Kapitel 3

22. April

Es wollte einfach nicht Frühling werden. Ein feiner Morgennebel umhüllte die Hügel rund um den Hof. Seufzend blickte Anna aus dem Küchenfenster. Ihr kam es vor, als seien ihre Gedanken ebenso getrübt wie der Himmel, als betrachte sie ihre Tat aus einer Distanz. Natürlich spürte sie etwas wie Reue und Entsetzen, aber die Geschehnisse erschütterten seltsamerweise nicht ihr Innerstes. Sie verspürte vor allem Ärger. Die ganze Nacht hatte sie wach gelegen und sich Vorwürfe gemacht, den entlassenen Häftling nicht genauer betrachtet zu haben. Wie hatte sie nur einen wildfremden Menschen erstechen können? Die Zeitungsausschnitte von dem Prozess hatte sie doch aufbewahrt, sie hätte vorher nur einen Blick auf die Fotos werfen müssen! Jetzt war es zu spät! Sie war eine Mörderin. Aber wollte sie wirklich dafür büßen? Würde das etwas ändern?

Nicht einmal die Hofarbeit konnte sie von diesem Gedanken ablenken. Anna merkte beim Melken, wie unkonzentriert sie war. Sie war nicht imstande, die Ereignisse zu verdrängen. Die Bilder der Tat schossen ihr immer wieder mit solch einer Intensität durch den Kopf, dass es ihr fast schwarz vor Augen wurde. Ständig überlegte sie, ob sie sich der Polizei stellen sollte. Würde es ihr Gewissen erleichtern? Und war man ihr nicht sowieso schon auf den Fersen? Immerhin hatte sie bei ihrer Flucht die Tatwaffe am Tatort zurückgelassen. Wie hatte sie nur so dumm sein können, das Jagdmesser zu benutzen, das Klaus von seinem Vater geerbt hatte! Bei solch einem seltenen Stück konnte man bestimmt die Spur zurückverfolgen.

Verzweifelt setzte Anna sich auf den Melkschemel, ein Überbleibsel aus nostalgischen Zeiten, und ließ ihren Tränen freien Lauf. »Kennst mich in letzter Zeit nur mit verheultem Gesicht, was?« Sie tätschelte die Flanke von Pa-tricia Cornwell, die ihr Haupt hob und Anna mit treuen Kuhaugen anblickte.

Anna schaute auf die Uhr. Gleich halb acht, es war Zeit für die Lokalnachrichten, vielleicht erfuhr sie da etwas Neues. In der Zeitung hatte noch nichts über ihren Mord gestanden. Sie schaltete das große Radio ein, das im Melkkarussell an einer Stange an einem Metallhaken hing. Manchmal spielte sie damit auch eine CD ab. Sie hatte gehört, dass Kühe durch Beschallung mehr Milch geben würden, doch nach einigen Versuchen festgestellt, dass ihre Schriftstellerinnen weder auf Klassik noch auf Pop reagierten. Aber immerhin brachte die Musik etwas Abwechslung in ihren straff organisierten Tagesablauf.

Geduldig lauschte Anna der Werbung und wartete gespannt, als der Nachrichtensprecher schließlich seine Zuhörer begrüßte. Gleich die erste Meldung handelte von ihrer Tat. Sie erstarrte. Laut Bericht war vor der Justizvollzugsanstalt ›Ewig‹ ein entlassener Sträfling niedergestochen worden. Der Mann liege noch im Koma und die Polizei wolle aus Ermittlungsgründen keine weiteren Informationen preisgeben.

Anna spürte, wie mit einem Mal eine Last von ihren Schultern genommen wurde. Gleichzeitig stieg Nervosität in ihr hoch. Hoffentlich würde er überleben! Und wie weit waren die Ermittlungen? War man ihr bereits auf die Schliche gekommen? Anna überlegte, ob es angesichts der neuen Entwicklungen nicht besser wäre, sich zu stellen. Auf einmal kam ihr alles absurd und falsch vor. Sie hätte die Tat niemals begehen dürfen! Auch wenn sie Tim Mazcevski erwischt hätte, es wäre Unrecht gewesen.

Anna schaltete gedankenverloren das Radio aus. Plötzlich kam ihr eine Idee. Schnell lief sie in ihr Haus und kramte in der Küche hektisch in ihrer Handtasche, bis sie endlich die CD des Opfers fand. Mit dickem Filzstift stand ›Hits‹ auf der silbrigen Oberfläche geschrieben. Anna eilte zurück in den Kuhstall und legte die CD ein. Zwar kam es ihr makaber vor, die Musik des Mannes zu hören, den sie fast umgebracht hatte und um dessen Leben die Ärzte jetzt vermutlich kämpften, allerdings trieb sie eine unbestimmte Neugierde dazu. Irgendetwas erhoffte sie sich davon. Doch es tat sich nichts – keine Musik. Anna spulte mehrmals nach vorn, aber kein Laut war zu vernehmen. Achtlos legte sie die Hülle auf den alten Stuhl unter das Radio. Seltsam, dachte Anna, vielleicht war die Scheibe kaputt.

Voller Enttäuschung trottete Anna aus dem Stall. Als sie aus der Tür trat, prallte sie mit jemandem zusammen. Erschrocken wich Anna zurück. Ein Polizist? Ein Freund des Opfers?

Sie blickte ängstlich in das Gesicht und rief erleichtert: »Mensch, Ronald! Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«

»Tut mir leid. Und guten Morgen erst mal. Ich war gerade auf der Durchfahrt und habe dir frische Brötchen mitgebracht. Spendierst du einen Kaffee dazu?«

Eigentlich konnte Anna ihren alten Schulkameraden im Augenblick wirklich nicht gebrauchen. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Andererseits freute sie sich über die Nähe eines vertrauten Menschen. Ronald war ihr ein guter Freund, auf den sie sich immer verlassen konnte.

»Ja, sicher. Ich wollte sowieso gerade Pause machen. Komm, wir gehen in die Küche«, lud sie ihn ein.

»Lange nicht gesehen. Wie geht es dir?«, erkundigte sich Ronald auf dem Weg zum Bauernhaus.

»Geht so.«

»Was heißt das? Finanzielle Probleme? Du weißt, mein Angebot steht. Ich greife dir unter die Arme und du zahlst es mir erst zurück, wenn du kannst.«

»Ronald, das Thema hatten wir doch schon zigmal. Ich habe immer auf eigenen Beinen gestanden und werde das auch in Zukunft schaffen. Trotzdem danke. Und wie geht es dir?«

»Och, kann nicht klagen. Ehrlich gesagt, ich verdiene mich dumm und dämlich. Das Geschäft läuft sagenhaft.«

Anna schielte nachdenklich zu Ronald hinüber. Hätte sie ihn geheiratet, so wie er es sich immer gewünscht hatte, würde sie heute in Reichtum leben. Immerhin hatte Ronald die Fabrik für Autoteile von seinem Vater geerbt, dem alten Weber, und sie erfolgreich ausgebaut. Er war zu einem wichtigen Zulieferer für die gesamte Branche aufgestiegen. Doch außer Freundschaft hegte sie keine Gefühle für ihn. Aber war sie sich da noch so sicher? Immerhin sehnte sie sich nach einer starken Schulter. Was sollte daran auch verkehrt sein, viele ihrer Schulfreundinnen hatten letztlich nicht ihre leidenschaftliche Liebe geheiratet, sondern den treuherzigen Kumpeltyp, der immer ein offenes Ohr hatte. Beharrlichkeit konnte sich auszahlen.

In der Küche stellte Anna Butter, Käse und Wurst auf den Tisch. Ronald belegte sich ein Brötchen und biss hungrig hinein. Mit vollem Mund murmelte er: »Deine Küche hat es aber auch mal nötig.«

»Ronald!«, ermahnte ihn Anna und goss jedem eine heiße Tasse Kaffee ein. »Wie läuft es bei dir zu Hause? Was macht die Ehe?«

Er rollte mit den Augen. »Wie soll es gehen? Nadine und ich leben nebeneinander her. Sie führt ein Jetset-Leben, als wäre ich mehrfacher Millionär.«

»Schlimm?«

»Schlimmer«, winkte Ronald ab. »Diese Gleichgültigkeit und Verschwendungssucht! Ich sehe sie kaum noch, dafür lese ich umso häufiger in den Prominentenzeitschriften über sie. Auf welcher Party sie war, welches neue Designerkleid sie getragen hat – und mit welchem Mann sie aktuell zusammen ist. Die meisten sind 20 Jahre jünger als sie. Ihr ausschweifender Lebensstil wird immer mehr zur Belastung. Die Eskapaden bleiben meinen Geschäftspartner nicht verborgen!«

»Und welche Konsequenz ziehst du daraus?« Anna biss sich auf die Lippen. Das war wieder mal typisch für sie. Mit nur einer Frage drang sie bis zum Kern des Problems vor und ließ ihrem Gegenüber keine Chance, ihr auszuweichen.

Doch Ronald erwiderte ruhig: »Anna, du weißt, du musst nur ein Wort sagen, und ich würde Nadine sofort verlassen.«

»Ronald, du bist ein wirklich sehr guter Freund. Aber mehr ist da nicht. Das musst du doch nach all den Jahren einsehen«, entgegnete Anna sanft. Insgeheim wünschte sie sich jedoch eine Umarmung von ihm. Genau in diesem Moment bräuchte sie jemanden, der sie festhielt.

»Hast du übrigens was von dem versuchten Mord in Attendorn gehört?«, fragte sie so beiläufig wie möglich.

»Nicht viel, sehr seltsame Geschichte. Das Opfer war übrigens ein ehemaliger Mitarbeiter von uns. Ein Russlanddeutscher. Wir wussten nichts von seinem kriminellen Hintergrund. Er hat seine Arbeit immer ordentlich erledigt.«

»Du kanntest ihn?« Anna staunte. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, doch ihr Herz pochte bis zum Hals.

»Flüchtig. Er war für die Logistik für unsere russische Niederlassung verantwortlich. Er beherrschte die Sprache und war ein Organisationstalent. Das ist aber auch alles, was ich über ihn weiß. Ich bin aus allen Wolken gefallen, als ich gehört habe, dass er kriminell ist. Na ja, man kann den Leuten eben nicht hinter die Stirn blicken.«

»Das ist ja interessant. Hast du denn gehört, ob man schon eine Spur hat?«

»Nein, soweit ich weiß, tappt die Polizei völlig im Dunkeln. Beim Stammtisch werde ich bestimmt mehr erfahren. Wieso interessiert dich das?«

»Ach, nur so. Kam gerade im Radio. Man macht sich eben Sorgen, wenn ein Mörder frei rumläuft.«

»Ich beschütze dich«, grinste Ronald und griff über den Tisch nach ihrer Hand.

Noch vor ein paar Tagen hätte Anna sie schnell weggezogen. Doch heute ließ sie es geschehen. Dennoch vermied sie es, ihm in die Augen zu schauen.

»Magst du noch Kaffee?«

»Ich muss los, Anna.« Ronald erhob sich seufzend und schüttelte Annas Hand – länger als gewöhnlich.

*

Als Ruste morgens mit einem Becher Kaffee sein Büro in der Olper Dienststelle betrat, erwartete ihn sein neuer Mitarbeiter bereits. Offensichtlich musste er sich mit diesem steifen, sommersprossigen Rotschopf fortan den Raum teilen.

»Guten Morgen, Herr Ruste«, begrüßte ihn der junge Beamte. »Das Krankenhaus hat angerufen. Boris Wassiljew liegt noch immer im Koma. Man kann nicht sagen, wann er aufwachen wird, allerdings sind die Ärzte recht zuversichtlich, dass er überleben wird. Das Messer wurde vom Schulterblatt aufgehalten, die Verletzungen halten sich in Grenzen. Das Video von der Überwachungskamera der Justizvollzugsanstalt ist mittlerweile eingetroffen. Und der Bericht der kriminaltechnischen Untersuchung der Tatwaffe liegt auch vor.«

Ruste war von dem Redeschwall seines eifrigen Mitarbeiters erschlagen. So begann kein guter Morgen. Das sah nach viel Arbeit aus. Neben einem Berg unerledigter Akten lagen auf seinem Schreibtisch ein brauner Umschlag und das Messer.

Ruste nahm einen großen Schluck Kaffee und ließ sich auf seinen Drehstuhl fallen. »Haben Sie die Sachen schon gelesen?«, fragte er.

»Nein, natürlich nicht. Die waren an Sie adressiert. Aber ich bin sehr gespannt.«

Ruste hängte seine Jeansjacke über die Lehne und überflog den Bericht aus dem Labor. Die Erkenntnisse waren eher dürftig: An der Klinge hatten die Spezialisten Blutrückstände von Tieren gefunden. Folglich war die Tatwaffe tatsächlich zum Ausweiden genutzt worden. Laut Bericht sind die Spuren allerdings mehrere Jahrzehnte alt, eine genauere Datierung wäre nur durch weitere Untersuchungen möglich.

»Und?«, wollte sein neuer Bürokollege ungeduldig wissen.

»Nix und!«, gab Ruste schroff zurück, immer noch über die Unterlagen gebeugt. »Ist ein altes Jagdmesser, das irgendwann mal benutzt wurde. Das bringt uns nicht weiter. Auf der Klinge sind keine Fingerabdrücke und auf dem Fellgriff schon gar nicht. Man hat Spuren von DNA feststellen können, die noch ausgewertet werden. Das war’s. Wir sind so schlau wie gestern. Mal sehen, ob uns die Filmaufnahme helfen.«

Ruste startete seinen PC und öffnete den Umschlag der Justizvollzugsanstalt. Gerade als er den USB-Stick anschließen wollte, den Ebbing ihm mit einer persönlichen Nachricht zugeschickt hatte, klopfte es an der Tür.

Bevor Ruste reagieren konnte, steckte Polizeidirektor Junge seinen Kopf herein. »Störe ich?«

»Nein«, rief der junge Polizeimeister und sprang sofort auf. Seinen Körper spannte sich sichtlich an. »Sie stören selbstverständlich nicht. Guten Morgen, Herr Direktor.«

»Rutsch bloß nicht auf deinem Schleim aus«, nuschelte Ruste kaum hörbar. Er blieb sitzen und beließ es bei einem knappen: »Guten Morgen, Herr Junge.«

Junge betrat das Büro und nickte Ruste zu. »Wie ich sehe, haben Sie sich mit Ihrem neuen Mitarbeiter bereits bekannt gemacht. Ging ja gestern hoch her.«

Er schüttelte dem jungen Mann kräftig die Hand. »Schröder, ich darf Sie hiermit nochmals offiziell an Bord unseres Teams begrüßen und wünsche Ihnen viel Erfolg und eine kollegiale Zusammenarbeit.«

Ruste entging nicht, dass Junge das Wort ›kollegial‹ extra betont und dabei zu ihm hinübergesehen hatte.

»Wo wir gerade dabei sind, gibt es etwas Neues in dem versuchten Mord? Ist der Mann vernehmungsfähig? Haben wir bereits eine Spur?«, wollte Junge wissen.

Ruste hasste es, wenn man mehrere Fragen auf einmal stellte. In diesem Fall konnte er alle mit einem Kopfschütteln beantworten.

Junge wippte auf den Zehenspitzen und wartete dennoch auf eine weitere Antwort. Seufzend ergänzte Ruste: »Boris Wassiljew hat keine Verwandten in Deutschland. Wir haben uns mit den russischen Behörden in Verbindung gesetzt, um festzustellen, ob er dort noch Familie hat. Außerdem haben wir uns gestern in seinem Wohnumfeld umgehört. Keine Erkenntnisse. Wie auch, er war schließlich zwei Jahre im Knast! Wir waren ebenso bei seinem ehemaligen Arbeitgeber – ›Weber Automotive‹. Hat uns auch nicht wirklich weitergebracht. Seine ehemaligen Kollegen konnten nichts Konkretes über ihn sagen. Er war offensichtlich ein unauffälliger und hilfsbereiter Typ. Schröder schreibt einen Bericht, den Sie noch heute bekommen.«

Zum Glück hatte Junge den Namen des Rotschopfs genannt, sonst hätte Ruste dumm ausgesehen. Er konnte sich den Namen dieses bleichen Kerls einfach nicht merken.

»Aber es muss doch irgendeinen Anhaltspunkt geben?«, hakte Junge nach.

»Wir haben die Tatwaffe, Gipsabdrücke von Schuhsohlen. Wir wissen, dass seine Sporttasche fehlt, und wir haben die Aufnahmen der Überwachungskamera.«

»Na, das ist doch was! Kann man das Gesicht des Täters darauf erkennen?«

»Ich wollte mir das Video soeben anschauen. Allerdings hat mir Gefängnisdirektor Ebbing einen Zettel dazugelegt, wir sollen uns keine zu großen Hoffnungen machen, die Aufnahmen seien wetterbedingt schlecht.«

»Dann lassen Sie mal sehen. Kommen Sie, Schröder, sechs Augen sehen mehr als zwei«, sagte Junge jovial und umrundete Rustes Schreibtisch. Er stellte sich mit dem Rotschopf neben Ruste, dem mit einem Schlag wieder bewusst wurde, warum er lieber allein arbeitete.

„Wenn es denn sein muss«, knurrte Ruste, startete die Aufzeichnung und starrte auf seinen PC-Monitor.

Ein alter Stummfilm besaß eine bessere Qualität als die schemenhaften Bilder, die auf dem Monitor erschienen. Der feuchte Nebel der letzten Tage hatte sich auf die Kameralinse gesetzt und die Aufnahmen unbrauchbar gemacht. Die Tat war zwar aufgezeichnet worden, allerdings waren nur verschwommene, grau-schwarze Figuren zu sehen. Man konnte schemenhaft erkennen, wie Wassiljew vor das Gefängnis trat, stehen blieb und seine Sporttasche über den Kopf den hielt. Unmittelbar nachdem er sich in Bewegung setzte, tauchte eine kleine Gestalt hinter ihm auf, die eine Mütze oder eine andere Art Kopfbedeckung trug. Die Person sprang Wassiljew von hinten an, doch es war nicht festzustellen, wie der Hieb mit dem Messer ausgeführt wurde. Der Täter kniete kurz neben Wassiljew nieder, bevor er sich mit schnellen Schritten entfernte. Wenige Sekunden später hielt ein großes Auto neben dem Opfer, aus dem ein Mann heraussprang. Er beugte sich zu Wassiljew herunter, ergriff die Sporttasche und stieg wieder ein. Dann verschwand der Wagen aus dem Blickfeld.

»Das war es«, sagte Ruste resigniert. »Wir wissen jetzt lediglich mit Sicherheit, dass zwei weitere Personen am Tatort waren und die vermisste Tasche mitgenommen haben.«

»Wieso zwei?«, fragte Schröder.

Ruste drehte sich zu seinem unerfahrenen Kollegen um und rollte mit den Augen. »Der da auf der Aufnahme ist auf der rechten Seite ausgestiegen. Folglich saß links noch der Fahrer. Es sei denn, das Auto wurde ferngesteuert oder wir haben es mit einem englischen Fabrikat zu tun – was die Ermittlungen wesentlich erleichtern würde.«

Schröder errötete augenblicklich. »Bei der Größe könnte der Täter weiblich sein«, gab er nach einem kurzen Räuspern zu bedenken. Offensichtlich wollte er seinen Schnitzer wiedergutmachen. »Auch der Leiter der Spurensicherung meinte, dass die Abdrücke der Winterschuhe auf eine Frau hindeuten.«

Junge nickte anerkennend. »Ach, das ist ja interessant. Vielleicht war es eine Beziehungstat? Haben Sie schon in dieser Richtung ermittelt, Herr Ruste?«

»Nein, habe ich nicht. Aber ich habe bereits eine konkrete Idee, in welchem Umfeld wir den Täter aufspüren können. Kommen Sie, Schreiber, wir müssen los. Sie entschuldigen uns, Herr Polizeidirektor.«

»Schröder, ich heiße Schröder!«

Sein Chef knallte die Tatwaffe, die noch in der Plastiktüte der Spurensicherung steckte, auf den Tresen des Jagdgeschäftes in Kreuztal. Schröder schaute neugierig den Händler an, der mit hochgezogenen Augenbrauen Ruste beobachtete. Ein alter Herr über die 80, dessen altmodische schwarze Weste, die er unter seiner braunen Strickjacke trug, über dem Bauch spannte. Eine goldene Uhrkette machte das Bild perfekt – der Mann stammte aus einem anderen Jahrhundert.

»Tag, Ben. Lange nicht gesehen, was macht der Vater?«, begrüßte er Ruste.

»Vater ist seit sechs Jahren tot.«

»Oh, stimmt. Hab ich vergessen. War ein guter Kamerad und Polizist. Und du? Immer noch bei der Kripo?«

»Deswegen bin ich hier. Der Junge hier ist übrigens mein neuer Assistent. Schneider, das ist Bruno Geite.«

Schröder wollte seinen Vorgesetzten korrigieren, entschied sich jedoch dafür, lieber den Mund zu halten. Nachdem er bei der Auswertung des Aufnahmevideos nicht die beste Figur gemacht hatte, wollte er jetzt nicht noch mehr Unmut auf sich ziehen.

»Wir haben nicht viel Zeit. Schau dir mal das Messer an. Kommt es dir bekannt vor?«

Der übergewichtige Jagdhändler nahm die Plastiktüte und wollte sie öffnen.

»Nicht aufmachen! Ist ein Beweisstück«, ermahnte ihn Ruste.

»Ja, wie soll ich denn sonst was erkennen, Junge?«

»Meine Güte, der Beutel ist durchsichtig! Setz die Brille auf und sag mir, was dir dazu einfällt!«

»Ganz der Vater, ganz der Vater, woll?«, der alte Händler lächelte Schröder an. »Sie haben ihn wohl nicht mehr gekannt, was, junger Mann?«

»Nein, leider«, antwortete Schröder.

»Man könnte auch glücklicherweise sagen«, lachte Geite mit einem Rasseln in der Lunge, wie es nur langjährige Raucher hervorbringen. »Im Vergleich zu seinem Vater ist Ben die Freundlichkeit in Person.«

Der alte Herr hob die Plastiktüte in die Höhe. »Was soll ich sagen, Ben? Ein Jagdmesser, um genauer zu sein, ein Rehfußmesser. Bei der Länge könnte man fast sagen, es ist ein Hirschfänger.«

»So weit sind wir auch, Bruno. Unsere Spezialisten haben daran Blut von Tieren nachweisen können. Und zuletzt Menschenblut. Ich will es mehr Details, Bruno. Stammt es aus eurem Geschäft?«

Geite setzte seine Brille auf und betrachtete das Messer nochmals von allen Seiten. Während Ruste unruhig mit den Fingern auf den Glastresen trommelte, schaute sich Schröder unauffällig im Geschäft um. Mit der Einrichtung, die noch älter als ihr Besitzer sein mochte, wirkte der Laden wie ein Antiquariat: Alte Vitrinen mit Waffen und Munition, Ständer mit ausgeblichener Kleidung und haufenweise Gemälde schmückten nebst Geweihen in allen Größen den Raum. Am schlimmsten fand Schröder jedoch den modrigen Muff. Ihm als Stadtmensch war die Jagd fremd, allein der Gedanke an tote Tiere, die stückweise in Kühltruhe aufbewahrt wurden, versetze ihn in Panik.

»Und?«, fragte Ruste den alten Geite ungeduldig, der noch immer die Tüte mit der Tatwaffe hin- und herwendete.

»Solinger Klinge, altes Stück. Ob es von uns kommt, weiß ich nicht.«

»Dir fällt also nichts auf?«

»Nun ja, ich würde sagen, es ist ein Stück aus den 30er- oder 40er-Jahren, so wie die Klinge gearbeitet ist. Sehr solide, muss ich sagen, auch die Dicke des Stahls. Da steckt noch Handarbeit dahinter. Das gibt es heute nicht mehr. Heute wird alles auf Maschinen gemacht. Ich kann dir ein paar neue Stücke zeigen.«

»Nein, lass mal. Haben Sie das notiert, Schneider?«

»Äh, sehr wohl, Herr Ruste. Ich heiße Schröder, aber das nur am Rande«, antwortete Schröder kleinlaut.

»Ja, ja … Jetzt noch mal zu dir, Bruno. Wer besitzt solche Messer? Sind das alte Nazi-Waffen oder so was?«

Geite zwirbelte mit den Fingern an seinen buschigen Augenbrauen herum. »Also, das kann sehr gut sein. Ist auf jeden Fall ein Sammlerstück aus der Zeit. Ich habe dir doch erzählt, dass der Göring bei uns hier zur Jagd war. Mein Vater hat mich damals mitgenommen. Als kleiner Junge war ich bei den Treibern dabei. Mann, ich kann dir sagen, so etwas hat es vorher und nachher hier im Ort nicht mehr gegeben. Weißt du, was die an einem Tag geschossen haben?«

Ruste klopfte dem alten Mann auf die Schulter. »Lass gut sein, Bruno. Das kannst du mir bei einem Bier erzählen. Ich muss jetzt weiter ins Büro. Du hast uns sehr geholfen.«

Die altertümliche Türglocke bimmelte, als Ruste den Laden verließ. Er drehte sich nochmals um und winkte dem alten Geite zu.

»Ach ja, Ben«, hielt der Ladenbesitzer den Kommissar zurück. »Und schöne Grüße an deinen Vater. Er war schon lange nicht mehr beim Stammtisch. Ich hoffe, es geht ihm gut, woll?«

Schröder folgte seinem Vorgesetzten mit eiligen Schritten nach draußen.

»Unglaublich«, grummelte Ruste. »Na ja, sieht jedenfalls so aus, als hätten wir es hier mit einem fremdenfeindlichem Hintergrund zu tun. Oder was meinen Sie? Woher kommen Sie eigentlich?«

»Ich komme aus Bottrop. Und meinen Sie wirklich, die Täter könnten Nazis sein? Gibt es denn überhaupt welche in dieser Gegend?«

»Bottrop?« Ruste runzelte die Stirn. »Liegt das nicht im tiefsten Ruhrgebiet? Wieso kommen Sie dann ins Sauerland?«

»Ich wollte nach Olpe, weil das Kommissariat einen sehr guten Ruf genießt. Und ich dachte, da könnte ich noch was lernen. Ich habe keine Probleme mit der Provinz.«

Schon wieder hätte sich Schröder auf die Zunge beißen können. Hatten ihn alle guten Geister verlassen? Wie konnte er nur so dämlich sein? Verlegen blickte er Ruste an. Ihm schwante Böses.

»Provinz? Wir sind hier also in der Provinz

»So habe ich das nicht gemeint … Gibt es denn hier nun rechtsradikale Gruppierungen?«, lenkte Schröder schnell ab.

»Sie werden es kaum glauben, aber wir haben den aufrechten Gang gelernt«, entgegnete Ruste, während er seinen Passat aufschloss. »Und es gibt einige hier, die den rechten Arm heben können. Aber für jemanden, der aus einer Weltmetropole wie Bottrop kommt, muss das ja unvorstellbar sein.«

»Tut mir leid. Ich wollte Sie wirklich nicht beleidigen. Fahren wir jetzt ins Büro?«, fragte Schröder schüchtern.

»Nein, zum Friedhof. Ich muss meinem Alten ja noch die Grüße vom Bruno ausrichten. Und dann, Schmitz, dann werden wir mal ein wenig im rechten Sumpf rühren.«

»Schröder. Ich heiße Schröder!«

*

Lebrecht trat seine Zigarette aus, hob sie auf und steckte sie in eine Plastiktüte. Dann stellte er sich wieder neben seinen silberfarbenen Mercedes und warf einen Blick durch sein Fernglas. Von diesem Wanderparkplatz aus hatte er eine perfekte Sicht auf den Hof von dieser Anna Lobbisch. Es war ein Kinderspiel gewesen, sie ausfindig zu machen. Wie er vermutet hatte, war sie gestern zu der Bushaltestelle nahe der Talsperre gekommen. Von dort aus hatte er sie unbemerkt zu ihrem Haus verfolgt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er ihr sofort einen Besuch abgestattet und ihr die CD abgenommen. Kurzer Prozess – Job erledigt. Aber nein, sein Auftraggeber war anderer Auffassung. Lebrecht müsse die CD unauffällig entwenden, auf keinen Fall dürfe er Spuren hinterlassen oder gar der Frau ein Haar krümmen.

Lebrecht schnaufte abfällig. Unauffällig? Gewaltlos? Wie sollte er das denn machen? Diese Lobbisch raste den ganzen Tag auf ihrem Bauernhof hin und her. Tagsüber konnte er schlecht in das Haus eindringen, um sich dort in Ruhe umzusehen. Wie sollte er also an die CD kommen, wenn er sie ihr nicht direkt abnehmen konnte? Was sollte diese kleine Person denn schon an Widerstand leisten? Er hatte schon ganz andere Kaliber zum Reden gebracht! Aber er musste sich nun mal an die Anweisungen seiner Kunden halten.

Lebrecht kramte in seiner Jackentasche und zündete sich eine neue Zigarette an. Immer diese Warterei! Sobald sich eine günstige Gelegenheit bot, würde er den Hof auf den Kopf stellen, sein Geld kassieren und dann erst mal für eine Weile in die Sonne verschwinden. Irgendwann musste diese Frau ja mal den Hof verlassen.

*

Während der Fahrt schwiegen Schröder und Ruste sich an, bis der Kommissar den Wagen vor einer dreistöckigen Jugendstilvilla in Siegen parkte.

»Was wollen wir hier?«, fragte Schröder zögerlich.

»Wir statten dem Obernazi der Region einen Besuch ab.«

Schröder stieg aus und blickte sich um. Das beeindruckende Gebäude befand sich in einer vornehmen Gegend in Hanglage. In der Ferne konnte er das obere Schloss und etwas darunter die Fürstenkrone auf der Nikolaikirche erkennen. Keine schlechte Adresse für einen Braunen.

Eilig folgte er seinem Vorgesetzten zu der wuchtigen Eichentür, neben der ein Schild aus Plexiglas angebracht war.

»›DNU – Deutsche Nationale Union, Zweigstelle Westfalen Lothar Franke, Rechtsanwalt‹«, las Schröder laut vor.

»Gauleitung Westfalen wäre treffender«, witzelte Ruste.

In der protzigen Empfangshalle mit hohen Säulen und Marmorfußboden stand lediglich ein moderner Schreibtisch mit verdeckter LED-Beleuchtung. Dahinter saß eine attraktive Empfangsdame, die Ruste und Schröder ohne weiteres Aufheben vorbeiließ, als sie ihre Dienstausweise vorzeigten.

Als sie das Büro von Lothar Franke betraten, wurden sie von dem Vorsitzenden der Deutschen Nationalen Union höflich begrüßt. Schröder hatte sich eine braune Höhle ganz anders vorgestellt. Der Raum war geschmackvoll mit geradlinigen Designermöbeln eingerichtet, nichts deutete auf rechtsradikales Gedankengut hin. An den Wänden hingen expressionistische Bilder, die früher als entartete Kunst gegolten hätten. Auch Franke selbst erweckte nicht den Eindruck eines tumben Nazis. Sein gut sitzender, dunkelblauer Anzug und die eloquente Aussprache passten zu seinem Beruf als Rechtsanwalt, aber nicht zu einem extremistischen Rädelsführer.

Franke bat sie an einen kleinen Konferenztisch in dem geräumigen Büro und sagte mit ruhiger Stimme: »Kommen wir zur Sache. Was führt Sie zu mir?«

»Der versuchte Mord eines Russlanddeutschen vor der JVA in Attendorn. Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass die Tat wahrscheinlich einen fremdenfeindlichen Hintergrund hat«, begann Ruste ohne Umschweife.

Franke lächelte. »Und da kommen Sie zu mir? Sehe ich aus, als würde ich Leute auf offener Straße angreifen? Oder glauben Sie, meine Parteikollegen würden Derartiges tun? Welche Stereotypen tragen Sie denn noch mit sich herum? Wir arbeiten auf politischer Ebene – ausschließlich! Wir sind eine demokratische Partei und setzen uns friedlich für unsere Ziele ein.«

»Danke für Ihren Vortrag, aber wir sind hier nicht auf einer Wahlkampfveranstaltung«, erwiderte Ruste ungehalten. »Ich bin nicht so rhetorisch geschult wie Sie und will es daher direkt formulieren: Unsere Spur führt ins rechte Lager. Wir hätten gerne Ihre Mitgliederliste.«

»Dazu bin ich nicht verpflichtet. Es sei denn, Sie haben eine richterliche Verfügung.«

»Die brauche ich nicht. Mich können Sie mit Ihrem ganzen Hokuspokus nicht beeindrucken. Ihre DNU ist eine Truppe von rechten Schlägern übelster Sorte, die von einer Clique aalglatter Agitatoren wie Ihnen angeführt wird. Und Sie wollen laufende Ermittlungen nicht behindern, oder? Also, die Liste bitte!«

Franke ging nicht auf Rustes Provokation ein. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie mich damit einschüchtern, Herr Kommissar. Übrigens sollten Sie sich als leitender Beamter zu Befragungen angemessen kleiden.«

Der Hieb saß offensichtlich. Ruste war sprachlos. Eilig kam Schröder seinem Vorgesetzten zu Hilfe. »Die Tatwaffe stammt mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit aus dem nationalistischen Umfeld. Es besteht daher der dringende Verdacht, dass Ihre Parteimitglieder oder der DNU Nahestehende in das Verbrechen verwickelt sind. Ein Durchsuchungsbefehl ist eine reine Formalität. Und bestimmt würde die Presse anwesend sein, wenn wir im großen Stil Computer und Akten aus Ihrem Büro tragen. Und ich bin mir sicher, dass die Kollegen vom Verfassungsschutz uns gerne unterstützen würden.«

Franke blickte Schröder mit zusammengekniffenen Augen an. Dann gab er schließlich nach. »Also gut, Sie sollen die Liste bekommen. Dennoch kann ich Ihnen versichern, dass wir nichts mit der Tat zu tun haben. Warum sollten wir auch einen Russlanddeutschen umbringen?«

»Warum schlagen Ihre Skinhead-Banden unschuldige Menschen zusammen?«, entgegnete Ruste gereizt.

»Meine Sekretärin im Vorzimmer wird Ihnen die Papiere aushändigen. Ich denke, das Gespräch ist hiermit beendet.«

»Nicht ganz«, wandte Ruste ein. »Wo waren Sie am 21. April?«

»In Düsseldorf auf einem Landestreffen der Parteivorsitzenden. Meine Sekretärin wird Ihnen auch dazu eine Teilnehmerliste überreichen, damit Sie das überprüfen können«, antwortete Franke.

»Na, dann lassen wir uns mal diese Liste von Ihrem Gauleiter-Treffen geben«, bemerkte Ruste spitz und verließ grußlos das Büro. Schröder nickte Franke kurz zu und eilte seinem Chef hinterher.

Auf dem Weg zum Auto drehte sich Ruste zu Schröder, der versuchte, mit ihm Schritt zu halten. »Nicht schlecht … Auch Ihr Vorstoß gerade«, bemerkte Ruste.

»Danke.« Schröder freute sich ehrlich. Er wusste von den Kollegen, dass dem Kommissar nur selten ein Lob über die Lippen kam. »Sagen Sie mal, kommt dieser Anwalt aus dem Ausland?«

»Meines Wissens nicht. Wie kommen Sie darauf?«

»Er hat einen harten Akzent, er rollt das R so stark – wie ein Amerikaner.«

Ruste lachte. »Willkommen im Siegerland, Schrrröder. Hier rrrollen alle das RRR. Aberrr ganz tief im Rrrachen, verstehen Sie?«

»Oh …« Schröder wollte dem nichts mehr hinzufügen. Das dritte Fettnäpfchen, heute war nicht sein Tag.

Ruste zündete sich eine Zigarette an. »Machen Sie sich keinen Kopf. Ich würde sagen, wir gehen jetzt im Büro die Liste durch und gleichen sie mit unserer Kartei ab. Morgen beginnen wir mit den Befragungen.«

Nach wenigen Zügen trat er den Glimmstängel aus und klimperte mit den Schlüsseln. Als sie losfuhren und Ruste sich in Schweigen hüllte, beschloss Schröder, an das überraschend kollegiale Gespräch von vorhin anzuknüpfen. »Vielleicht war alles doch völlig anders. Ich meine den versuchten Mord.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Kann es nicht Wassiljews Freundin gewesen sein? Immerhin sprechen die Fußabdrücke für eine Frau.«

»Eine Freundin, ja? Und warum sollte sie ihren Freund töten?«

»Eifersucht. Das häufigste Tatmotiv.«

»Mit wem sollte Wassiljew denn im Knast bitte schön fremdgegangen sein? Es sei denn natürlich, er hat seine feminine Seite entdeckt. Sie wissen, was ich meine … Mensch, denken Sie doch mal nach, bevor Sie mich mit Ihrem Quatsch nerven.«

Schröder schwieg beleidigt, während Ruste das Radio einschaltete und der Musik lauschte.

»Wer singt da?«, fragte der Kommissar.

»Adele«, gab Schröder kurz angebunden zurück.

Ruste grinste. »Nicht schlecht, was, Schneider?«, brummte er, drehte voll auf und trommelte mit den Fingern im Takt auf das Lenkrad.

*

»Sollen wir es wirklich tun? Sollen wir nicht warten, bis Boris wieder gesund ist?«, fragte Roman zögerlich, während er in der Dunkelheit einen Parkplatz für den VW-Bus suchte.

Wie erleichtert war er gewesen, als er erfahren hatte, dass ihr Anführer zwar lebensgefährlich verletzt, aber nicht tot war. Für Viktor konnte dies das jähe Ende seiner Karriere bedeuten. Hoffentlich würde ihr Chef auch wirklich zurückkehren.

»Sollen wir die Tat einfach hinnehmen und untätig warten, bis er wieder aufwacht, he? Was glaubst du, was er dann mit uns macht?«, blaffte Viktor zurück. »Nein, wir tun das einzig Richtige. Ich sage dir: Boris wird stolz auf uns sein, wenn er aus dem Krankenhaus kommt!«

Viktors Laune hatte sich offensichtlich nicht gebessert. Die Nachricht von Boris’ Zustand hatte er nicht so erfreut aufgenommen wie Roman. Und dann hatte er sich auch noch während der ganzen Fahrt nach Köln lauthals beschwert, dass er sich, als ›derzeitiger Chef‹, zwischen die drei Schläger im hinteren Teil des Kleinbusses zwängen musste, während Roman und Alexej es sich auf der Vorderbank gemütlich gemacht hatten.

»Halt hier sofort an! Und jetzt los, Leute. Lasst es uns erledigen!«, rief Viktor ungehalten. Als Roman den Wagen zum Stehen brachte, öffnete Viktor die Tür und stieg umständlich aus dem Wagen aus.

Roman und die anderen folgten ihm, bewaffnet mit ihren Baseballschlägern.

»Habt ihr eigentlich an meine Schuhe gedacht, die ich euch geliehen habe?«, fragte Viktor, während er den Stoßtrupp durch die Straßen der Kölner Innenstadt führte.

Roman dachte im ersten Moment, er habe sich verhört. Als ob es jetzt nichts Wichtigeres gebe als diese blöden Latschen! Es hatte schon seinen Grund, warum Boris ihr Anführer war und nicht Viktor.

»Wir bringen sie dir morgen, okay?«, antwortete Roman so gelassen wie möglich. Er betete inständig, dass diese Aktion, die auf Viktors Mist gewachsen war, sie nicht ins Unglück stürzen würde.

Die Schläger lässig auf die Schultern gelegt, liefen sie ihrem Ziel entgegen. Als die Diskothek in Sichtweite war, hob Viktor kurz die Hand und die Gruppe blieb stehen. Als er wenig später das Zeichen gab, stürmten sie los. Ihr Angriff erfolgte schnell, innerhalb von Sekunden hatten sie den Türsteher ausgeschaltet, sodass dieser noch nicht einmal seinen altbekannten Satz ›Nur für Mitglieder‹ beenden konnte. Unmittelbar nachdem sie in den Innenraum eingedrungen waren, begannen sie mit vereinten Kräften, auf die Gäste, die Einrichtung aus Metall und die Spiegel einzuprügeln. Obwohl etwa zehn türkische Gangmitglieder anwesend waren, gelang es ihnen, sie zu überwältigen. Einige Männer stürzten verletzt zu Boden, während die wenigen Frauen im Raum vor den herumfliegenden Scherben in Deckung gingen. Die Szene erinnerte Roman an einen Gangsterfilm zu Zeiten der Prohibition, der vor seinem inneren Auge ablief.

Auch Alexej war offensichtlich ganz in seinem Element. Wie in Trance schlug er mit seinem Baseballschläger um sich. Er kannte in solchen Situation keine Hemmungen. Er machte einen Satz zu einem Barhocker, hinter dem sich ein Mann verschanzt hatte, der gerade im Begriff war, in die Innentasche seines Jacketts zu greifen. Ein gezielter Schlag in den Magen und der Gegner krümmte sich. Ein Schlag auf den Hinterkopf und er war kampfunfähig.

Von der Seite stürmte ein bulliger Mann auf Roman zu. Reflexartig wirbelte Roman herum, sodass sein Baseballschläger hörbar durch die Luft zischte. Es knackte, als er den Unterarm seines Angreifers erwischte. Wie ein Stier in der Arena brach das Muskelpaket zusammen.

Auf Kommando von Viktor ließen sie zeitgleich die Baseballschläger fallen und zückten ihre Pistolen. Die wenigen Männer, die noch einigermaßen aufrecht standen, hoben die Hände, während die Frauen unentwegt kreischten.

»Schnauze!«, brüllte Viktor und schoss in die Decke.

Als alle verstummten, war nur noch das gelegentliche Stöhnen der Verletzten zu hören. Nachdem die Gegner entwaffnet waren, trieben sie alle auf der Tanzfläche zusammen.

»Hinknien, sofort!«, rief Viktor und schaute sich in der Diskothek um. Sein Blick blieb an einer Gestalt hängen, die scheinbar unbeeindruckt auf einer Couch in der hintersten Ecke saß. Roman musste sich eingestehen, dass es ihn beeindruckte, wie seelenruhig Mustafa Arslan an seinem Wasserglas nippte.

Viktor hingegen bekam vor Wut einen hochroten Kopf und schritt drohend auf ihn zu. »Mustafa, wir wissen, dass ihr hinter dem Mordanschlag auf Boris steckt. Händigt uns diese Killerin aus und alles kommt in Ordnung.«

Mustafa stellte sein Glas ab. Er rieb sich mit der Hand die Nasenspitze. In seinem Arm hielt er seine Verlobte Özlem Cengiz, deren Schönheit Roman den Atem geraubt hatte, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Doch jetzt zitterte sie vor Schreck.

»Ach, Viktor. Warum müsst ihr Russen immer zuerst draufschlagen und könnt nicht reden?«, fragte Mustafa und lächelte herausfordernd.

»Ich will nur die Frau, dann ist Frieden.«

»Viktor, du glaubst doch wohl selbst nicht, dass wir jemals eine Frau schicken würden. Und warum sollten wir Boris überhaupt umbringen?«

»Wer sollte es denn sonst getan haben, he?«

Mustafa rollte entnervt mit den Augen. »Das hatte Boris dir schon immer voraus. Ich bedaure sehr, dass er im Koma liegt. Mit ihm kann man reden. Wir hatten uns, sagen wir, diplomatisch geeinigt. Ihr habt Teile des Marktes bekommen, wir konnten in Ruhe unsere Geschäfte machen. Und jetzt? Jetzt befindet er sich gerade einmal einen Tag im Krankenhaus und du zettelst einen Krieg an.«

»Hör mal zu, du Arschloch. Entweder du rückst die Frau raus oder es gibt wirklich Krieg. Wir machen euch alle fertig. Einen nach dem anderen. Geht das in dein Hirn?«

»Ach, Viktor, du hättest mehr von Boris lernen sollen. Ich sage es zum letzten Mal: Wir haben nichts mit dem Mordanschlag zu tun. Warum auch?«

»Warum? Weil wir mächtiger werden! Und jetzt Schluss mit dem Gequatsche, entweder du lieferst uns die Mörderin oder …«

»Oder was? Willst du mich umbringen? Das ist nicht dein Ernst.« Mustafa baute sich drohend auf. »Deine ganze Familie würde ausgerottet werden. Deine Freunde, alle, die dir lieb sind. Und am Schluss bist du selbst dran. Es wird qualvoll für dich, glaube mir.«

»Meinst du?« Viktor griff nach dem Arm von Özlem, die schutzlos auf dem Sofa kauerte, zog sie grob zu sich und setzte ihr die Pistole an die Schläfe.

Die türkischen Bandenmitglieder auf der Tanzfläche zuckten nervös, doch ein Handzeichen von Mustafa genügte, um sie zu beruhigen. »Das wird dir leidtun, Viktor.«

»Das werden wir sehen. Wir nehmen sie als Geisel, bis ihr uns die Killerin ausliefert habt. So einfach ist das, Mustafa.«