazcevski, Weber erpressen wollten. Wassiljew muss geahnt haben, dass Weber ihm nach seiner Haft auflauern würde, deswegen hat er wohl Mazcevski die CD gegeben. So weit klar?«
Anna Lobbisch nickte. Durch ihre Zustimmung bekräftigt, erklärte Ruste weiter: »Gut. Wassiljew wurde also entlassen und direkt vor der JVA niedergestochen. Den Täter haben wir noch nicht geschnappt, aber wir vermuten, dass es ein weiblicher Killer im Auftrag Webers war. Verrückt, oder? Es kann allerdings auch ein Privatdetektiv darin verwickelt sein, ein Mann, der untergetaucht ist. Wir haben nämlich in Webers Büro entsprechende Unterlagen sichergestellt. Aber dazu später mehr. Jedenfalls hatte Wassiljew bei seiner Entlassung die CD nicht bei sich. Wir gehen davon aus, dass die Angehörigen der Russenmafia wussten, dass nicht mehr Wassiljew, sondern Mazcevski nun die CD hatte. Als dieser die CD nicht direkt nach seiner eigenen Entlassung drei Tage später abgeliefert hat und stattdessen bei Ihnen aufkreuzte, war die Mafia ihm bereits auf den Fersen. Die Russen verfolgten ihn bis zu Ihrem Bauernhof und wollten ihm die CD abnehmen. Weil er mit Ihnen floh, kam es zu dieser Schießerei. Das haben Sie ja dann selbst erlebt, das brauch ich ja nicht …«
Ruste stoppte mitten im Satz. Was erzählte er da nur für einen Schwachsinn? Die Frau mit ihren blauen Augen brachte ihn wirklich um jeden klaren Gedanken. Nervös zupfte er an seiner Zigarettenpackung. »Darf ich rauchen?«
»Eigentlich nicht. Aber wenn Sie das Fenster aufmachen, dürfen Sie es ausnahmsweise.« Anna Lobbisch holte eine Untertasse aus dem Küchenschrank und stellte sie vor Ruste auf den Tisch.
»Ja, danke, sehr freundlich. Wo war ich? Ach ja, die Verfolgungsjagd mit dem Traktor. An diesem Punkt sind Sie jedenfalls mit in die Sache hineingezogen worden. Was mir jedoch nach wie vor schleierhaft ist: Warum haben Sie nach Ihrer Flucht Weber und nicht uns angerufen?«
»Es war der Junge, dieser Tim. Er wollte nicht, dass ich die Polizei benachrichtige. Er hat mir leidgetan, wir hatten uns erst kurz zuvor ausgesprochen, und er wollte nicht schon wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Deshalb habe ich stattdessen Ronald angerufen.«
»Hm, ein fataler Fehler. Aber Sie konnten ja nicht wissen, dass Weber in der Sache mit drin steckte. Nun denn, wir können es nicht ändern. In dem Blockhaus muss Mazcevski dann Weber erpresst haben, als die beiden allein im Raum waren. Oder Weber wusste, dass Mazcevski die CD hat. Wie auch immer: In Ihrer Abwesenheit hat Weber die Gelegenheit genutzt und seinen Gegenspieler umgebracht. An der Angelschnur um Mazcevskis Hals konnten wir seine DNA nachweisen und zudem haben wir entsprechende Einkerbungen an seinen Händen festgestellt. Als er die CD an sich genommen hatte, wollte Weber Sie wohl an der Staumauer umbringen, da Sie ja quasi eine Zeugin waren.«
Ruste blickte in das betretene Gesicht von Anna Lobbisch. Die Erinnerung an die eigene Todesgefahr schien sie mitzunehmen. Schnell zog er ein Foto aus der Jackentasche, um sie damit abzulenken. »Ist Ihnen dieser Mann schon einmal begegnet?«
Anna Lobbisch schüttelte den Kopf. »Nein, den kenne ich nicht.«
Ruste drückte seine Zigarette in dem provisorischen Aschenbecher aus. »Habe ich mir gedacht. Das ist Otto Lebrecht, der Privatdetektiv, den Weber beauftragt hatte. Wir haben seinen Wagen ganz in der Nähe von Ihrem Hof gefunden. Er selbst ist jedoch spurlos verschwunden. Wahrscheinlich haben ihn die Russen auf dem Gewissen und wir werden in einigen Jahren seine Überreste finden. Er muss auch hinter der CD und Mazcevski her gewesen sein, sonst hätten wir wohl kaum sein Auto in der Gegend aufgespürt.«
Ruste zeigte Anna noch zwei weitere Fotos.
Diesmal zögerte sie. »Die kommen mir bekannt vor. Es könnten die beiden sein, die Tim und mich verfolgt haben. Es war aber dunkel, ich konnte sie nicht genau erkennen. Wer sind die zwei?«
»Das sind Alexej Borgmann und Roman Neufeld, ebenfalls Leute von der Russenmafia. Einer von ihnen wurde bei dem Schusswechsel mit den Jägern im Wald getötet. Den anderen haben wir in Meinerzhagen geschnappt. Er schweigt aber. Wenn Sie mich fragen, das Cleverste, was er machen kann. Und der Dritte im Bunde der russischen Bande war Viktor Stein, den kennen Sie. Er war der Mann, der Sie an der Staumauer bedroht hat. Auch er wird uns nichts sagen können. Sie haben so kräftig zugeschlagen, dass er einen Hirnschaden davongetragen hat.«
Anna Lobbisch blickte ihn ängstlich an. Ruste zwinkerte ihr zu und versuchte, sie zu beruhigen: »Unter vier Augen – er hat es nicht anders verdient. Ich glaube kaum, dass Sie da mit einem Verfahren rechnen müssen. Tja, Frau Lobbisch, das ist der Stand der Dinge. Sie sehen, der Fall ist komplex. Wir haben noch immer keine Spur von dem Täter des Anschlags auf Wassiljew vor der JVA. Dieser versuchte Mord ist das noch fehlende Puzzleteil. Hier tappen wir weiterhin völlig im Dunkeln. Aber darüber darf ich Ihnen nichts Genaueres sagen. Für uns ist der Fall jedenfalls weitgehend geklärt. Jetzt muss ich mich nur noch um einen Schützenvogel und einen abgeschnitten Finger kümmern. Ich kann Ihnen sagen, es passieren Dinge, die glaubt man nicht.«
Ruste leerte den Rest aus seiner Bierflasche in einem Zug. Er schaute Anna an, in deren Gesicht ein großes Fragezeichen geschrieben zu sein schien. Er selbst hatte die ganzen Zusammenhänge seiner komplizierten Theorie ja auch nur verstanden, als er sie auf einen Flipchart mit den vielen Namen und Pfeilen und Linien aufgezeichnet hatte. Na ja, die Grundzüge hat sie bestimmt begriffen, dachte sich Ruste.
»Ich muss dann mal wieder weiter, Frau Lobbisch. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich hoffe, Sie bald, vielleicht in einem anderen Rahmen, wiederzusehen.« Nach einer kurzen Pause fügte er zögerlich hinzu: »Falls Sie Hilfe bei der Verarbeitung dieser schlimmen Ereignisse benötigen, unser psychologischer Dienst steht Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
»Danke. Es geht schon. Die Arbeit und die Tiere lenken mich ab«, erwiderte Anna Lobbisch und erhob sich.
Ruste stand ebenfalls auf. Er reichte ihr die Hand und setzte sein charmantestes Lächeln auf. Dann drehte er sich um und trat in die Diele hinaus.
Anna Lobbisch begleitete Ruste bis zur Haustür. Er hatte bereits die Klinke in der Hand, als sein Blick auf das Paar Schuhe fiel, das neben dem Eingang auf dem Boden stand. In Rustes Kopf begann es, wie in einem Uhrwerk zu rattern. Er löste die Hand von der Klinke und hob die Schuhe hoch. Es waren Damenwinterschuhe. Der Firma Goretex. Im ausgeprägten Profil hingen Reste getrockneten Schlamms.
Ruste blickte Anna Lobbisch durchdringend an. Sie errötete und schaute ihn mit entsetzten Augen an. Spätestens in diesem Augenblick wusste er, dass er für diese zierliche Bäuerin mehr empfand als reine Sympathie. Ruste wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders. Er war hin- und hergerissen. Er hatte die Möglichkeit, die Schuhe zurückzustellen, hinauszugehen und alles zu vergessen. Aber konnte er das wirklich?
Erneut inspizierte er das charakteristische Profil der Sohlen. Dann schaute er Anna Lobbisch an, die seinem Blick tapfer standhielt. »Möchten Sie mir noch etwas sagen, Frau Lobbisch?«
»Ja«, antworte Anna ruhig. »Gehen wir zurück in die Küche.«
Nachdem Anna Lobbisch ihm alles erzählt hatte, auch von dem toten Privatdetektiv, der auf dem Grund ihres Güllebehälters lag, war Ruste aufgestanden und hatte ohne ein Wort den Raum verlassen. Vor der Tür des Bauernhauses zündete er sich eine Zigarette an. Sein Blick fiel auf die grünen Gummistiefel und den grauen Kittel neben der Tür. Und nun? Was sollte er nun tun?
Seufzend holte er sein Handy aus der Tasche und wählte Schröders Nummer. »Schicken Sie einen Streifenwagen zum Bauernhof von Anna Lobbisch. Wir haben eine Verhaftung vorzunehmen.«
Als Schröder, eifrig und dienstbeflissen wie er war, mehr über die Umstände hören wollte, würgte Ruste ihn ab. »Schicken Sie den Wagen und gut ist, Schröder.«
»Wie Sie meinen«, antwortete Schröder, um dann jedoch sofort fröhlich weiterzuplaudern: »Übrigens ist der Fall mit dem entführten Schützenvogel aufgeklärt. Es war der Sohn vom Vorsitzenden. Er hat sich durch die intensive Vereinsarbeit seines Vaters vernachlässigt gefühlt und mit einem Freund zusammen den Vogel auf dem Parkplatz vor dem Olper Freizeitbad angezündet. Ich kann Ihnen sagen, hier ist was los!«
Ruste legte auf. Tja, heute lösten sich wohl alle Fälle, dachte er bitter. Dann rief er den besten Anwalt von Siegen an und direkt danach einen Staatsanwalt vom Landgericht, den er gut kannte. Ruste hatte noch nie jemanden um einen Gefallen gebeten. Aber das war nun das Mindeste, was er für Anna tun konnte.
E N D E