21. April
Da Anna sich kein eigenes Auto leisten konnte, war ihr an diesem regnerischen Tag nichts anderes übrig geblieben, als in aller Frühe von Ratemicke per Bus nach Olpe zu fahren, um von dort die Bahn zu nehmen. Nun saß sie endlich im Bus zur Justizvollzugsanstalt in Attendorn. Sie wusste aus Mazcevskis Briefen, dass man ihn vor zwei Jahren von Werl dorthin verlegt hatte. Auch wenn er in jedem seiner Schreiben betont hatte, wie leid ihm alles tat, sie konnte ihm nicht verzeihen.
Anna saß steif auf der Sitzbank aus rotem Kunstleder. Die dampfende, nasse Kleidung der Menschen um sie herum verströmte einen muffigen Geruch. Sie hatte sich an diesem Morgen bewusst für ihren beigefarbenen Regenmantel und ein unauffälliges, dunkelblaues Kopftuch entschieden. Obwohl sie es fest umgebunden hatte und kein Haar hervorlugte, traute sie sich nicht, jemandem in die Augen zu schauen.
Anna richtete ihren Blick auf ihre schwarze Handtasche, die sie auf ihrem Schoß krampfhaft festhielt, sodass sich ihre Fingerknöchel weiß färbten. Ihre schwieligen Hände waren von der harten Arbeit gezeichnet. Nichts erinnerte mehr an die schönen, gepflegten Finger der Chefsekretärin von einst, dachte Anna wehmütig. Zumindest hatte sich ihre Figur nicht verändert. Dass ihr Körper durch das jahrelange Training als Triathletin beim TV Buschhütten drahtig war, war bei der Arbeit auf dem Hof von Vorteil. Allerdings schmerzte ihre linke Schulter, eine alte Sportverletzung, von Zeit zu Zeit höllisch. Da sie sie täglich belasten musste, schlug ihr der Arzt immer wieder ein künstliches Gelenk vor. Aber wer wollte sich schon mit gerade einmal 46 Jahren Ersatzteile einpflanzen lassen? Sie hatte es eben nicht anders gewollt. Und obwohl das Leben auf dem Land anstrengend und voller Entbehrungen war, fühlte sie sich so frei wie nie zuvor. Sie gehörte einfach auf einen Bauernhof – auch ohne Klaus.
»Justizvollzugsanstalt Ewig.« Die Busansage riss Anna aus ihren Gedanken.
Hastig wischte sie sich mit der Hand die Tränen aus den Augen und verließ mit gesenktem Kopf den Bus. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, direkt hier auszusteigen, überlegte sie. Sie blickte zum ursprünglichen Gefängnisbau hinüber, der auf dem Gelände des früheren Klosters ›Ewig‹ errichtet worden war, und dem neueren Komplex daneben. Während Ersterer wie ein kleines Schloss wirkte, vermittelte Letzterer den Eindruck eines eleganten, modernen Vier-Sterne-Hotels. Die gesamte Anlage lag hinter dem Staudamm der Biggetalsperre, eingebettet in ein idyllisches Waldgebiet. Nur die hohe Betonwand mit dem Stacheldraht auf der Mauerkrone ließ erahnen, dass dies eine Justizvollzugsanstalt war. Nicht umsonst nannte man sie im Volksmund ›Hotel Ewig‹, dachte Anna bitter. Angesichts der imposanten Architektur empfand sie ihr Schicksal noch ungerechter als ohnehin schon. Wie mochte es wohl drinnen aussehen? Gab es etwa helle Räume statt dunkler Zellen mit vergitterten Fenstern? Warmes Holz und fröhliche Farben statt trister und blasser Anstaltswände?
Anna spürte, wie wütend und angespannt sie war. Trotz der wenigen Kilometer hatte sie der Weg hierher über eine Stunde gekostet. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass es bereits 9 Uhr war. Hoffentlich war sie nicht zu spät. Gedankenverloren spannte Anna ihren Regenschirm auf. Die Nässe kroch ihr die Hosenbeine hoch. Erst jetzt merkte sie, dass sie wohl beim Aussteigen unachtsam in eine Pfütze getreten war. Ihre Jeans klebten an den Waden und in ihren Goretex-Schuhen machte sich Feuchtigkeit breit. Wasserdicht, das wusste niemand besser als sie, waren eben nur Gummistiefel. Leider galt das im doppelten Sinne: kein Regen rein, kein Schwitzwasser raus. Ob sie wohl die einzige Frau mit Schweißfüßen war?
»Der nächste Bus kommt erst in eineinhalb Stunden«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Anna drehte sich erschrocken um. Vor ihr stand ein älterer Mann in Wandermontur mit einem Rucksack auf dem Rücken. Er lächelte sie freundlich an. »Hier gibt es keine Unterstellmöglichkeit. Aber vorne, direkt hinter der Unterführung, ist ein Hotel. Das Restaurant hat geöffnet, da können Sie einen Kaffee trinken. Sie können sich natürlich auch in der Unterführung unterstellen.« Der Herr deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite.
Anna nickte. »Vielen Dank, das ist eine gute Idee.«
Sie wandte sich ab und eilte davon. Als sie die Unterführung erreichte, schob sie ihren Schirm zusammen und steckte ihn zurück in ihre Handtasche. Der Platz war ideal, um unentdeckt zu bleiben. Glücklicherweise waren bei diesem schlechten Wetter ohnehin nur wenige Menschen freiwillig unterwegs. Immerhin hatte der Schauer etwas nachgelassen. Nur ein feuchter, nebliger Nieselregen hing jetzt noch in der Luft.
Aus ihrem Versteck lugte Anna zur Justizvollzugsanstalt hinüber. Sie ließ den Eingang keine Sekunde aus den Augen. Ob er durch diese Tür in die Freiheit kommen würde?
Während sie wartete, trat sie von einem Fuß auf den anderen, um die Kälte zu verscheuchen. Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen. Die Minuten krochen dahin. Nach einer geraumen Weile bemerkte Anna zwei Frauen, die in Richtung Bushaltestelle liefen und sich leise unterhielten. Schnell ging sie ein paar Schritte nach hinten in den Schutz der Unterführung, damit die Passantinnen sie nicht sehen konnten. Ungeduldig spähte sie immer wieder zu ihnen hinüber. Endlich traf der Bus ein und nahm die beiden Damen mit. Als er an der Unterführung vorbeifuhr, presste Anna sich eng an die Wand und blickte zu Boden. Dann war sie wieder allein. Anna schaute auf die Uhr: Es war gleich Viertel vor elf. Lange konnte sie nicht mehr bleiben, die Kühe mussten versorgt werden, daran gab es nichts zu rütteln. Obwohl die meisten Bauern aus dem örtlichen Verband anderer Meinung waren, hielt sie daran fest, drei- statt zweimal täglich abzumelken.
Anna beschloss, langsam in Richtung Gefängnis zu gehen, als sich plötzlich etwas am Eingang regte. Gespannt hielt sie den Atem an und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Die Gefängnistür öffnete sich und ein junger Mann mit einer Sporttasche auf der Schulter trat heraus. Er blieb stehen, um den Kragen seiner Lederjacke hochzuschlagen und seine dunkle Wollmütze bis zu den Augenbrauen hinunterzuziehen. Anna musterte ihn. Ihr Puls begann zu rasen. Zuletzt war sie Mazcevski vor fünf Jahren im Gerichtssaal begegnet, doch auch danach hatte sein Konterfei sie in zahlreichen Zeitungsberichten verfolgt. Er hatte sich verändert, aus dem hageren Jüngling mit dem affigen Ziegenbärtchen war ein kräftiger junger Mann geworden. Überhaupt hatte er während der Haft markantere Züge bekommen. Bestimmt hatte er die Jahre dazu genutzt, Bodybuilding zu betreiben, wie alle im Knast. Anna schnaufte abfällig. Da stand er nun, der Mörder ihres Mannes – in Freiheit und durchtrainiert, als wäre nie etwas gewesen!
Mit einem unschuldigen Blick schaute der junge Mann unschlüssig umher. Anna hatten seine flehentlich bettelnden Rehaugen während der gesamten Prozesstage gequält. Nun suchten sie offensichtlich etwas Bestimmtes. Vermutlich hatte er damit gerechnet, abgeholt zu werden. Ruckartig wuchtete er die Sporttasche über seinen Kopf, offensichtlich um sich vor dem feinen Regen zu schützen, und setzte sich in Bewegung. Statt zur Bushaltestelle zu gehen, schlug er die entgegengesetzte Richtung ein.
Mit einem Schlag fielen von Anna alle Angst und Nervosität ab. Wie in Trance nahm sie die Verfolgung auf. Ähnlich einem Déjà-vu-Erlebnis beschlich sie das Gefühl, das Geschehen bereits erlebt zu haben. Sie sah die ganze Szene wie ein gestochen scharfes Schwarz-Weiß-Foto vor sich, als ob der Regen die Farben aus dem Tag gewaschen hätte. Die Umgebung um sie herum nahm sie nur schemenhaft war, ihr Blick war fest auf seinen Rücken gerichtet. Schnell schloss sie zu ihm auf, kam Meter für Meter näher. Im Gehen öffnete sie ihre Tasche und ließ ihre Hand hineingleiten. Sie hatte erwartet, dass sie aufgeregt sein und zittern würde. Sie hatte damit gerechnet, dass sie in letzter Sekunde ihr Vorhaben abbrechen würde. Doch nun waren es nur noch wenige Schritte. Sie konnte das Leder seiner feuchten Jacke bereits riechen. Der Griff des Messers lag warm in ihrer Hand.
Als er zum Greifen nahe war, zog Anna das Messer aus der Tasche. Mit einem Satz sprang sie nach vorn und rammte ihm das Messer mit aller Kraft in den Rücken. Beim Ausmisten der Ställe hatte sie sich diesen Moment viele Male ausgemalt. Immer wenn sie die Mistgabel in das verklumpte Heu gestochen hatte, hatte sie ihn vor sich gesehen. Sie war sich sicher gewesen, dass es sich genau so anfühlen würde. Aber es war anders. Die Spitze des langen, scharfen Jagdmessers glitt mühelos durch die Lederjacke, doch dann spürte Anna einen Widerstand. Das Messer traf auf etwas Hartes und drang nicht bis zum Schaft ein. Dennoch stürzte ihr Opfer durch die Wucht ihres Angriffs nach vorn. Mit den Händen über dem Kopf an der Sporttasche prallte der junge Mann ungebremst mit der Stirn gegen die Bordsteinkante und blieb regungslos liegen.
In diesem Augenblick empfand Anna weder Triumph noch Mitleid. In ihr war nur eine große Leere. Wie gelähmt betrachtete sie die Gestalt auf dem Boden. Es war kaum Blut zu sehen. War er wirklich tot? Sie hatte mit einer Lache gerechnet.
Anna bückte sich und stupste den Körper an, doch nichts geschah. Der junge Mann lag wie ein nasser Sack in der Gosse und bewegte sich nicht mehr. Als Anna kräftiger an ihm rüttelte, fiel eine CD scheppernd aus seiner Lederjacke auf die Straße. Er selbst gab keinen Laut von sich. Neugierig griff Anna nach der CD-Hülle. Schlagartig wurde ihr klar, dass dies ein Fehler gewesen war. Panik stieg in ihr auf. Jetzt waren ihre Fingerabdrücke auf der Hülle!
Das Motorengeräusch eines Autos schreckte sie auf. Hastig hob sie den Kopf und sah einen dunklen Wagen langsam auf sich zufahren. Sie musste verschwinden – und zwar schleunigst!
Instinktiv steckte sie die CD in ihre Handtasche, erhob sich und eilte mit raschen Schritten davon. Anna hörte, wie das Auto hinter ihr immer näher kam. Sie rannte los, den Blick starr geradeaus gerichtet. Hinter dem Gefängnis endete die Straße und mündete in einen großen Parkplatz, von dem aus eine Wanderstrecke zur Talsperre hinaufführte. Sie wusste, dass der Weg durch den Wald in einen kleinen Trampelpfad überging, der sie zu einer entfernten Bushaltestelle bringen würde. Anna presste im Lauf ihre Tasche eng an den Körper und sprintete den steil ansteigenden Weg hinauf. Sie kam auf dem morastigen Boden ein paar Mal ins Rutschen, doch ihre Angst verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Sie wollte einfach nur weg – so schnell wie möglich weg von hier.
*
Alexej stoppte den schwarzen 5er-BMW direkt neben dem regungslosen Körper, der halb auf dem Gehsteig, halb auf der Straße lag. Roman stieg hektisch auf der Beifahrerseite des Wagens aus.
Als er das Messer erblickte, blieb er erstarrt stehen. Dann beugte er sich über den schlaffen Körper und rollte ihn auf den Rücken. »Hey, Boris!«, schrie er und gab seinem Kumpan kurze, leichte Schläge auf die Wangen.
Als seine Bemühungen keinen Erfolg zeigten, schaute er in die Richtung, in die die Frau geflüchtet war. Schnell griff er nach der Sporttasche, die auf der Straße lag, und warf sie ins wartende Auto. »Die Frau mit dem Kopftuch! Ihr hinterher, los beeil dich, Alexej!«, rief er seinem Fahrer zu und sprang in den Waagen.
Der 5er-BMW schoss vorwärts auf den Parkplatz zu. Mit schleuderndem Heck brachte Alexej den Wagen kurz vor dem rot-weißen Poller des Wanderweges zum Stehen.
Beide Männer sprangen heraus und Roman zückte einen Revolver, doch die Frau war mittlerweile auf dem Hügel nur noch schemenhaft zu erkennen. Der feine Nieselregen hing wie Nebel über dem ansteigenden Gelände, die Nadelbäume des Waldes waren im Hintergrund lediglich als dichte Schatten zu erahnen.
Romans Blick glitt auf den morastigen Boden. Als er die frischen Abdrücke von groben Schuhprofilen entdeckte, die sich mit Wasser gefüllt hatten, nickte er seinem Kumpel zu. Mühselig stolperten sie den Weg hinauf. Ihnen blieb nicht viel Zeit, bis die Polizei eintreffen würde, doch sie verloren immer wieder den Halt auf dem matschigen Untergrund.
Nachdem sie wiederholt bergab geschlittert waren, hielt Alexej inne und rückte seine Baseballkappe zurecht. »Es hat keinen Sinn, Roman!«, keuchte er.
Roman blickte resigniert an sich hinunter. Er war noch ungeeigneter gekleidet als Alexej mit seiner Rapperkluft. Die Hosenbeine seines Designeranzugs und sein eleganter Wollmantel waren von Schlammspritzern bedeckt. Dicke Erdklumpen klebten an seinen teuren, schwarzen Lederslippern.
»Du hast recht. Unsere Schuhe sind zu rutschig. Die werden wir uns später schnappen. Das wird die kleine Türkin mir bezahlen!«, raunte er und stopfte seinen Revolver wütend ins Holster unter seiner Anzugjacke.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Alexej kleinlaut.
»Wir fahren zu Viktor, erzählen ihm die ganze Scheiße hier. Der hat bestimmt eine Idee. Los beeil dich, bevor die Bullen kommen.«
*
Lebrecht saß in seinem Mercedes, zog nachdenklich an seiner Zigarette und blies den Rauch langsam zum Seitenfenster hinaus. Zum Glück hatte er seinen Wagen in sicherer Entfernung am Rand des Parkplatzes abgestellt und hatte alles unbemerkt beobachten können. Die Geschehnisse brachten ihn ins Grübeln. Wer war die Frau mit Kopftuch und was waren das für lächerliche Gestalten, die sie verfolgten? Die kamen nicht mal diesen leichten Anstieg hoch! Aber wie denn auch, wenn man die Hosen in den Kniekehlen trug beziehungsweise sich wie ein geleckter Mafiosi kleidete!
In aller Seelenruhe beobachtete er, wie die zwei Karikaturen zu ihrem BMW zurücktrotteten, mit quietschenden Reifen wendeten und davonrasten. Die beiden passten nicht in das Bild. Überhaupt passte hier gar nichts, dachte Lebrecht und zog an seiner Zigarette.
Er blickte zur Straße vor dem Gefängnis, wo der regungslose Körper lag. Wahrscheinlich tot. Er schüttelte den Kopf, als ob er nicht glauben könnte, was er soeben gesehen hatte. Dabei bewegte sich sein schütteres Haar keinen Millimeter, so straff klebte es an seinem Schädel. Durch den Nieselregen hatte er nicht alle Details erkennen können, doch was er gesehen hatte, reichte ihm. So hatte es nicht laufen sollen.
Lebrecht wollte gerade die Zigarette durchs Fenster wegschnippen, als ihm etwas einfiel. Schnell zog er seine Hand zurück. Er durfte keine Spuren hinterlassen. Sorgfältig drückte er die Kippe in dem überquellenden Aschenbecher seines Mercedes aus. Dann griff er nach seinem Handy, das achtlos auf der Mittelkonsole lag, und versuchte mühevoll mit seinen dicken Finger die kleinen Tasten zu bedienen.
»Ja!«, rief eine schroffe Stimme, bevor Lebrecht das Telefon an sein Ohr halten konnte. »Hast du alles erledigt?«
»Es gab Komplikationen«, antwortete Lebrecht ruhig.
»Du willst mir doch nicht sagen, dass er dir entwischt ist!«
»Das nicht. Aber eine Frau hat ihn niedergestochen.«
»Wie niedergestochen? Auf offener Straße?«
»So ist es. Und sie hat die CD eingesteckt.«
Nach kurzem Schweigen am anderen Ende der Leitung, blaffte sein Auftraggeber: »Sieh zu, dass du sie schnappst und die CD bekommst! Dafür bezahle ich dich schließlich!«
»Es gibt noch ein weiteres Problem«, erklärte Lebrecht unbeeindruckt. »Hier sind zwei Typen aufgekreuzt. Sahen aus wie russische Schmalspurganoven. Die Deppen haben versucht, die Frau zu erwischen. Haben sie allerdings nicht gekriegt. Kann sein, dass die uns vielleicht in die Quere kommen. Aber keine Sorge, ich hab das im Blick. Die Frau ist in den Wald gerannt, ich weiß, wo sie rauskommen wird. Ich hänge mich dran.«
»Das will ich schwer hoffen. Wer ist sie? Kennst du sie?«
»Nein, ich habe nicht die geringste Ahnung, was hier vorgeht. Sie trug ein Kopftuch, wie eine Türkin. Ich werde die Dinge klären.«
Lebrecht trennte ohne ein Wort des Abschieds die Verbindung, zündete sich erneut eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Er hatte Routine in seinem Job, nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Wer zu hastig handelte, machte Fehler. Und er machte keine Fehler. In aller Ruhe ließ er die Ereignisse Revue passieren. Die Frau war mit dem Bus gekommen, folglich würde sie mit aller Wahrscheinlichkeit nach wieder mit einem Bus den Rückweg antreten.
Lebrecht schaltete sein Navigationsgerät ein. Er klickte sich durch einige Menüs, bis er die gewünschte Karte vor sich sah: die Haltestellen im Standortumkreis. Mit einem Blick war ihm sonnenklar, welche Station die Frau anpeilen würde. Aus Gewohnheit öffnete er das Handschuhfach und vergewisserte sich, dass seine Automatik noch darin lag. Erst dann startete er den Motor.
*
Als Anna sich erschöpft ihrem Hof näherte, hörte sie bereits das Muhen der Kühe. Das Vieh hatte volle Euter und mochte offensichtlich keine Abweichung von den festen Melkzeiten. Doch Anna war völlig ausgepumpt. Die Verfolger hatte sie abhängen können, und auch an der Bushaltestelle war sie allein gewesen. Während der ganzen Fahrt hatte sie angespannt aus dem Fenster gestarrt, aber niemand schien ihr zu folgen. Sie hatte es tatsächlich geschafft.
Als sie die Tür zu ihrem Bauernhaus aufsperren wollte, sah sie, dass ihre Jeans und ihr Mantel von oben bis unten mit Schlamm bespritzt waren. Mist! Bestimmt würden sich die anderen Fahrgäste an sie erinnern, schoss es Anna durch den Kopf. Für eine heiße Dusche blieb ihr keine Zeit, obwohl sie sich danach sehnte. Sie empfand das Bedürfnis, sich in jeglicher Hinsicht reinzuwaschen.
In der Diele hängte Anna ihr Kopftuch am Kleiderhaken auf, schlüpfte aus ihren dreckigen Goretex-Schuhen und ging in den kleinen Raum neben der Küche. Hier entledigte sie sich ihrer Kleider und stopfte sie mitsamt der Unterwäsche in ihre altersschwache Waschmaschine. Müde schüttete Anna das Pulver ins Fach, drückte die Tür zu und betätigte den Schalter. Sofort dröhnte das vertraute Rattern durch das Haus. Das beruhigte Anna für einen kurzen Moment. Doch das fordernde Brüllen der Kühe übertönte alles.
Nackt eilte Anna nach oben ins Schlafzimmer, um sich ihre Arbeitskluft anzulegen. Mit dem karierten Baumwollhemd und der grünen Arbeitshose erfüllte sie jegliches Klischee einer Bäuerin im Sauerland, dachte sie lächelnd. Fehlte nur noch der graue Kittel, den sie immer griffbereit unter dem kleinen Vordach vor der Haustür aufhängte.
Wieder unten angekommen, stieg sie in die grünen Gummistiefel und eilte über den gepflasterten Weg den Hügel hinauf zum Kuhstall. Als sie die große Stalltür zu Seite schob, sah sie, wie sich ihre Milchkühe bereits vor dem Zugang zur Melkstation drängten. Anna blickte stolz auf das moderne Innenmelkerkarussel, als sie dessen Eingang öffnete und die ersten Tiere zu den Melkplätzen führte. Anschließend stieg sie die Stufen hinunter zum gefliesten Boden vor dem Rondell, um mit der Arbeit zu beginnen. Mit der Hand melkte sie die Zitzen von Agatha Christie kurz an und stülpte dann die Melkbecher darüber. Es folgten Enid Blyton, Rebecca Gablé und Isabel Allende. Im Anschluss tippte Anna die Namen in das Panel der Melkstation ein. Da Anna ihre Kühe immer nach Schriftstellerinnen benannte, konnte sie sich die Namen bestens merken. Außerdem floss ihr großes Hobby – das Lesen – auf diese Weise wenigstens ein bisschen in ihren Arbeitsalltag ein.
Nachdenklich schaute sie zu, wie die Milch durch die durchsichtigen Schläuche floss. Alles war wie immer. Ihre Tat vor der Justizvollzugsanstalt schien unendlich fern, hatte nichts mit ihrem Leben zu tun. Die Routine holte sie ein, wie jeden Tag von 5 Uhr morgens bis 7 Uhr abends – auch an Samstagen, Sonntagen und Feiertagen.
Plötzlich stieg Anna der unbändige Gestank von Kuhmist in die Nase. Auch wenn sie sich damit arrangiert hatte, roch es heute doch anders, irgendwie intensiver. Anna holte eine Taschenlampe aus dem Werkzeugregal und richtete sie auf den Güllerost am Boden, der die Fäkalien durch einen Kanal in den Behälter hinter dem Stall leitete. Die Jauche stand eindeutig zu hoch. Wahrscheinlich war der Abfluss am Ausgang mal wieder verstopft. Sie musste diese Fehlkonstruktion unbedingt umbauen lassen, wenn etwas Geld übrig blieb. Aber für den Moment musste sie sich anders behelfen – am besten sofort.
Schnell wandte sich Anna ihren Tieren zu und nahm die Becher von den Eutern. Mechanisch griff sie in den Eimer mit Melkfett, rieb die Zitzen ein und drängte die Milchkühe aus dem Rondell heraus, um Platz für die nächsten vier zu schaffen. Mit allen 50 Kühen würde sie rund zwei Stunden beschäftigt sein. Früher, mit Klaus, hatten sie sich die Arbeit geteilt, da war noch Zeit für andere Erledigungen geblieben, und vor allem für ein Privatleben. Doch jetzt, wo sie den Hof allein bewirtschaftete, musste sie sich ihre Zeit genau einteilen.
Obwohl Anna den Melkvorgang eigentlich beaufsichtigen musste, rannte sie aus dem Stall, als die Milch über die Becher durch die Schläuche schoss. Sie lief um das Gebäude herum bis zu der Stelle, wo der Güllekanal in den großen, runden Behälter mündete. Tatsächlich tropfte nur ein klägliches braunes Rinnsal heraus. Anna wischte sich den Schweiß von der Stirn, eilte zurück, trieb die vier Kühe aus dem Karussell und schloss vier neue an die Anlage an. Dann rollte sie den Hochdruckreiniger, der neben dem Eingang des Stalles stand, zu dem verstopften Güllekanal. Mit dem Stecker in der Außendose testete sie das Gerät kurz, bevor sie den Strahl in den Kanal unterhalb des Stalls lenkte. Der kochend heiße Dampf zischte kurz in der kalten Aprilluft, dann besprenkelten auch schon feine Spritzer Kuhmist ihren grauen Kittel. Anna schüttelte bei dem Gedanken den Kopf, dass die Menschen aus der Stadt den Gestank von Kuhscheiße als ›frische Landluft‹ bezeichneten. Wenn man den Güllegeruch als ›original Landluft‹ in Dosen abfüllen könnte, würde man wahrscheinlich ein Vermögen damit verdienen.
Anna hielt die Hochdruckdüse in den Abfluss, bis der Wassertank des Reinigers leer war. Langsam löste sich die Verstopfung, sodass die übel riechenden Fäkalien ungehindert in den Behälter strömen konnten. Sie musste unbedingt die Gülle so bald wie möglich ausfahren, sonst würde der Behälter überlaufen. Doch zunächst waren wieder die Tiere an der Reihe.
Nachdem alle Kühe gemolken waren, füllte Anna aus dem großen, gekühlten Edelstahltank vier Eimer mit frischer Milch ab und trug sie zu dem separaten Stall, in dem sie ihre vier Kälber aufzog. Als sie über die Schwelle trat, ging ihr sofort das Herz auf. Die kleinen Rinder schauten sie wie zu groß geratene Steifftiere aus runden Augen erwartungsvoll an. Die Aufzucht der Kälber war der schönste Teil ihrer Arbeit. Der Lohn für alle Mühe. Anna tätschelte die Köpfe der Tiere und ließ sich die Handgelenke von ihnen ablecken, bevor sie die Tränkeimer am Rand der Box aufhängte. Sofort begannen die Kleinen, daran zu saugen.
Mit einem Seufzen verließ Anna den Stall und schlenderte zum Haus hinüber. Sie liebte zwar das bäuerliche Leben mit den Tieren, doch blieb ihr für die schönen Tätigkeiten immer zu wenig Zeit. Auch machte ihr nach wie vor der typische Landgeruch zu schaffen. Trotz ihres abendlichen Waschgangs blieb er an ihr haften, sodass sie schon lange kein Parfüm mehr benutzte. Wozu auch, was brachte schon eine Mischung aus Scheiße und Chanel?
Während sie die Gummistiefel auszog, betrachtete sie die bemalten Milchkannen vor der Eingangstür des Bauernhauses. Bald würden darin üppige Geranien blühen. Sie waren als erste dekorative Elemente gedacht gewesen, mit denen Klaus und sie den Hof in ein idyllisches Ferienparadies für Gäste hatten verwandeln wollen. Heute waren sie nur ein Überbleibsel unvollendeter Pläne, von denen die Farbe abblätterte. Ein Mahnmal, das sie daran erinnerte, was sie alles ohne Klaus nicht mehr bewerkstelligen konnte.
Bevor ihr die Tränen kamen, wandte sich Anna ab und öffnete den Briefkasten. Werbung und das wöchentliche Anzeigenblatt flatterten ihr entgegen. Gott sei Dank keine neuen Rechnungen.
Sie griff sich die Post und ging in ihr Arbeitszimmer, wo sie kurz nachschaute, ob jemand auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte. Keine neuen Nachrichten. Auch im E-Mail-Eingang fand sie gähnende Leere vor. Unentschlossen blieb sie an ihrem Schreibtisch sitzen. Um sich ein warmes Essen zuzubereiten, fehlte ihr heute die Muße. Anderseits knurrte ihr der Magen.
Mit der Post unter dem Arm ging sie in die Küche, setzte einen Kaffee auf und belegte sich ein dick mit Butter bestrichenes Brot mit Käse. Während sie kaute, öffnete sie die Glastür des Schrankes. Als sie ihre Tasse herausnahm, begann ihre Hand plötzlich zu zittern. Sie hielt kurz inne und dreht sich dann langsam zum Tisch, um sich den Kaffee einzugießen. Wie ein Blitz schossen die Bilder des Morgens durch ihren Kopf. Sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, sie bebte so stark, dass der Kaffee überschwappte. Sie setzte sich, legte ihre Hände auf die geblümte Plastiktischdecke und atmete tief ein und aus. Es war bestimmt nur der Schock. Langsam entspannte Anna sich.
Sie griff erneut nach der Tasse und führte sie mit beiden Händen fest umklammert zum Mund. Als sie einen Schluck zu sich genommen hatte, breitete sich sofort Wärme in ihrem Körper aus. Das tat gut. Ihr Kaffee war ihr heilig. Für diesen einen Moment ließ sie alles ruhen. Einfach dasitzen und die Ruhe genießen. Das waren kleine Augenblicke des Luxus, die sie sich gönnte und die sie brauchte.
Nachdem Anna die Tasse geleert hatte, entfaltete sie das Anzeigenblatt, um die Regionalnachrichten zu überfliegen. Ein Brief fiel heraus und landete ausgerechnet in der Kaffeepfütze. Müde nahm sie ein benutztes Geschirrhandtuch, das über der Spüle hing, und wischte die Lache auf. Als sie den Brief trocken rieb, verschmierte sie die Adresse. Trotzdem erkannte sie die Handschrift sofort. Wieder begann sie zu zittern.
»Ruhig bleiben!«, befahl sich Anna laut und riss energisch den Umschlag auf.
Sehr geehrte Frau Lobbisch,
verzeihen Sie bitte meine Aufdringlichkeit. Obwohl ich mir vorgenommen habe, Sie in Ruhe zu lassen, geht es einfach nicht. Nach wie vor bin ich im Gefängnis, denn ich werde nun doch erst am 24. April entlassen. Es gab offensichtlich einen Fehler in der Datenverarbeitung, vielleicht ist das etwas Genugtuung für Sie. In den letzten Tagen, die ich unvorhergesehen noch hinter Gitter verbracht habe, ist mir eines klar geworden: Ich kann nach meiner Entlassung nicht einfach ein neues Leben beginnen. Bitte geben Sie mir die Gelegenheit, Sie persönlich zu sprechen. Nur ein paar Minuten, danach breche ich den Kontakt ab, falls Sie das wünschen. Bitte, Frau Lobbisch, es wäre mir sehr wichtig.
Ich habe vor, Sie nach meiner Entlassung zu besuchen und sende Ihnen diese Zeilen, damit Sie nicht unvorbereitet sind. Bitte weisen Sie mich nicht ab. Bitte.
Mit freundlichen Grüßen
Tim Mazcevski
*
»Ausgerechnet der Ruste«, raunte der Streifenpolizist dem jungen Polizeimeister Schröder zu. »Wenn du dir deine Karriere nicht versauen willst, halte dich von Ben Ruste fern.«
Schröder schaute von seinen Notizen hoch, die er, wie er es während seiner Ausbildung gelernt hatte, sofort nach seiner Ankunft gemacht hatte. Er hätte sich nie träumen lassen, dass die Arbeit bei seiner neuen Dienststelle derart aufregend mit einem Gewaltverbrechen beginnen könnte. Der Tatort vor der Justizvollzugsanstalt Attendorn war großräumig mit rot-weißem Absperrband gesichert worden. Mehrere Einsatzfahrzeuge parkten davor, dazwischen standen wenige Passanten, die neugierig versuchten, etwas von dem Geschehen mitzubekommen. Die Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Overalls suchten jeden Zentimeter ab. Überall standen kleine Markierungen mit Zahlen auf dem Boden. Der Tatort glich einem Ameisenhaufen, bei dem offenbar jeder wusste, was er zu tun hatte. Alles spielte sich genauso ab, wie er es aus seinen Lehrbüchern kannte.
Zufrieden blickte Schröder zu dem Mann hinüber, der gerade aus einem dunkelgrauen Passat ausstieg. Der uniformierte Beamte neben ihm flüsterte ihm erneut zu: »Ben ist ein Fall für sich. Verdammt hohe Aufklärungsrate, allerdings ein notorischer Einzelgänger. Einer, der überall aneckt, wenn du verstehst, was ich meine.«
Schröder nickte, wollte sich jedoch lieber selbst eine Meinung über seinen neuen Vorgesetzten bilden. Er wusste bereits, dass Bernhard Ruste trotz seiner Ende 50 jung geblieben war und von allen nur ›Ben‹ gerufen wurde. Es passte ins Bild, dass Ben Ruste in einem Kapuzenpulli, einer verblichenen Jeansjacke und schwarzen Cordhose steckte. Sein dichtes graues Haar trug er auf Kinnlänge. Schröder bemerkte, dass es strähnig war, und fragte sich, ob sein Chef Gel benutzt hatte oder sich einfach nur zu selten wusch.
Er ging ein paar Schritte auf Ruste zu. »Äh, sind Sie Kommissar Ruste?«
»Der bin ich.«
»Darf ich mich vorstellen? Polizeimeister Schröder, seit gestern auf der Dienststelle in Olpe tätig.«
»Gut, gut. Viele neue Gesichter hier. Sind Sie mit den anderen hergekommen?« Ruste deutete auf einige junge Männer von der Spurensicherung.
»Ja, wir sind die versprochene Verstärkung, ich bin Ihnen zugeteilt«, erklärte Schröder eifrig.
»So, sind Sie das? Ich bin noch nicht dazu gekommen, meine Post zu lesen. Ich wusste gar nichts von Ihrem Kommen, sonst hätte ich es abgelehnt«, erwiderte Ruste.
Schröder schluckte, so hatte er sich seinen Empfang nicht vorgestellt.
»Aber wo Sie schon mal da sind, können Sie ja zeigen, was Sie leisten können. Also, wo ist die Leiche?«, fuhr Ruste fort.
»Es gibt keine Leiche«, antworte Schröder prompt.
Ruste blickte den Neuling verdutzt an. »Und warum bitte schön hat mich die Zentrale zu einem Mord beordert?«, fragte Ruste ungehalten. »›Mord‹ heißt, es muss auch eine Leiche geben, oder haben Sie in Ihrer Schule etwas anderes gelernt?«
»Ja, sicher … äh, nein. Normalerweise ist das so. Doch in diesem Fall hat der Tote überlebt. Äh, ich meine, er wurde erstochen, war aber nicht tot …« Schröder merkte, wie er ins Stottern kam.
Bevor er von Neuem ansetzen konnte, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihm. »Das vermeintliche Mordopfer wurde mit einem Messer niedergestochen, ist auf die Bordsteinkante gestürzt und hat das Bewusstsein verloren. Der Mann erlitt dadurch vermutlich eine Schädelfraktur. Hallo, Ben.«
Schröder drehte sich um und stieß fast mit dem Rechtsmediziner zusammen. »Entschuldigung, Dr. Korfmacher«, murmelte er verlegen.
»Hallo, Fabian«, warf Ruste mürrisch ein. »Also kein Mord. Wo ist das Opfer? Kann ich mit dem Mann reden und wer ist er überhaupt?«
Als er und der Mediziner gleichzeitig ansetzten, zu antworteten, entschuldigte sich Schröder verlegen und ließ den auch äußerlich gewichtigen Dr. Korfmacher zuerst sprechen. »Der Mann liegt im Koma. Ich fahre nachher ins Krankenhaus. Bis jetzt kann ich nur sagen, dass es ein Messerstich war, durch den das Opfer nicht lebensgefährlich verwundet wurde. Glücklicherweise steckte die Tatwaffe noch im Körper, sodass sich der Blutverlust in Grenzen gehalten hat. Wie es mit der Kopfverletzung aussieht, weiß ich allerdings noch nicht. Kann sein, dass der Mann bereits wieder bei Bewusstsein ist, kann sein, dass er noch im Koma liegt – und kann sein, dass er nie wieder aufwacht oder Hirnschäden davonträgt.«
»Aha«, grummelte Ruste.
Jetzt sah Schröder seine Chance gekommen. »Der Mann, der verletzt wurde, heißt Boris Wassiljew, ein Russlanddeutscher, der wegen schwerer Körperverletzung und weiterer Delikte hier inhaftiert war und heute entlassen wurde. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt, Klaus Ebbing, hat mir diese Informationen gegeben. Er ist bei den Kollegen dort vorn. Am Wanderweg hat man noch mehr Spuren gefunden.«
Schröder deutete auf den Parkplatz, doch Ruste hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Eilig schritt er seinem Vorgesetzten hinterher, der direkt auf Ebbing zusteuerte.
Der Gefängnisdirektor grüßte Ruste mit einem kurzen Handzeichen. »Hat nicht viel von seiner zurückgewonnenen Freiheit gehabt, woll?«
»Tja, so kann’s gehen«, erwiderte Ruste. »Klaus, kannst du mir was über das Opfer sagen?«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen, Ben. Er war ein guter Bekannter von uns, woll? Boris Wassiljew ist in Kierspe aufgewachsen und dort gemeldet. Typische kriminelle Karriere. Mehrfach verurteilt wegen Drogenbesitzes, Hehlerei, Schmuggel und wiederholte Male wegen Körperverletzung. Wir vermuten, dass er zum inneren Kern der Russenmafia gehört. Nachweisen konnte man ihm aber in dieser Hinsicht nichts. Ist ja immer so, woll?«
Ruste nickte nur kurz und wandte sich stumm den Männern der Spurensicherung zu. Schröder schaute verunsichert zwischen seinem neuen Chef und dem Gefängnisleiter hin und her. Klaus Ebbing galt es in seiner Position zu respektieren, dennoch irritierte Schröder dieses andauernde ›woll‹ am Ende der Sätze. Er war sich nicht sicher, ob er sich an diese sauerländische Spracheigenheit gewöhnen konnte. Dennoch fragte er mit aller gebührenden Höflichkeit: »Könnten wir bitte die Akte von Wassiljew haben, Herr Direktor Ebbing?«
Ruste drehte sich ärgerlich zu ihnen. »Wie heißen Sie noch mal?«
»Schröder.«
»Schröder, merken Sie sich eines: Ich leite hier die Ermittlungen. Quatschen Sie nicht dazwischen, solange Sie nicht gefragt werden«, fauchte Ruste und richtete das Wort wieder an den Gefängnisdirektor. »Sag mal, Klaus, sind eure Überwachungskameras nicht auch auf die Straße gerichtet? Ist der Angriff in ihrem Aufnahmeradius geschehen?«
»Meine Leute sind bereits dran und werten das Material aus. Du bekommst nachher Kopien.«
»Das wäre schön. Und die Akte von diesem Boris hätte ich auch gerne.«
Schröder meldete sich schüchtern: »Vielleicht handelt es sich um einen versuchten Raubmord. Herr Direktor Ebbing, Sie sagten, der Mann habe bei seiner Entlassung eine Sporttasche bei sich gehabt, von der nun jede Spur fehlt.«
Ruste verdrehte die Augen. Bevor Ebbing antworten konnte, rief er: »Raubmord? Bei einem Knacki, der gerade rauskommt? Was sollte er wohl in der Tasche haben? Seine Beute? Oder doch ein paar vollgeschissene Unterhosen?«
Ruste verabschiedet sich knapp vom Gefängnisdirektor und ging, ohne Schröder weiter zu beachten, in Richtung Wanderweg. Schröder folgte seinem Vorgesetzten in sicherem Abstand zum Anstieg, wo Thorsten Schwenke, der Leiter der Spurensicherung, mit einem jungen Mitarbeiter unter einem kleinen Regenschutzzelt Fußspuren mit einer schnell bindenden Abformmasse ausgoss. Auch weiter oben war der Hügel mit zahlreichen Markierungen übersät. Ungeachtet der Schildchen, hob Ruste das Absperrband hoch und stapfte über den matschigen Boden zu seinem Kollegen. Schröder stockte der Atem. Ungläubig blieb er vor dem Absperrband stehen.
Thorsten Schwenke hielt inne, als Ruste ihn grußlos fragte: »Habt ihr was? Brauchbare Spuren?«
»Wenn du uns freundlicherweise noch ein paar übrig lassen würdest, könnte es was werden«, meckerte der Leiter der Spurensicherung. »Ja, hier sind jede Menge.«
»Erzähl mir keinen Roman. Was habt ihr?«
»Sagte ich doch: jede Menge frischer Abdrücke. Der Regen hat zwar die meisten verwischt, aber hier vorn, am Rand unter den Bäumen, glauben wir, einige gute zu bekommen.«
»Und?«
»Wie und?«
»Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!«, erwiderte Ruste ärgerlich.
»Anscheinend haben wir es mit drei Verdächtigen zu tun. Vorausgesetzt die Spuren stammen wirklich von den Personen, die in den versuchten Mord verwickelt waren. Was ich dir jetzt schon sagen kann: Eine davon ist klein, vermutlich weiblich, und zwei wahrscheinlich männlich. Alle drei sind der Spurenlage zufolge gerannt. Die beiden Männer sind übrigens zum Parkplatz zurückgekehrt. Sie hatten dort vorn einen Wagen geparkt, die Reifenspuren sind aber sehr, sehr schlecht. Wir haben nur einen Teilabdruck, der Wagen stand auf dem Asphalt. Ich fürchte, die Reifen bringen uns nicht weiter. Mit den Abdrücken von der kleinen Person hingegen können wir etwas anfangen. Nach dem jetzigen Stand schätze ich, sie hat leichte Winterschuhe mit einem ausgeprägten Profil getragen. Reicht dir das?«
Ruste brummte: »Eine Frau, die abgehauen ist. Und zwei Männer, die umgedreht sind. Hm … Wohin führen die Spuren der Frau?«
»Die verlieren sich oben auf dem Damm der Talsperre. Da ist der Weg asphaltiert. Aber wir suchen dort die Umgebung noch ab.«
»Scheißwetter, Scheißfall, Scheißkindergarten hier«, meckerte Ruste und drehte sich um.
»Ach ja, Ben«, rief ihm Schwenke hinterher, »da ist noch was.«
Entnervt drehte sich Ruste um. Der Leiter der Spurensicherung erhob sich, ging zu seinem Koffer und holte seine Digitalkamera heraus.
»Hier sind Bilder der Tatwaffe, die noch im Rücken des Verletzten gesteckt hatte. Höchst ungewöhnlich für das Milieu, aus dem der Mann stammt. Sobald ich das Messer aus dem Krankenhaus erhalte, werde ich es im Labor untersuchen lassen. Aber schau es dir mal an.«
»Wichtigtuer«, zischte Ruste zwischen den Zähnen hervor. Er trottete zurück und schaute auf das Kameradisplay. »Aber … Das ist ja ein Jagdmesser. Mit dem Huf eines Rehbocks als Griff?« Sein Blick wanderte zu Schröder. »Schmidt, davon haben Sie gar nichts erzählt!«
*
Alexej und Roman saßen schweigend in Viktors Wohnzimmer und starrten in ihre Wodkagläser.
»Ihr konntet sie nicht einholen?«, fragte Viktor.
Alexej blickte betrübt auf. »Keine Chance. Sie war so schnell weg. Wir sind ihr noch hinterher, aber dann mussten wir abbrechen. Du verstehst: die Leiche von Boris auf der Straße, unser Auto. Das hätte nur unangenehme Frage gegeben.«
»Ich habe dir schon tausendmal gesagt, wenn du bei mir bist, nimm gefälligst diese alberne Mütze ab«, fuhr Viktor Alexej ärgerlich an.
Alexej zog schnell seine Baseballkappe aus und steckte sie in die Gesäßtasche seiner Baggy Pants. Dann zupfte er ungeschickt am Bund seiner Jeans, damit seine Boxershorts nicht mehr herauslugten.
»Habt ihr die Frau denn erkennen können?«, fragte Viktor.
»Es war total neblig. Was ich erkennen konnte: sportlich, heller Mantel, Kopftuch … Also meiner Meinung nach war das eine Auftragskillerin von den Türken«, vermutete Roman. »Bestimmt eine, die bei Al-Qaida da unten im Orient geschult wurde. Die hat Boris blitzschnell umgebracht, so was lernt man nicht auf der Koranschule. Wir sind gerade um die Ecke gekommen, da lag er auch schon am Boden. Ein Stich, zack, tot.«
»Eine Auftragskillerin der Türken? Hast du sie noch alle?« Viktor durchkramte den Inhalt von Boris’ Sporttasche, den er auf den Wohnzimmertisch ausgekippt hatte. Außer Wäsche, Schlüssel, einem MP3-Player und ein paar russischen Zeitschriften war nichts dabei – nichts, was irgendeinen Anhaltspunkt für den Mord liefern konnte. »Was wollte die von ihm? Kannte sie ihn?«
Alexej sprang seinem Kumpan zur Seite. »Ich glaube auch, was Roman sagt. Das mit der türkischen Killerin macht schon Sinn. Überleg doch mal! Wir haben den Türken fast das Geschäft abgenommen. Und das, obwohl Boris im Knast war! Jetzt wo er rauskommen sollte, haben die doch Schiss, dass wir noch mehr Ware ins Land bringen!«
»Alexej, Roman … Was haben Frauen bei den Türken zu melden, hä? Nix, oder?«, blaffte Viktor die beiden an.
Er erhob sich und ging nervös im Raum auf und ab. Wieso musste er sich mit solchen Volltrotteln abgeben? Er war schon immer der Einzige gewesen, der was draufhatte. Während die beiden wie bunte Vögel herumrannten, achtete er auf eine vernünftige Tarnung. Er zog sich unauffällig an und sein Wohnzimmer war mit einer Schrankwand aus Eichenfurnier der Inbegriff deutscher Spießigkeit. Allein die drei Ikonenbilder, die auf Holz aufgezogen waren und an der Wand hingen, hatte er sich nicht nehmen lassen. Die ganze Schwermut der russischen Seele war dadurch präsent. Doch wie alles andere verrieten diese sentimentalen Zeugnisse nicht, dass er durch illegale Geschäfte wohlhabend geworden war. Nein, dazu war er viel zu clever. Den einzigen Luxus, den er sich gegönnt hatte, waren ein großer Plasmafernseher und ein Dolby-Surround-System. Während er im Alltag den Schlosser mimte, genoss er seinen Reichtum im Verborgenen: sei es ein Urlaub an der Côte d’Azur oder ein ordentlicher Besuch in einem Edelbordell. Nur noch wenige Jahre und er würde für den Rest seines Lebens nicht mehr arbeiten müssen. Er würde in seiner Villa auf der Krim mit seiner blassen Frau Kinder bekommen und wäre ein geachteter Mann, der sein Glück in Deutschland gemacht hatte.
Aber noch war es nicht so weit – im Gegenteil. Vor ihm lag noch viel Arbeit. Doch er hatte immer gespürt, dass er für größere Aufgaben im Leben bestimmt war. Jetzt war seine Chance gekommen – wenn die zwei Idioten ihm keinen Strich durch die Rechnung machen würden! Nicht nur dass Alexej und Roman affige Klamotten anzogen, nein, sie mussten auch noch dicke BMWs fahren! Das führte zwangsläufig zu Neidern, umso mehr sie keiner festen Arbeit nachgingen. Kein Wunder, dass sie häufiger Besuch von der Polizei bekamen. Das musste er bald ändern. Eine seiner ersten Aufgaben. Er hatte viel von Boris gelernt. Und er würde noch besser sein! Er würde den Türken das Geschäft kaputt machen!
»Vielleicht habt ihr tatsächlich recht und es war Mustafas Bande«, sagte Viktor nachdenklich. »Obwohl ich das Ganze noch immer für total absurd halte. Aber wir werden das herausbekommen. Ich überlege mir etwas. Sagt unseren Leuten noch nichts, verstanden?«
Die beiden Männer nickten. Roman hob sein Glas. »Auf Boris, wir werden ihn nie vergessen! Und auf dich Viktor, unseren neuen Boss!«
Viktor grinste und nahm einen kräftigen Schluck. Er gefiel sich in seiner neuen Rolle. Das Problem war nur, dass allein Boris über die direkten Kontakte verfügt hatte. Alle Lieferungen mit der gefälschten Ware waren über ihn gelaufen, selbst als er im Knast gesessen hatte. Nur er hatte die Hintermänner gekannt und dieses Geheimnis jetzt mit in sein Grab genommen. Doch er würde schon eine Lösung finden! Die Bosse in Russland wussten sicherlich, was zu tun war. Bestimmt setzten sie sich bald mit ihm in Verbindung – und er würde ihnen einen Laden präsentieren, straff organisiert, der tipptopp lief.
Als sie ihren Wodka ausgetrunken hatten, begleitete Viktor seine Untergebenen in den Flur. Sie hatten, wie es sich gehörte, beim Eintreten ihre Schuhe ausgezogen, und beugten sich nun hinunter, um an den Schnürsenkeln zu nesteln.
»Sagt mal«, überlegte Viktor laut, während er die anderen von oben herab beobachtete. »Als ihr der Frau gefolgt seid, da seid ihr doch einen Waldweg hochgelaufen?«
»Ja …«, antwortete Roman zögerlich.
»Und war der Boden weich und matschig?«
»Glaubst du, wir haben Spuren hinterlassen?«, fragte Alexej.
»Ich glaube nicht nur, dass ihr Spuren hinterlassen habt, ich bin mir sicher! Her mit den Tretern!«, schrie Viktor ungehalten.
Er ließ sich die Schuhe der beiden aushändigen und warf sie in der Küche in den Mülleimer. »Leer ihn gleich aus!«, befahl er seiner Frau, die am Tisch saß und in einer Zeitschrift blätterte.
Bevor diese reagieren konnte, wandte er sich grinsend ab. Derart umsichtig hätte selbst Boris nicht gehandelt. Wenn jetzt nicht endgültig bewiesen war, dass er das Zeug zum Boss hatte!
»Und wie sollen wir jetzt nach Hause kommen?«, fragte Alexej vorsichtig. »Sollen wir etwa so Auto fahren? Und wenn uns jemand ohne Schuhe auf der Straße sieht! Das ist doch auffällig, oder?«
Viktor blickte an seinen zwei Handlangern hinunter. Beide trugen weißen Tennissocken, deren Leuchtkraft bei der dunklen Kleidung und dem trüben Tag nicht zu übertreffen war. Er gab Roman seine Sandalen und Alexej seine Badelatschen.
»Aber zurückgeben!«, ermahnte er sie. »Und jetzt verpisst euch und wartet auf meine Befehle!«
Mit Nachdruck schob Viktor seine Gäste durch die Wohnungstür und schlug sie hinter ihnen zu.
Alexej und Roman schauten sich ratlos an und stiegen schweigend die Treppe hinab. Vor dem Haus blieb Roman stehen und betrachtete seine Füße, deren Zehen über die Sandalen hinausragten. Er vermisste seine Designerschuhe jetzt schon.
»Viktor fehlt wirklich der Sinn für modische Kleidung. Immer diese peinlichen No-Name-Sachen. Der ist doch auch erst 24!«, stellte Roman fest. »Glaubst du, Viktor wird ein guter Boss?«, fragte er, bevor er in den BMW einstieg.
»Immerhin hat er die Geschäfte bis jetzt zuverlässig geführt. Und Boss ist Boss. Das haben wir nicht zu entscheiden«, antwortete Alexej und trat mit einem Badelatschen auf die Kupplung.