18. April
Sehr geehrte Frau Lobbisch,
Sie haben nie auf meine Briefe geantwortet. Ich verstehe, dass Sie keinen Kontakt wünschen. Trotzdem kann ich nicht aufhören, Ihnen zu schreiben. Bitte glauben Sie mir – ich bereue meine Tat zutiefst. Sie können mir nicht verzeihen, ich bin mir darüber im Klaren, dass das zu viel verlangt wäre. Doch ich möchte, dass Sie eines wissen: Ich bin mir meines Fehlers bewusst und ein anderer Mensch geworden. Leider kann ich nicht wiedergutmachen, was ich angerichtet habe. Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich wach liege und mir wünsche, der Morgen hätte nie stattgefunden und alles wäre nur ein schlimmer Albtraum.
Eine Sache liegt mir jedoch besonders am Herzen: Dies wird mein letzter Brief sein. Man entlässt mich vorzeitig, meine Haft endet am 21. April. In Ihren Augen war die Strafe bestimmt viel zu milde. Sie haben recht: Was sind fünf Jahre gegen ein Leben? Aber bitte glauben Sie mir, dass ich die Tragweite meiner Tat erkannt habe. Während der Haft konnte ich vieles über mich lernen. Nach meiner Entlassung werde ich von vorne beginnen und mich nicht mehr bei Ihnen melden. Ich wünsche Ihnen, dass Sie zur Ruhe kommen und wieder glücklich werden können.
Leben Sie wohl.
Tim Mazcevski
Anna knüllte den Brief zusammen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie starrte durch das Küchenfenster, an dem Regentropfen herunterperlten. Auch der Himmel weinte über diese Ungerechtigkeit. Anna hatte die ganzen Jahre über gewusst, dass ihr dieser Tag irgendwann bevorstand. Sie hatte Angst davor gehabt und sich lange darauf vorbereitet. Nun war sie dennoch überrascht, wie schnell der Moment gekommen war. Jetzt war es also so weit, der 21. April … Das war bereits in drei Tagen. Wie konnte man ihn jetzt schon entlassen? Nach nicht einmal fünf Jahren!
Traurig starrte Anna auf das zerknitterte Papier in ihrer Hand. Sie strich ihr kariertes Bauwollhemd glatt, stand vom Tisch auf und blickte sich ratlos in der Küche um. Ihr Leben hatte sich mit einem Schlag verändert, doch in ihrem Bauernhaus hatte die Zeit scheinbar stillgestanden. Alles sah noch genauso aus wie vor Klaus’ Tod. Die Möbel waren abgenutzt, zusammengewürfelt und stammten größtenteils von seinen Eltern. Damals war sie mit drei Koffern Hals über Kopf zu ihm auf den Bauernhof gezogen, hatte für ihn ihren ersten Ehemann verlassen. Klaus war wie eine Bombe in ihr Leben eingeschlagen, alles änderte sich von heute auf morgen: Sie gab ihr Leben in der Stadt als Frau eines Zahnarztes auf und ging aufs Land, um Bäuerin zu werden. Keine Sekunde bereute sie ihre zweite Ehe, obwohl das Leben zuvor bequem und luxuriös gewesen war. Mit Martin besaß sie ein großes Haus und einen wunderschönen Garten, unternahm mehrmals im Jahr Urlaube an Traumstränden oder Kurztrips in europäische Metropolen. Eigentlich waren sie das ideale Paar – aber eben nur eigentlich, denn Martin wollte nie Kinder und dafür seinen Lebensstil aufgeben. Und dann trat Klaus in ihr Leben. Auf einem Stadtfest am Bierstand stieß sie zufällig mit ihm zusammen und kippte den Inhalt ihres Glases auf seine Hose. Sofort kamen sie ins Gespräch, ein belangloser Small Talk, bei dem Anna dennoch das Gefühl beschlich, sie würde Klaus bereits seit Jahrzehnten kennen. Nachdem sie ihm ihre Telefonnummer mit der Aufforderung überreicht hatte, sich wegen der Reinigungskosten zu melden, passierte tagelang nichts. Ihre Begegnung ging ihr jedoch nicht mehr aus dem Kopf, immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie an sein Lächeln denken musste. Eine Affäre oder gar eine Liebesbeziehung lag weit jenseits aller Vorstellungskraft, das kam für sie nicht infrage. Allerdings gerieten ihre moralischen Vorsätze schnell ins Wanken, als Klaus sich schließlich bei ihr meldete. Natürlich hatte er die Hose selbst gewaschen und schlug als Wiedergutmachung ein Essen vor. Zu ihrem eigenen Erstaunen nahm sie die Einladung an.
Selbstverständlich mochte Anna Martin und glaubte damals, sie würde mit ihm alt werden. Doch sie hatte sich gründlich getäuscht. Nie hätte sie gedacht, dass es in der Liebe Abstufungen gab, nie für möglich gehalten, dass die Skala der Gefühle nach oben offen war. Als sie zu Klaus auf den Bauernhof zog, fühlte sie sich so glücklich wie nie zuvor. Er war die Liebe ihres Lebens. Anna freute sich über jeden Morgen, den sie an seiner Seite erwachte. Obwohl sie bereits 41 und er 43 Jahre alt war, träumten sie von gemeinsamen Kindern. Zu Beginn wunderte Anna sich gelegentlich, dass sie – trotz ihres Alters – die Welt durch eine rosarote Brille betrachtete. Doch auch in diesem Fall hatte sie geirrt. Die Ehe mit Klaus blieb rosarot, wenn auch das bäuerliche Leben beschwerlich war. In all den Jahren leisteten sie sich gerade einmal einen Herd und Kühlschrank, mehr war nicht möglich. Der neue Kuhstall und die moderne Melkanlage verschlangen ihr ganzes Geld. Klaus hatte sie immer in dunklen Momenten getröstet und beruhigt. Er war sich zu jedem Zeitpunkt sicher gewesen, dass sie mit der Investition ordentlich Gewinn machen würden …
Anna schluchzte nun hemmungslos, Tränen liefen ihr in Strömen die Wangen hinunter. Mit zittrigen Händen hielt sie sich an der Spüle fest. Keine fünf Jahre hatten sie diesen Mazcevski eingesperrt! Er, der alles zerstört hatte!
»Ist das fair?«, rief Anna verzweifelt aus.
Sie spürte, wie eine unbändige Wut in ihr aufstieg. Nein, das war nicht gerecht! Er musste dafür büßen! Wenn der Staat es nicht tat, musste sie eben selbst für Gerechtigkeit sorgen! Sie würde Klaus rächen! Drei Tage … Sie würde da sein!
Hasserfüllt warf sie den Brief in den Müll, bevor sie ein Papiertaschentuch aus der Küchenschublade nahm und sich schnäuzte. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Ihr Blick fiel nach draußen, wo der Traktor im Regen vor der windschiefen Scheune stand, die über Eck an das alte Bauernhaus angebaut worden war. Sie fühlte sich leer, doch sie musste weitermachen. Wie so oft wartete der Hof und gönnte ihr keine Pause. Der Traktor musste schnellstens in die Scheune zu den anderen Maschinen gefahren werden. Und es war allerhöchste Zeit, die Kühe zu füttern.
Anna wischte sich die letzten Tränen von der Wange und ging in den Flur. An der Haustür nahm sie ihren grauen Arbeitskittel vom Nagel, zog ihn an und schlüpfte in ihre lehmverschmierten grünen Gummistiefel. Mit geübten Handgriffen band sie ihr schulterlanges, blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Als sie hinaustrat, blies ihr die kühle Aprilluft entgegen. Immer noch trieb der Regen dunkle Schwaden über das Gehöft. Von den bewaldeten Anhöhen des Umlands wehte der würzige Geruch von Holz und frischem Gras herüber. Auf den Hecken zeichnete sich der erste grüne Schimmer ab und von den Osterglocken, die sie auf der Wiese neben dem Hof gepflanzt hatte, waren die ersten gelben Tupfer zu sehen. Annas Blick folgte dem gepflasterten Weg, der sich am Fachwerkhaus vorbei den Hügel hinaufschlängelte. Am Waldrand grasten drei Rehe, doch Anna wandte sich ab. Heute hatte sie keinen Sinn für die idyllische Natur, in der sie lebte. Sie starrte hinauf zu dem Kuhstall auf der Anhöhe, den Klaus mit der neuen Melkanlage einschließlich rostfreier Milchtanks und dem Güllebecken hatte errichten lassen. Für all das war sie nun allein verantwortlich.
Das Gejaule ihrer Katzen schreckte Anna aus der lähmenden Melancholie. Die drei rauften sich vor der Gerätescheune mit nassem und struppigem Fell um eine abgemagerte Maus, die dabei Stück für Stück in ihre anatomischen Einzelteile zerlegt wurde. Anna seufzte und ging mit hängenden Schultern zum Trecker. Das ganze Gewicht der Welt schien auf ihr zu lasten.