Der Rotwein-Fleckenlöser ist ein Geheimtipp von Renate. Bisher scheint er den Schaden auf dem Leineneinband des Buchs nur zu mildern, nicht zu beheben. Aber zumindest erinnern die Flecken nun nicht mehr ganz so sehr an Blut. Es wird nicht einfach werden, für den Neuzugang Platz im Bücherschrank meines Schlafzimmers zu schaffen. Die Regale biegen sich unter Märchen-Ausgaben, die meisten davon in französischer Sprache. Und auch die Pinnwand über meinem Bett ist voll von Kopien mit historischen Daten und Recherchefakten zu einzelnen Märchen. Irgendwo unter diesen Sedimentschichten aus Papier muss noch das Bild sein, das ich vor Monaten angepinnt habe. Ich finde den Ausdruck unter einem Artikel über japanische Begräbnisriten der Edo-Zeit.
Das Porträt aus dem späten 16 . Jahrhundert zeigt ein Ehepaar. Der Mantel des Mannes leuchtet in einem auffallenden Paradiesvogelblau. Die zarte Frau, die schräg hinter ihm steht, wirkt in ihrem schwarzen Kleid und der ebenso schwarzen Haube fast durchscheinend. Vielleicht hat der Maler diesen Effekt bewusst gesetzt, um den Gegensatz zwischen den beiden noch deutlicher zu machen: Catherine als zivilisierte zarte Blüte neben ihrem Ehemann, dem »Tier«. Auf diesem Porträt erinnert Petrus Gonsalvus mit seinem behaarten Gesicht und dem ernsten, grimmigen Blick tatsächlich an eine Gestalt zwischen Wolf und Mensch. Aber seine Frau sieht ihn ganz anders: Ihre Hand ruht auf seiner Schulter. Diese offen zu Schau gestellte Zuneigung ist ein herber Bruch mit den damaligen Konventionen solcher Porträts. Man gab seine Gefühle nicht öffentlich preis. Und auch heute berühren mich Catherines Mut und ihre Stärke, ihre Liebe für Petrus mit dieser zärtlichen Geste der ganzen Welt zu zeigen.
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Renate hat es sich nicht nehmen lassen, als Dankeschön für meinen Gefallen Max’ Wäsche aufzuhängen und mir neuen Kaffee zu kochen. Im Arbeitszimmer erwartet mich eine volle Tasse. Der Kaffeeduft vermischt sich mit dem synthetischen Geruch von Teppich und Kunststoff. Und wie gewohnt beruhigt mich diese Mischung bis in die letzte Nervenfaser. Das ist mein eigentliches Zuhause: drei unabhängige Arbeitsplätze und Systeme, ein Dutzend externer Festplatten, Laptops und fünf Monitore, alles auf zwei Glastische verteilt und bei Bedarf miteinander vernetzbar. An den Wänden und unter dem Fenster reihen sich abschließbare Metallschränke. Ich liebe die Nüchternheit von Glas und Stahl, das bilderlose Weiß der Wände und den lichtgrauen Teppich. Das Einzige, was aus diesem strengen Rahmen fällt, ist die kleine Statue einer Vierge Noire – einer Schwarzen Madonna –, die auf einem Archivschrank steht. Ursprünglich saß ein Jesuskind auf ihren Knien, doch die antike Figur ist beschädigt, das Kind verloren gegangen. Auch die Vergoldung der Marienkrone ist kaum noch vorhanden. Mit ihrem ausgebleichten gelben Mantel aus echter Seide wirkt die Madonna in dem Zimmer wie ein Fremdkörper, eine Zeitreisende aus dem achtzehnten Jahrhundert. Doch diese Figur ist das einzige Element, das die monochrome Klarheit des Raumes bricht.
Max nennt mein Büro nur »Raumschiff Hacker-Surprise«. Dabei ist Cyberkriminalität gar nicht meine Arena. Ich gehöre nicht zur IT -Feuerwehr, die von Firmen gebucht wird, um Cyberangriffe abzuwehren und Schäden und Leaks in der Unternehmenssoftware zu reparieren. Werde ich von jemandem privat nach meiner Arbeit gefragt, erzähle ich nur, dass ich in der Datenverarbeitung für städtische Behörden tätig bin. Erstens klingt das langweilig genug, damit niemand nachfragt. Und zweitens stimmt es zu einem gewissen Teil. Zu neunzig Prozent besteht meine Arbeit darin, gelöschte oder beschädigte Dateien wiederherzustellen oder Passworte zu entschlüsseln, die jemand vergessen oder mit ins Grab genommen hat. Oft ist es das Nachlassgericht, in dessen Auftrag ich Festplatten nach Kontodaten, Vermögenshinweisen oder Kryptowährung durchforste. Im Auftrag von Privatleuten kümmere ich mich um den digitalen Nachlass Verstorbener, lege Social-Media-Existenzen still, kündige Mitgliedschaften und Daueraufträge, lösche Profile und Sonstiges, was kein Zombiedasein im Netz führen soll. Manchmal bezahlen mich Leute auch einfach nur dafür, dass ich grenzwertige Partyvideos soweit wie möglich aus dem Internet tilge, bevor Personalchefs auf sie stoßen. Nur selten suche ich im Rahmen erweiterter Polizeiermittlungen auch nach Fotos von Hehlerware auf den Geräten Verdächtiger, sichere Beweisvideos oder rekonstruiere Mails und Dateien, die schnell noch gelöscht wurden, bevor die Polizei mit dem Durchsuchungsbefehl an der Haustür stand. Es ist erstaunlich, wie viele Kriminelle denken, Datenspuren zu verwischen, wäre leichter, als Leichen verschwinden zu lassen.
Während der Anrufbeantworter die Nachrichten abspult, checke ich Mails und starte nebenher eine erste Recherche zu Jennifer Lesnik. Auf dem einzigen Laptop, den ich nur privat nutze, erwartet mich eine Flut von Urlaubsfotos meiner Eltern. Augenmaß war noch nie die Stärke meines Vaters. Mit verkniffenen Augen und windroten Nasen stehen meine Eltern vor einem diagonalen Ostsee-Horizont. Mein Vater ist unrasiert und wirkt in seinem alten Parka und mit seinem wüsten Fünftagebart wie einer der sozial verwilderten Ermittler aus schwedischen Noir-Krimis. Meine zierliche Mutter scheint in diesem schiefen Selfie-Winkel hinter seiner massigen Brust zu verschwinden. Ihre dunkelbraunen Locken sind vom Herbstwind völlig zerzaust, aber sie strahlt eine Schönheit aus, die schärfer und klarer hervorkommt, je älter sie wird.
Weder Max noch ich haben ihre feinen Züge geerbt. Mit seinem glatten Haar, dem breiten Mund und den geraden Brauen ist Max ganz der Vater. Nur die schmale Statur hat er von ihr. Vermutlich neige ich deshalb immer noch dazu, ihn als »unseren Kleinen« zu sehen.
»… oder du hast gerade die Kopfhörer auf und hörst deshalb das Telefon nicht«, hallt die Stimme meiner Mutter immer noch vom Anrufbeantworter. »Max kommt nun doch schon heute mit dem Nachtzug zurück und ich dachte mir, es wäre schön, wenn du auch etwas Zeit hättest und vielleicht spontan zum Essen kommst …« Wie immer, schöpft sie den ganzen Speicher aus. Ich habe jede Menge Zeit, dabei den zerkratzten Laptop anzuschließen, den ich mir heute vornehmen will. Ich krame gerade nach einem Verbindungskabel, als mein Handy surrt. Mein Herz macht einen Satz beim Gedanken, dass es vielleicht Simon ist. Stattdessen leuchtet die Festnetznummer meiner Eltern im Display auf. »Hi Mama.«
»Schatz, na endlich! Warum hast du nicht zurückgerufen?«
»Ich habe dir doch vorhin eine Nachricht geschickt.«
»Oh, ach so, mein Handy ist noch im Koffer.« Sie lacht. »Max hat schon aus dem Zug angerufen und Bescheid gesagt, dass du heute arbeiten musst. Wie schade! Aber am Dienstag kommst du doch zu unserem Hochzeitstag? Papa freut sich schon so auf dich …« Während sie weiterredet, checke ich den Status einer laufenden Suche. Die Software, die seit gestern nach einem siebenstelligen Passwort sucht, ist immer noch nicht fündig geworden. Manchmal hat man Glück und landet einen schnellen Treffer, dann wieder dauert es zwanzig Stunden, bis die Brute-Force-Attacke ein Ergebnis liefert – oder zuweilen auch nicht liefert.
Am anderen Ende der Leitung wird meine Mutter von dem Schrillen der Türglocke unterbrochen. »Augenblick, ich bin gleich wieder da. Sprich derweil mit Papa.«
Es raschelt, dann murmelt seine tiefe Stimme: »Hallo Blume.« Es ist selten, dass er mich noch bei diesem Kindernamen nennt. Meistens dann, wenn er mich wirklich vermisst. Und auch heute fühlt es sich an wie eine überraschende Umarmung. »Schon wieder Arbeit?«, stellt er in seiner mürrischen Art fest. »Ist es wenigstens ein halbwegs interessanter Fall?«
»Du weißt, dass sich meine Kunden auf Diskretion verlassen.«
»Und du weißt, dass neutrale Hinweise ohne Namens- und Ortsbezug nicht der Geheimhaltung unterliegen.«
Wie Max gerne sagt: Leg dich nie mit einem pensionierten Cop an.
»Na schön: Privatauftrag einer Witwe. Zufrieden?«
Natürlich nicht. Wäre er ein Jagdhund, würde er jetzt die Spur aufnehmen. »Wonach suchst du? Schulden, Geschäfte, Doppelleben? Ist sie Alleinerbin?«
»Noch mehr ›neutrale Hinweise‹, Roland?« Es ist auch selten, dass ich ihn mit seinem Vornamen anrede. Im Grunde nur dann, wenn er sich bei einem Nein so offensichtlich taub stellt. Ich höre an seinem Ausatmen, dass er schmunzelt. »Schon gut. Deine Mutter will dich noch mal sprechen.«
»Fleur?«, ruft sie in mein Ohr. »Die Nachbarin will irgendwas von mir. Ich muss aufhören.«
»Alles klar, Mama. Bis später.«
Aber sie verabschiedet sich nicht sofort. In der langen Pause kann ich spüren, wie sie nach möglichst beiläufigen Worten sucht. »Keine Sorge. Ich bin nicht allein hier«, komme ich ihr zuvor. »Renate ist übers Wochenende dageblieben.«
Nachdem sie aufgelegt hat, starre ich eine ganze Weile auf das Display, bis ich den Mut aufbringe, nachzusehen. Keine Nachricht von Simon, nur zwei neue Beiträge auf Instagram: Rocky beim Morgenspaziergang und ein Foto, das wie eine Installation zum Thema Eifersuchtsdrama wirkt. Rotwein auf Parkett und unsere zwei Weinkelche. Seinen Kelch hat Simon aufgestellt, mein zerbrochenes Glas liegt auf der Seite. Die Scherben sind so arrangiert, dass sie das Sonnenlicht fangen. Simon hat ein Stück Küchenpapier kunstvoll zu einer Rosenblüte geformt und zwischen die Scherben gelegt. »Beauty and Beast«, lautet der Text. Hashtag #Whoiswho. Ich weiß, was mein Bruder jetzt sagen würde. Für Max ist alles federleicht und einfach. Man streitet sich, doch man macht immer den ersten Schritt, man bittet um Verzeihung oder verzeiht, man schickt sich digitale Küsse. Weil die Welt ein guter Ort ist und alle Menschen Sternenstaub. Andererseits – habe ich etwas zu verlieren? »Hallo Simon«, tippe ich. »Es tut mir leid wegen heute Morgen. Ich bin wirklich Single und treffe auch niemand anderen. Aber du hast recht, ich mache es Menschen nicht leicht, mich kennenzulernen. Zum Beispiel hätte ich dir erzählen müssen, dass ich einen Bruder habe. Er ist vierzehn Jahre jünger als ich und heißt Max. Es ist schwer zu erklären, warum ich dir nicht einmal etwas so Selbstverständliches erzählen konnte und stattdessen einfach geflüchtet bin …« Ich halte inne. Mein Finger schwebt über dem Tastenfeld. Eine Ewigkeit atme ich nur meinen zu schnellen Herzschlag nieder. Dann lösche ich alles bis auf die ersten zwei Sätze und drücke auf Senden.
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Bei der Mutter von Renates Schülerin geht nur der Anrufbeantworter ran. Ich gebe meine Festnetznummer durch, dann schalte ich das Telefon auf Lichtsignal und lese das Protokoll des Vorgesprächs mit der verwitweten Kundin durch. Alle Fakten und Daten inklusive meiner Randnotizen zu Geburtsdaten, Hobbys und Haustieren – all das, was Leute für gute Passworte halten. Die Frau, die mir den Laptop übergab, heißt Claudia Kolowski. Dreißig Jahre Ehe, Haus und Hund, zwei erwachsene Söhne. Bei unserem Treffen hatte sie alle Tränen über den plötzlichen Tod ihres Mannes schon geweint. Geblieben ist nur Fassungslosigkeit. Was sie inzwischen weiß: dass ihr Mann sechs Monate vor seinem Herzinfarkt ohne ihr Wissen die Lebensversicherungen gekündigt und sämtliche Festgeldanlagen aufgelöst hat.
Was sie nicht weiß: wohin dieses gemeinsam für die Rente angesparte Geld verschwunden ist.
Sein Laptop liegt wie eine verschlossene Muschel vor mir. Vielleicht birgt sie eine Perle, vielleicht nur Salzwasser und Sand. Ich checke noch einmal die schriftliche Vereinbarung über das, was ich mit den Daten machen darf und was nicht. Doch diese Auftraggeberin will es wirklich wissen und hat alle Kreuze gesetzt.
»Also dann, Herr Kolowski«, sage ich.
In Märchen spielen Schwellen eine besondere Rolle. Ob als Dornenhecke oder Tür aus Pfefferkuchen – alle markieren sie den Übergang in eine Welt, in der die Gesetze von Zeit und der gewohnten Realität ausgehebelt sind. Meine Schwelle ist das Aufsetzen des Noise-Cancelling-Kopfhörers. In der Stille streiche ich mit den Händen an den Kanten des Laptops entlang. Wie bei jedem Mal durchrieselt meine Fingerspitzen ein Kribbeln – als würde Strom durch alle Nervenfasern gleichzeitig fließen und im Kopf alle Lichter anknipsen. Von einem Moment auf den anderen bin ich fiebrig wach und ruhig zugleich. Und mit dem Öffnen des Deckels lasse ich auch Simon an der Schwelle zurück.
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In Filmen ist das Suchen eines Passworts meist ein Countdown des Todes. Der Ermittler benötigt dafür seine ganze Intelligenz und Kombinationsgabe, während im Hintergrund die Digitaluhr die Sekunden zur Bombenexplosion herunterzählt. In der Realität gleicht meine Arbeit eher der eines Schlüsseldienstes. Man braucht das Wissen über alle Arten von Schlössern und passendes Werkzeug. Nur dass meine Werkzeuge Namen wie »John the Ripper« oder »Aircrack-ng« tragen und aus Bits und Bytes bestehen. Viele Tools brauchen nur Sekunden, um Millionen möglicher Kombinationen von Zeichenketten, Wörtern und sonstigen Codes durchzuprobieren. Erst einmal starte ich die klassische »Wörterbuchattacke«, die durchtestet, ob ein Passwort irgendwo in Dutzenden von Sprachen zu finden ist.
Aber eines muss man Dieter Kolowski lassen: Offensichtlich hat er seine Hausaufgaben gemacht. Alle anderen Rechner des Hauses hatte er nur mit den Namen seiner Söhne geschützt, aber auf diesem Laptop befindet sich etwas, das er unbedingt vor fremden Augen verbergen wollte. Also ist nun Geduld gefragt.
Das Telefonsignal blinkt auf, kaum dass ich den nächsten Suchlauf gestartet habe. »Frau Martin?«, ruft eine atemlose Frau in den Hörer. »Sandra Lesnik hier. Danke für ihren Anruf vorhin. Ich … Wir waren nur kurz außer Haus.«
»Kein Problem, Frau Les…«
»Ich bin so froh, dass ich Sie anrufen darf! Renate sagte uns, Sie kennen sich mit dem Internet aus. Hat Sie Ihnen erzählt, was passiert ist?«
»Sie sagte mir, dass ein Privatfoto Ihrer Tochter in ein Schülerforum gelangt ist.«
»Gelangt?« Frau Lesnik schnaubt. »Jenny hat das Bild selbst verschickt! An einen Jungen aus ihrer Klasse. Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, wie leicht Fotos weiterverbreitet werden können!« Diesen Tonfall kenne ich nur zu gut. Es ist die Mischung aus Löwenmutter-Blutrausch und blanker Wut auf das eigene Kind. Außerdem gehört Frau Lesnik zu den Eltern, die sich auch noch selbst Vorwürfe machen. »Im Grunde ist es nur meine Schuld. Sie ist zwar schon fünfzehn, aber ich kenne sie ja und hätte wissen müssen, dass sie noch viel zu unreif ist, um verantwortungsvoll mit einem Smartphone umzugehen …« Während sie erzählt, verschaffe ich mir einen Überblick über die ersten Ergebnisse der Online-Recherche zu Jennifer/Jenny Lesnik. Ich glaube nicht, dass Renate das Foto gesehen hat, das seit gestern auf der Plattform kommentiert wird. Sonst wäre sie sicher endgültig vom Glauben abgefallen. Offenbar stand Jennifer schon vorher nicht auf der Sonnenseite der Klasse und wurde im Forum mit verletzenden Spitznamen gemobbt. Jetzt ist sie endgültig Beute der Hyänen.
»In letzter Zeit erkenne ich meine Tochter kaum wieder, wissen Sie?«, gellt Frau Lesniks Stimme aus dem Lautsprecher des Telefons. »Sie war immer ruhig und freundlich. Und auf einmal ist sie wie verwandelt und macht nur noch Probleme. Sie hat mehrmals die Schule geschwänzt. Sie ist frech und unverschämt und außerdem lügt sie, und wenn ich sie frage …«
»Danke, Frau Lesnik. Ich denke, ich habe jetzt die Fakten, die ich brauche.«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagt sie jetzt leiser. »Ich … Wir sind nur alle sehr angespannt.«
»Das ist nach einem solchen Übergriff auch verständlich. Was haben Sie denn bisher wegen des Fotos unternommen?«
»Mein Mann hat es gleich gemeldet. Es sollte eigentlich schon längst aus dem Forum gelöscht sein. Und ich habe natürlich sofort die Eltern von Jennys Mitschülern angerufen. Renate war außerdem so nett, noch gestern Abend privat mit der Schulleitung zu telefonieren. Gleich morgen wird es dazu ein Krisengespräch mit den Lehrkräften und der Schulpsychologin geben.«
Schön, wenn das allein helfen würde . »Haben Sie mit einer Beratungsstelle oder der Polizei gesprochen?«
»Polizei?« Frau Lesnik holt erschrocken Luft. »Nein … Wir …. Es geht doch nur um Schüler. Mein Mann wird das mit dem Jungen selbst regeln. Und auch dafür sorgen, dass seine Eltern …«
»Frau Lesnik, ganz abgesehen davon, dass das hier kein harmloser Schülerstreich ist: Im Internet tickt die Zeit sehr schnell. Sie sollten sich professionelle Unterstützung holen, bevor das Foto sich auch auf anderen Plattformen verbreitet.«
Das reicht, um Jennifers Mutter den Rest zu geben. »Entschuldigen Sie«, sagt sie mit erstickter Stimme. Es raschelt, ein paar undeutliche, hektische Worte werden gewechselt, dann habe ich Jennifers Vater am Ohr, eine bärbeißige, tiefe Stimme im Angriffsmodus. »Jens Lesnik am Apparat. Und Sie sind … wer?«
»Fleur Martin. Ihre Frau hat mich kontaktiert.«
»Sie sagt, wir sollen zur Polizei gehen«, höre ich Frau Lesnik im Hintergrund aufgeregt wispern.
»Auf keinen Fall!«, braust er auf. »Das fehlt mir noch, dass auch noch irgendwelche Kerle auf der Wache dieses Bild von meiner Tochter anglotzen.«
»Es gibt psychologisch geschulte Beamtinnen dort«, erwidere ich ruhig. »Ich gebe Ihnen gerne die Namen und …«
»Ich brauche niemanden, der sich in unsere Privatangelegenheiten einmischt!«
Insgeheim seufze ich auf. »Ich will Sie nicht beunruhigen, aber denken Sie, ein Foto, das sich im Netz verbreitet, ist noch eine Privatangelegenheit?«
»Um mir Angst zu machen, müssen Sie schon früher aufstehen!«, blafft er mich an. »Und wie kommen Sie dazu, mir vorzuschreiben, was ich zu tun habe?«
Auch diesen aggressiven Ton kenne ich. Als wäre ich diejenige, die er niederargumentieren muss, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Ich kann ihn verstehen. Und ginge es nur um verstörte Vatergefühle, würde ich mich jetzt höflich verabschieden. Aber schon meine erste grobe Recherche zeigt, dass das Bild nicht mehr nur im Dunstkreis der Schule kursiert.
»Vorschreiben kann und will ich Ihnen gar nichts, Herr Lesnik. Es ist nur ein gut gemeinter Rat. Ich bin Datenforensikerin. Und aus langjähriger Erfahrung kann ich Ihnen sagen: Wenn sich Nacktfotos von minderjährigen Mädchen erst einmal verbreitet haben, wird es sogar für Leute wie mich schwierig, sie dauerhaft aus dem Netz zu bekommen. Abgesehen davon, dass jeder, der es darauf anlegt, über eine Gesichtserkennungs-App herausbekommen kann, wie Ihre Tochter mit vollem Namen heißt, wo sie zur Schule geht und wo sie wohnt. Schließlich gibt es auch Klassenfotos mit ihr im Netz.«
Treffer, versenkt. Herr Lesnik ringt hörbar um Fassung. Doch er ist jemand, der es beherrscht, seine Aura von Dominanz aufrechtzuerhalten. »Was wollen Sie eigentlich von uns? Einen Auftrag abgreifen? Und was würde dieser Spaß mich dann kosten?«
Ich weiß sehr gut, dass man die Worte von Eltern im emotionalen Wildwasser nicht überbewerten soll, aber langsam reicht es mir. »Ihnen ist schon klar, dass es für Jennifer kein Spaß ist, was gerade mit ihr passiert?«
»Da haben Sie allerdings verdammt recht! Es ist alles andere als ein Spaß, wenn die eigene Tochter nicht weiß, was Scham und Anstand ist!«
»Jens«, zischt seine Frau.
»Ach, jetzt heulst du hier rum!«, brüllt Herr Lesnik so unvermittelt los, dass ich zurückzucke. »Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du dich wie eine …«
»Lass sie endlich in Ruhe!«, faucht Frau Lesnik im Hintergrund. Schlagartig wird mir kalt. Herrn Lesniks Gebrüll war an seine Tochter gerichtet. Was bedeutet, dass Jenny schon die ganze Zeit im selben Raum sitzt und alles hört, was ihre Eltern über sie sagen. Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich mich nicht versichert habe, ob wir vertraulich telefonieren.
Den Rest des Streits verstehe ich nicht. Vielleicht hat Herr Lesnik die Hand über den Hörer gelegt. Aber im Geiste sehe ich, wie seine Tochter noch tiefer im Sofa versinkt, die Schultern hochgezogen und den Kopf gesenkt, sodass ihr langes hellbraunes Haar ihr Gesicht verbirgt.
»Frau Martin?«, meldet sich ihre Mutter wieder. »Entschuldigen Sie bitte.« Es ist ihr anzuhören, wie peinlich es ihr ist. Offenbar ist sie in der Familie diejenige, die für das Entschuldigen zuständig ist. Im Hintergrund fällt die Tür mit einem Donnern zu. Ich wünschte, es wäre Jennifer, die aus dem Zimmer gestürmt ist, aber ich höre einen Laut, der mir ins Herz schneidet. Es klingt wie ein ersticktes Schluchzen.
»Mein Mann meint es wirklich nicht so«, sagt Frau Lesnik.
»Schon gut. Ich erkläre Ihnen das übliche Vorgehen und gebe Ihnen ein paar Telefonnummern durch – auch die Nummer einer Beratungsstelle. Haben Sie etwas zu schreiben?«
»Ja … natürlich.« Es klingt zögerlich. Aber sie notiert die Namen und Durchwahlen und bedankt sich dabei so oft, als würde sie ein Beruhigungsmantra wiederholen.
»Haben Sie für Ihre Tochter eine Entschuldigung für die Schule morgen verfasst?«
»Noch nicht«, sagt sie unsicher. »Aber ich … sollte es wohl, oder?«
»Ja. Und bitte gehen Sie mit Jenny gleich morgen früh zur Beratung. Die Leiterin heißt Frauke Jahn. Sie kennt sich mit solchen Fällen aus und wird Ihrer Tochter helfen, mit der Situation umzugehen – auch in der Schule. Ich schreibe Frau Jahn heute noch eine Mail, damit sie weiß, worum es geht.«
»Danke«, sagt Frau Lesnik leise. Doch diesmal klingt sie nicht so, als würde sie vorhaben, dem Rat zu folgen. Diese Haltung kenne ich nur zu gut: Alles bleibt in der Familie.
»Es ist wirklich wichtig, Frau Lesnik«, sage ich mit Nachdruck. »Für Jenny – aber auch für Sie. Ich verstehe gut, wie Sie sich gerade fühlen. Aber glauben Sie mir, solche Fälle kommen häufiger vor, als man denkt. Und es hat nichts damit zu tun, dass Sie als Eltern etwas falsch gemacht hätten.« Ihr stockendes Atemholen verrät, dass sie die Tränen zurückdrängen muss. »Und auch falls Jenny nicht hingehen möchte, rufen Sie da morgen bitte auf jeden Fall an«, setze ich hinzu. »Frau Jahn weiß, was zu tun ist. Und natürlich hat sie Schweigepflicht. Auch … Ihrem Mann gegenüber, wenn Sie das wollen.« Damit lehne ich mich sehr weit aus dem Fenster, vielleicht schon viel zu weit. Aber Frau Lesnik atmet auf.
»Vielen Dank«, sagt sie leise. Und diesmal kommt es aus vollem Herzen.
Im Grunde gäbe es nun nichts mehr zu sagen. Noch ein paar gute Wünsche, dann könnte ich auflegen und mit vier Klicks alle Fenster schließen. Aber so einfach ist es für mich nicht. Vom Monitor schaut Jennifer mich an. Das Bild ist ein Selfie, das sie vor einem Spiegel aufgenommen hat. In aufreizender Pose versucht sie sich an einem lasziven Lächeln. Und mit dem Make-up könnte man sie auf den ersten Blick tatsächlich für älter halten, als sie ist. Doch ich sehe nur ein Mädchen, das seinen Körper noch trägt wie ein Kleid, in das seine Seele erst hineinwachsen muss.
Semmelfresse hat voll die Monstertitten , ist im Forum noch einer der harmlosen Kommentare ihrer Mitschüler.
Mein Blick schweift zur Madonnenfigur auf dem Schrank. Genau das ist mein Problem mit professioneller Distanz: Ich glaube an Flüche. Daran, dass sie wie der Schatten Teil unserer selbst werden und uns folgen, wohin wir auch gehen. Familien sind aus feinen Netzen gewebt. Und Scham ist eine Erschütterung, die die größten Löcher reißt.
»Frau Lesnik? Dürfte ich Ihrer Tochter noch einige Fragen stellen?«
»Ähm … ja. Natürlich.«
Ein Rascheln, gedämpftes Murmeln, dann ein verschnupftes, misstrauisches: »Ja?«
»Jenny? Ich heiße Fleur Martin. Hat deine Mutter dir erklärt, wer ich bin?«
»Ja.« Es klingt feindselig. Gut , denke ich. Schließlich bin ich nur eine anonyme Stimme – und zudem nur eine weitere Erwachsene, von der sie fürchten muss, schuldig gesprochen zu werden. »Ist es für dich in Ordnung, mit mir zu reden?«
»Mir egal«, kommt es betont rotzig zurück.
»Ich brauche nur ein paar technische Infos, um besser einschätzen zu können, was zu tun ist. Ich vermute mal, deine Eltern haben dir dein Smartphone weggenommen?«
»Ja.« Es ist das sprachliche Pendant zu einem verächtlichen Schulterzucken. Doch ich kann mir vorstellen, wie es ihr wirklich damit geht. Technik wegzusperren scheint für Eltern immer der sicherste Weg zu sein, ihr Kind zu beschützen und ein Gefühl der Kontrolle zurückzugewinnen. Nur dass in Beziehungen Kontrolle das Gegenteil von Nähe ist. Jenny muss sich wie eine Gestrandete fühlen – isoliert auch von Freundinnen, die zu ihr halten und sie trösten könnten.
»Hör zu, Jenny, alles, was du mir sagst, ist vertraulich, es bleibt also zwischen dir und mir. Ich werde auch deinen Eltern nichts sagen. Deshalb stelle ich die Fragen so, dass du mit Ja oder Nein antworten kannst. Und du antwortest nur, wenn du auch wirklich möchtest. Einverstanden?«
Sie sagt nichts und ich schweige ebenfalls. Denn das ist die Schwelle. Sie hat die Wahl, auszusteigen, mich anzulügen oder ehrlich zu antworten. Aber wenn ich eines von meinem Vater gelernt habe, dann das: Verlass dich nie auf Wahrheiten, beobachte nur die Reaktionen und ziehe daraus deine Schlüsse. Nach einer langen Pause kommt von Jenny ein zustimmendes »Mhm«.
»Gut.« Ich lächle, weil sie die Freundlichkeit in meiner Stimme hören wird. »Deine Mutter sagte mir, ein Junge aus deiner Klasse hätte …«
»Ich habe ihm überhaupt nichts geschickt!«, schnappt sie.
Bevor ich reagieren kann, hat ihr die Mutter den Hörer aus der Hand genommen. »Herrgott, Jennifer, jetzt lüg nicht schon wieder!«, fährt sie ihre Tochter an. »Mike hat vor seinen Freunden sogar damit herumgeprahlt, dass sie das Foto für ihn gemacht hat, Frau Martin. Er bestreitet zwar, das Foto ins Forum gestellt zu haben. Aber das Bild war schließlich auf seinem Handy. Er hat es herumgezeigt, das haben andere Schüler bestätigt. Und er hat schon öfter Probleme gemacht, nicht nur in der Schule …«
Ich muss innerlich sehr langsam bis drei zählen, bevor ich sie höflich unterbrechen kann. »Danke für die Info, das ist gut zu wissen. Könnte ich bitte noch einmal mit Jennifer sprechen?«
Ich kann spüren, dass es ihr einiges abverlangt, Hörer und Kontrolle wieder aus der Hand zu geben. »Jenny?«, sage ich ruhig. »Wenn du sagst, du hast Mike nichts geschickt, dann glaube ich dir das.«
»Ach ja?«, kommt es trotzig zurück. »Warum? Ich bin doch nur ’ne dumme Lügnerin, die sich wie ’ne Nutte benimmt!«
»Jennifer!«, zischt ihre Mutter.
Doch in mir wallt eine jähe Zärtlichkeit für das fremde Mädchen auf. Gerne würde ich sie in den Arm nehmen und sie beschützen. Aber alles, was ich für sie tun kann, ist, sachlich zu bleiben und weiter nachzufragen. Denn im Gegensatz zu ihren Eltern glaube ich ihr tatsächlich.
»Du bist alles andere als dumm. Und die Lügner sind diejenigen, die sich im Forum das Maul über dich zerreißen.«
Das muss Jenny wohl erst einmal verdauen. Während sie schweigt, beuge ich mich zum Monitor und betrachte ein Klassenfoto vom letzten Jahr, das die Suchmaschine ebenfalls ausgespuckt hat. Ungeschminkt, mit zurückgebundenem Haar und hängenden Schultern wirkt das Mädchen zwischen ihren selbstbewussten Mitschülerinnen wie jemand, der sich in der Tür geirrt hat und das auch weiß. Man sieht ihr an, wie ernst und unsicher sie ist. Ihr Gesicht ist blass und weich und ihre üppige Figur sorgfältig unter einem weiten Sweatshirt verborgen. Auf den ersten Blick hätte ich nicht erkannt, dass es sich hier um dasselbe Mädchen handelt wie bei der geschminkten Version mit dem halb geöffneten Mund. Und vielleicht liege ich völlig daneben, aber irgendetwas an dieser neuen anderen Jenny passt nicht zum üblichen Muster einer Jugendlichen, die sich einfach nur ausprobiert.
»Kennt jemand außer dir den Zugangscode zu deinem Smartphone?«, frage ich in das Schweigen.
Sie räuspert sich. Und als sie antwortet, schwingt in ihrer Stimme zum ersten Mal etwas Zerbrechliches mit. »Nur … meine Eltern.«
»Hast du dein Phone irgendwann einmal entsperrt irgendwo liegen lassen? In der Schule oder in der Stadt mit deinen Freundinnen? Vielleicht, als du mal zur Toilette gegangen bist?«
»Wieso?«, fragt sie vorsichtig.
»Weil schon ein paar Minuten reichen, damit jemand dein Gerät mit seinem verbinden kann. Dann könnte er jederzeit auf deine Fotos zugreifen. Hattest du in den letzten Tagen das Gefühl, dass etwas mit deinem Handy nicht stimmt?«
»Ich habe es nicht liegen lassen!«, sagt sie so hastig, dass ich aufhorche.
»Gut. War nur eine Standardfrage. Du wärst nicht die erste Schülerin, deren Daten auf diese Art in falsche Hände geraten.« Am anderen Ende der Leitung herrscht plötzlich eine ganz neue Art der Stille. Jenny wagt nicht einmal mehr zu atmen. Spätestens jetzt würde mein Vater vielsagend die Brauen heben.
»Okay, dann nur noch eine letzte Frage«, sage ich betont beiläufig. »Du besitzt noch ein zweites Handy, von dem deine Eltern aber nichts wissen. Und für dieses Geheimhandy kennt jemand anderes den Zugriffscode. Ja oder Nein?«
Mein Vater würde es einen Probeschuss nennen. Frauke von der Beratungsstelle würde jetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und mir einen Vortrag halten, dass dieses Telefonat das Gegenteil von einfühlsamer Psychologie sei.
»Nein!«, fährt Jenny mich erstaunlich heftig an. »Und ich sage jetzt gar nichts mehr, klar?«
Ihr Tonfall verrät, wie erschrocken sie ist. Ich weiß nicht, ob ich hoffen soll, mit meinem Verdacht recht zu behalten oder lieber völlig danebenliege. Aber wäre das wirklich besser für sie? »Nur noch eines, Jennifer«, sage ich sanft, aber mit Nachdruck. »Ganz egal, was wirklich los ist und wem du was geschickt oder nicht geschickt hast: Du bist nichts von dem, was andere gerade sagen. Und du bist auch nicht schuld. Schuldig sind einzig und allein diejenigen, die dein Vertrauen missbrauchen und deine Bilder gegen deinen Willen verbreiten.«
Ich höre, wie Jenny krampfhaft schluckt. Und als sie sich wieder gefangen hat, klingt sie zum ersten Mal wie eine unglückliche Fünfzehnjährige, die mit dem Rücken zur Wand steht. »Okay«, sagt sie leise und legt auf.