Damalsschatten

»Bist du sicher, dass du das ganze Zeug mitnehmen willst?« Renate stellt die letzte Kiste neben dem Lada ab und streckt den Rücken durch. »Was, wenn du doch ein paar Erbstücke ins Auto laden willst, alte Möbel oder Geschirr zum Beispiel?«

»Das wird keine Wohnungsauflösung, sondern ein Städtetrip mit meinem Bruder«, antworte ich. »Wir bleiben nur eine Nacht in Echternach und fahren dann nach Luxemburg-Stadt weiter.«

Renate schüttelt nur tadelnd den Kopf und schiebt die Kiste mit dem Reisemonitor auf die Rückbank. Ich laufe ein letztes Mal zurück in die Wohnung.

Mein Haupt-Arbeitstisch sieht ungewohnt leer aus, so viel Technik habe ich abgebaut. Ich denke nämlich nicht daran, Maurice und seinem Chaos mehr meiner teuer bezahlten Arbeitszeit als nötig zu opfern. Und da Max am liebsten bis mittags schläft, kann ich die frühen Stunden in den Hotels nutzen, um Routinekram abzuarbeiten.

Gerade als ich das Arbeitszimmer abschließen will, bleibt mein Blick an meiner antiken Madonnenfigur hängen. Das Morgenlicht zeichnet einen Heiligenschein um sie. Obwohl ihr Gesicht im Schatten liegt, spüre ich ihren finsteren Blick. Noch nie wirkte sie mehr wie ein Fremdkörper in meinem Universum aus Stahl, Glas und den matten Augen der Monitore. Und ich beschließe, dass sie schon viel zu lange über mich urteilt. Es ist wirklich Zeit, die Vergangenheit dort zu begraben, wo sie hingehört.

*

Max wartet schon vor dem Bahnhof. Er wirft seinen Rucksack mit Schwung auf den Rücksitz, springt ins Auto und wirbelt einen Schwall von kalter Morgenluft herein. »Gruß von Moms. Sie hat mich im Zug gefühlt hundertmal angerufen. Ich glaube, sie hat bis zuletzt gehofft, dass wir doch nicht fahren.«

»Papa hofft, dass ich es mir mit der Erbschaft doch noch überlege«, erwidere ich. »Und ich hoffe, dass Mama ihm nicht die Hölle heißmacht.«

Max lacht und winkt ab. Dennoch wissen wir beide, was unserem Vater die nächsten Tage blüht. Natürlich gibt meine Mutter ihm die Schuld daran, dass sie Max und mich nicht aufhalten konnte. Und wir werden uns noch ziemlich lange anhören müssen, dass sie und mein Vater wegen unserer Tour das Familienessen zum Hochzeitstag verschoben haben.

Mein Bruder langt nach hinten und kramt eine CD aus dem Rucksack. »Ich habe uns auf Papas Brenner eine Playlist zusammengestellt. Die Anlage in deiner alten Lada-Schüssel funktioniert ja noch mit Steinzeittechnik.«

»Wenn du in meiner alten Lada-Schüssel mitfahren willst, sprich gefälligst nett von meinem Auto.«

Er grinst und legt die CD ein. Insgeheim hatte ich mich auf lange Gespräche und meine Rolle als Trösterin eingestellt. Doch mein Bruder erwähnt Merle mit keinem Wort und es wirkt, als hätte es unser Gespräch vor zwei Tagen nicht gegeben. Während ich anfahre, erklingt schon die weiche Stimme von Charles Trenet. »Wir sollen auf der Fahrt Mamas französische Chansons hören, Max? Wirklich?«

»Ich dachte, die magst du?«

»Wenn wir zu Hause sind, haben wir einfach keine Wahl.«

»Es sind auch andere Songs drauf. Ich habe eine bretonische Folkrock-Band entdeckt. Ist retro, aber interessant. Tri Yann , kennst du sie?« Er beugt sich vor und sucht den Track. »Sie singen auch Lieder in keltischer Sprache. Mir war gar nicht klar, dass es die Kelten nicht nur in Irland gab.«

»Du hast doch früher meine alten Asterix-Hefte gelesen. Die Gallier und die Arverner – das waren keltische Stämme Frankreichs.«

»Die Gallier? Echt? Wie cool!« Max beginnt mitzusummen und den Takt des Liedes auf den Oberschenkeln zu klopfen. Wie so oft, steckt er mich auch heute mit seiner Art, die Welt in vollen Zügen auszukosten, bald schon an. Ich fädle auf die Autobahn ein und gebe Gas.

»Wie lange fahren wir eigentlich?«, will er nach einer Weile wissen.

»Wenn es glattläuft, sind wir schon in drei Stunden in Echternach. Du kannst ja die Cafés abklappern, während ich in der Stadtverwaltung bin.«

»Oder ich mache einen Spaziergang durch die Wolfsschlucht. Steht als Tipp im Reiseblog.«

»Ich mag Wölfe nicht. Was steht sonst noch auf deiner Bucketlist

»Was steht auf deiner? Willst du vielleicht zum … Friedhof?«

»Zu Maurice’ Grab, meinst du?« Ich schüttle den Kopf. »Nein, die Urne steht ohnehin noch beim Bestatter, bis die Erbschaft und damit die Kostenübernahme für die Beerdigung geklärt ist.«

Es ist Max anzusehen, dass meine Sachlichkeit ihn immer noch befremdet. »Aber … wenigstens bei der Wohnung gehen wir mal vorbei?«, fragt er vorsichtig. »Ich muss doch sehen, was für eine Riesenvilla du ausschlägst.«

Insgeheim habe ich auf diese Frage gewartet. Es sind nur vier Wände und ein Dach, höre ich meinen Vater sagen. Und trotzdem bereitet mir allein schon die Vorstellung, zum Rosenfenster hinaufzuschauen, Unbehagen.

»Wenn du unbedingt willst, zeige ich dir das Haus«, antworte ich dennoch. »Aber beim Thema Villa wirst du enttäuscht sein.«

Max lacht nur und zückt sein Handy. Eine Weile liest er mir Passagen aus dem Reiseblog vor und speichert Tipps für Cafés und Museen ab.

Bald übernimmt die Musik. Wir verfallen in Schweigen, während die Kilometeranzeige wie ein Zeitlupen-Metronom vor sich hin tickt. Ich hatte mir fest vorgenommen, Max nicht dazu zu drängen, über Merle zu sprechen. Aber es ist seltsam, dass er noch nicht selbst auf das Thema gekommen ist. Irgendwann meldet sich sein Smartphone mit einer Benachrichtigung. Bei einem Seitenblick erhasche ich ein verräterisch weiches Lächeln auf seinem Gesicht.

»Gute Nachrichten?«, hake ich nach. Und ich kann mir einfach nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Habt ihr euch vielleicht wieder versöhnt?«

Max steckt hastig das Handy weg. »Nicht … direkt.«

»Willst du mir nicht erzählen, was los ist? Oder ist das Thema für die Reise tabu? Ist in Ordnung, ich will es nur wissen.«

Er deutet ein Kopfschütteln an. »Es … ist nur ziemlich kompliziert.«

Kompliziert ist das letzte Wort, das ich mit Max und Merle in Verbindung bringen würde. Sie sind seit Kindertagen befreundet und seit der zehnten Klasse ein Paar. Merle nennt unsere Mutter schon lange »Schwiegermoms« und Max hat sein FSJ so gewählt, dass er in Merles Studienstadt wohnen kann.

Tri Yann schmettert bretonische Trinklieder, während Max schweigend aus dem Fenster starrt. Die CD läuft einmal komplett durch. Wir sind fast schon an Kaiserslautern vorbei, als Max plötzlich sagt: »Ich … habe mich in jemand anderen verliebt.«

»Was?«, entfährt es mir. Max weicht meinem überraschten Blick aus und wird rot bis über die Ohren. Dann schaltet er die Musik ab.

»Also hast in Wirklichkeit du Merle verlassen?«, frage ich. »Und auch noch wegen einer anderen?«

»Ich habe sie überhaupt nicht verlassen. Und im Übrigen ist es auch nicht aus zwischen uns. Klar, sie war im ersten Moment so geschockt, dass sie sagte, es sei für sie vorbei. Aber gestern haben wir noch mal geredet und … jetzt haben wir so eine Art Auszeit. Merle braucht auch erst mal Abstand. Die Sache hat sie schon ziemlich verletzt.«

»Die Sache? Du meinst das andere Mädchen, mit dem du fremdgehst.«

Ich sollte auf der Seite meines Bruders stehen, aber Merle tut mir leid. Im Moment hat sie mehr verloren als Max.

»Es ist überhaupt nicht so, wie du jetzt denkst, Fleur. Und Merle ist völlig okay damit.«

Fast hätte ich aufgelacht. »Wir sprechen aber schon von derselben Merle, oder?«

»Musst du immer gleich deinen Sarkasmus auspacken?«, bricht es aus ihm heraus. »Auch wenn du es nicht verstehen willst, es ist kein Fremdgehen. Ich habe mich wirklich verliebt! So richtig!«

»Ach so, das ist natürlich etwas ganz anderes.« Das kann ich mir einfach nicht verkneifen. »Und was soll dann diese ›Auszeit‹ bringen? Ist das so eine Bachelor-Show, bei der du dir überlegst, welches Girl am Ende eine Rose von dir bekommt?«

Max ist blass geworden und schluckt schwer. Und mit einem Mal wirkt er nur noch traurig und niedergeschlagen. »Kannst du dir echt nicht denken, was los ist?«, fragt er kaum hörbar.

»Ich bin keine Gedankenleserin. Wer ist das Mädchen überhaupt? Anne aus deiner Sportgruppe?«

Max schüttelt den Kopf. »Mit wem war ich im Urlaub?«

Ich brauche eine Ewigkeit, bis mir dämmert, was er mir zu sagen versucht. »Du … hast dich in Tom verliebt?«

»So, wie du das sagst, klingt das ja, als wäre das völlig abwegig.«

»Nein, natürlich nicht.« Nur, dass es allem widerspricht, was ich jemals über Max zu wissen glaubte. »Dann hast du im Urlaub herausgefunden, dass du auch auf Jungs stehst? Oder … hast du mir das nur nie erzählt?«

Max stöhnt genervt auf und lässt sich in den Sitz zurückfallen. »Das hätte jetzt auch echt von Roland kommen können! Er wird mich als Erstes fragen, ob ich jetzt plötzlich schwul bin. Aber man verliebt sich doch nicht in Chromosomensätze, sondern in Menschen!«

»Schon gut, spring mir nicht gleich ins Gesicht. Ich bin einfach überrascht.«

»Nicht nur du«, murmelt Max.

Ich versuche, mich an seinen Reisebegleiter zu erinnern. Max hat ihn erst vor zwei Monaten auf einem Konzert kennengelernt. Ich kenne Tom bisher nur von Fotos auf Social-Media als einen hageren, sonnengebräunten Kerl, der nie lächelt und dessen Nacken ein Tribal-Tattoo schmückt. Kritischer arroganter Blick, scharf geschnittener Mund. Kaum ein Lächeln für die Kamera. Auf den Urlaubsbildern wirken er und mein Bruder nebeneinander wie Licht und Schatten, Yin und Yang.

»Hat Merle es geahnt?«, frage ich vorsichtig weiter. »Ich meine … wollte sie deshalb nicht, dass du mit Tom nach Spanien fährst?«

Max seufzt. »Jedenfalls wusste sie sofort, dass auf der Reise etwas passiert ist.« Er schluckt krampfhaft. »Das Verrückte ist, dass ich sie ja liebe«, fügt er mit belegter Stimme hinzu. »Aber das mit Tom ist … auch ernst.«

»Und er? Erwidert er deine Gefühle?«

»Klar«, antwortet Max fast verwundert. Als wäre es nicht vorstellbar, dass jemand ihn nicht lieben könnte. »Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass wir uns nahe sind«, fährt er fort. »Soulmates . Aber das Ganze hat mich dann trotzdem völlig kalt erwischt. Am letzten Abend saßen wir in Verona auf dem Balkon und haben geredet. Und irgendwann … ist es dann einfach passiert.«

Nichts passiert einfach so, Max, hätte ich fast gesagt. »Und Merle und du habt euch auf eine Beziehungspause geeinigt, bis ihr alle drei wisst, wie und in welcher Konstellation ihr weitermachen – oder vielleicht auch nicht weitermachen – wollt?«

Max nickt, ohne zu zögern. Und ich frage mich, ob er wirklich glaubt, dass es im Leben und in der Liebe so einfach ist.

»Dann verstehe ich aber ehrlich gesagt nicht, warum du jetzt mit mir nach Echternach fährst.«

Max weicht meinem Seitenblick aus. »Ich … musste erst mal weg von zu Hause. Da laufe ich Merle ständig über den Weg.«

Wo ist das Problem? Sie ist doch ›völlig okay damit‹. Das liegt mir auf der Zunge, aber diesmal lasse ich meine Ironie stecken. »Ich will ja nicht wie das Echo of Doom klingen, aber Weglaufen macht es nicht einfacher. So etwas wie eine ›Trennung light‹ gibt es nämlich nicht.«

»Ich weiß doch noch gar nicht, ob ich mich trennen will!«, ruft Max verzweifelt aus. »Das ist es ja! Ich will keinen von beiden verlieren. Aber Merle will eine Entscheidung von mir, bevor wir am Montag den Mietvertrag für unsere Wohnung unterschreiben.«

Bingo, Miss Marple . »Dann sprechen wir hier aber nicht von einer Auszeit, Max, sondern von einem Ultimatum, das Merle dir gestellt hat.«

Max beißt sich schmerzhaft fest auf die Unterlippe und starrt auf das Handy in seiner Hand. »Ich kann Tom nicht aufgeben. Aber wenn ich mich für ihn entscheide, dann verliere ich Merle und mache alles kaputt. Abgesehen davon, dass wir den Mietvertrag für unsere Wohnung schon sicher haben … Papa fällt vom Glauben ab, wenn ich plötzlich mit einem Kerl ankomme. Und für Moms wird sowieso die Welt zusammenbrechen, sie liebt Merle ja fast mehr als mich …«

»Es geht hier nicht um die anderen, sondern darum, was du selbst willst – und wen.«

Max’ Lächeln will ihm diesmal nicht gelingen. »Eigentlich will ich Tom«, sagt er bedrückt.

Nur, dass ›eigentlich‹ in der Liebe kein gutes Wort ist , denke ich bei mir.

»Wie geht es dir jetzt gerade?«, sage ich leise in die lange Pause. »Ich meine – wie geht es dir wirklich, Kleiner?«

Er starrt auf die Straße und denkt ernsthaft darüber nach. »Papierweiß«, sagt er nach einer langen Weile. »Völlig blank. Wie ein Blatt, auf dem nichts mehr steht. Was würdest du denn jetzt an meiner Stelle machen?«

Toms Account hacken, um herauszufinden, wer er wirklich ist?

Max’ Handy meldet sich. Sogar bei dem kurzen Seitenblick erkenne ich das Foto wieder, das Merle ihm geschickt hat: Sie und Max, eng umschlungen und glücklich auf dem Heidelberger Weihnachtsmarkt im vergangenen Jahr. Merle kennt meinen Bruder lange genug, um zu wissen, woran sie ihn erinnern muss. Max steigen sofort die Tränen in die Augen. Und so gut ich Merle auch verstehe, jetzt sehe ich nur noch meinen kleinen Bruder, den ich beschütze, seit er auf der Welt ist.

»Ich kann dir nicht sagen, was ich an deiner Stelle machen würde, Max. Aber wenn du den Rat einer großen Schwester gebrauchen kannst: Schalte das Handy aus. Denke in Ruhe nach – und zwar nur über dich.«

»Aber wenn ich nicht erreichbar bin, denkt Merle, ich will nicht mit ihr reden!«

»Dann melde dich bei ihr ab. Wie willst du Klarheit kriegen, wenn du dich mit Nachrichten wie dieser quälst?«

Vielleicht bin ich damit schon zu weit gegangen. Max umklammert sein Handy, als hätte ich ihn aufgefordert, es aus dem Fenster zu werfen. Aber nach einer Weile atmet er tief durch und nickt. »Weißt du was? Wir klinken uns einfach beide aus.«

»Das geht nicht. Ich muss erreichbar sein.«

»Dann melde dich bei deinen Kunden ab«, wiederholt Max meinen eigenen Rat. »Bitte, Fleur, wenigstens bis heute Abend! Oder …« Er lacht auf und mit einem Mal kehrt sein Strahlen zurück. »… bis Mitternacht. Wie in deinen Märchen: Wir vergessen das ganze Chaos für ein paar Stunden und haben einfach eine gute Zeit. Nur wir zwei. Deal?«

Ich zögere. Die Kunden sind nicht das Problem – bei den wichtigen Adressen habe ich Bescheid gegeben, dass ich für den Rest der Woche unterwegs bin. Aber Renate wollte mich anrufen, sobald sie heute mit Jennys Mutter gesprochen hat. Auch Cem wollte sich melden. Natürlich darf er mir keine Einsicht in laufende Ermittlungen geben, aber ein paar unverfängliche Stichworte genügen, dass ich mir einen Reim darauf machen kann, ob ich mit meinem Verdacht zur Loverboy-Akte richtiglag.

Doch Max wartet auf eine Antwort. »Deal«, sage ich. »Gib Mama Bescheid, sonst schaltet sie eine Vermisstenanzeige. Und mach bei mir die Mailbox an.«

Max strahlt. Und nachdem er alles erledigt und erst sein und dann mein Handy ausgeschaltet hat, streckt er sich und atmet so erleichtert auf, als wäre eine tonnenschwere Last von seinem Herzen gefallen. Oder, setze ich in Gedanken hinzu, als hätte er seinem Erwachsenenleben noch ein paar Stunden Kindheit ohne Entscheidungen abgerungen .

*

Eine Unfallsperrung hat uns vor Trier viel Zeit geraubt. Als die kantigen Türme der Echternacher Kirche in Sicht kommen, bin ich für den Termin im Amt schon knapp dran. Kurz entschlossen lasse ich mich vom Navi direkt in die Innenstadt lotsen, springe aus dem Wagen und überlasse es Max, unsere Sachen zum Hotel zu fahren. Ohne nach links und rechts zu schauen haste ich zum Amtsgericht. Es dauert eine Stunde, bis eine Beamtin alle Siegel verifiziert und noch ein paar Telefonate geführt hat. Nur, um mir dann mitzuteilen, dass zwei Dokumente noch notariell beglaubigt werden müssen, doch nicht in Echternach selbst, sondern in Diekirch.

Der Fluch der Durands , hätte meine Mutter jetzt sicher gesagt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zähneknirschend alles wieder einzupacken und mich auf den Weg zum Hotel zu machen. Es ist das Le Petit Poète und liegt nur wenige Schritte vom großen Dom entfernt. Max wartet im Hotelcafé auf mich. Er hat sich bereits mit der Bedienung angefreundet und lässt sich Tourentipps geben, die er mit Kugelschreiber direkt in einen Stadtplan schreibt. Gut gelaunt scherzt er sogar mit den Kindern am Nebentisch. Mister Yang strahlt wieder , denke ich.

»Dann fahren wir eben morgen früh nach Diekirch«, sagt er nur, nachdem ich meinem Unmut Luft gemacht habe. »Aber jetzt steigt erst einmal unsere Party bis Glockenschlag zwölf.«

*

Für mein siebenjähriges Ich war Echternach laut und riesenhaft. Und außerdem so düster und bedrohlich, als könnte ich an jeder Straßenecke auf die gemarterten Heiligen stoßen, die Margot Durand so leidenschaftlich verehrte. Doch mit Max ist es ein helles Städtchen voller malerischer Gassen. Touristen sitzen an diesem sonnigen Oktobertag mit Decken auf den Knien vor den Cafés. Wie früher in den Ferien lassen Max und ich uns durch die Läden treiben und genießen im Gehen das letzte Eis des Jahres. Schließlich erklimmen wir die Treppe zum Wahrzeichen der Stadt: die Basilika des Heiligen Willibrord. Die Sonne, die durch die Kirchenfenster fällt, taucht den Boden in farbige Lichtflecke. Violett, Rot und Orange – und unwirklich strahlendes Hellgrün. Ebenso bunt ist der Mantel einer hellen Marienfigur rechts vom Altar. Ihre Goldkrone blitzt in einem Sonnenstrahl auf. Den Hall unserer Schritte begleitet leise die rhythmische Musik der berühmten jährlichen Springprozession, die im Seitenflügel der Kirche in Endlosschleife vom Band abgespielt wird.

»Komm, wir kaufen eine Kerze«, flüstert Max mir zu. Auch das ist ein Ritual, das uns beide an Max’ Kindheit erinnert: In jeder Kirche, die wir im Urlaub besichtigten, zündeten wir ein »Licht für die Vorderen« an, wie es in der Familie unseres Vaters Brauch ist.

Glatt getretene Stufen führen hinunter zur Krypta. Dort empfängt uns das Plätschern einer in Stein gefassten Quelle. Schweigend betreten wir ein Kellergewölbe mit weiß getünchten Bögen. Alles in diesem Andachtsraum ist hell – auch der weiße Sarkophag, in dem die Gebeine des englischen Missionars und Ordensgründers Willibrord hinter geschmiedeten Gittertüren ruhen. Für mich aber gehört die Kirche nicht dem Heiligen, sondern den schneeweißen Marien. Vor einem pastellfarbenen Fenster thront eine weitere dieser Statuen. Mit dem goldgesäumten Gewand und ihrem freundlichen Gesicht leuchtet diese helle Maria wie der sanfte, tröstende Mond. Auf einer Wolke steht sie barfüßig über einem Meer von Opferflämmchen. Die Blumengestecke, die vor der Madonna aufgebaut sind, verströmen den angewelkten Friedhofshauch, der mir nur allzu vertraut ist.

Vereinzelt sitzen Betende auf den niedrigen Stühlen vor diesem Marienaltar. Ein Stuhl knarzt, als eine alte Frau Platz nimmt. Sie schlingt den Rosenkranz um ihre Hand und versenkt sich Perle für Perle ins Gebet. »Hier saß bestimmt auch deine Großmutter«, raunt Max mir mit einem Blick auf die Betenden zu.

Nicht nur sie . Mein Blick schweift zu einem leeren Stuhl in der letzten Reihe. Mit geschlossenen Augen könnte ich die Risse im Steinboden zeichnen, auf den ich gestarrt habe, während ich mir einbildete, dass das Skelett des Mönchs jeden Augenblick hinter mir aus dem Sarkophag klettern und durch die Gitter nach meinem Haar greifen würde. Doch auch diese Erinnerung berührt mich überraschenderweise kaum noch. Als wäre Max’ Licht ein Zauber, der sogar die Damalsschatten überstrahlt.