Das Handynavi führt uns zum Rand der Altstadt. Je weiter wir uns vom touristischen Zentrum entfernen, desto üppiger und wilder wachsen die Sträucher in den Vorgärten. Die Zuchtsorten blühen noch und verströmen einen Duft, der an den parfümierten Puder englischer Ladys erinnert. Und an die Zeit der weißen Rosen , denke ich bei mir. Bisher dachte ich, genug Distanz zu haben, aber je näher wir dem Haus kommen, desto mehr kriecht mir ein klebriges Unbehagen den Nacken hoch. Ich zucke zusammen, als eine Katze uns vor die Füße springt. Sie läuft vor uns her, bis das Navi uns in eine leere Gasse führt. Rechts ist sie von schmucklosen Wohnbauten gesäumt, linkerhand grenzt eine hohe Natursteinmauer ein Villengrundstück ab. Inzwischen schlägt mein Herz bis zum Hals. Doch erst nach einer Weile entdecke ich das Eckhaus, so verändert ist es. Zwar kauert es immer noch schmal und gedrängt im spitzen Winkel mehrerer Gassen, die sich dort kreuzen. Aber ohne das Navi wäre ich glatt daran vorbeigelaufen. Ich bin überrascht, wie nackt und heruntergekommen das Häuschen ist. Die Rosenstöcke, die früher bis zum ersten Stock rankten, sind längst abgeschnitten worden. Nur noch ein paar vertrocknete, dornige Reste krallen sich am rissigen Putz fest und neben der Eingangstür wuchern Disteln und Gestrüpp.
Max schaut mich ungläubig an, als ich vor dem Gebäude stehen bleibe und zum ersten Stock deute. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf, bläst die Backen auf und schaut zu den Fenstern hoch. Hinter staubigen, ungeputzten Scheiben erahnt man Gardinen aus vergilbter Spitze. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Augen zusammenkneife und nach der Silhouette der hageren Gestalt suche, die reglos hinter der Gardine steht, während die Zigarettenglut wie ein Glühwürmchen aufleuchtet. Aber es ist nur noch ein leeres, blindes Fenster ohne jegliche Schatten. Insgeheim atme ich auf. »Tja, das war’s«, wende ich mich an Max. »Keine Villa, wie du siehst. Jetzt lass uns ein Restaurant suchen. Ich bin am Verhungern.«
»Nur einen Moment noch. Ich will noch was nachschauen.« Max geht zum Ende der Gasse und verschwindet um die Hausecke. Zögernd folge ich ihm. Und ich kann nicht anders, als noch einmal zu dem Fenster hochzuschauen, als würden dort scharfe Augen jeden meiner Schritte verfolgen. Als ich um das Haus biege, rückt mein Bruder gerade eine Mülltonne aus Metall an die Mauer, die den Miniaturgarten an der Rückseite des Hauses knapp über Kopfhöhe vor Blicken schützt. Ich befürchte, dass dort immer noch der Liegestuhl steht, in dem Maurice sein Leben ausgehaucht hat.
»Du willst doch da nicht etwa hochsteigen, Max?«
»Klar doch! Von da oben kann man durchs Fenster schauen.« Damit ist er auch schon auf der Tonne und zieht sich die kleine Steinmauer hoch.
»Komm runter!«, zische ich.
Mir wird ganz anders, als er sich mit einem Bein zum Fensterbrett hinüberhangelt. Doch bevor er durch das Fenster spähen kann, gellt hinter mir ein empörter Ausruf.
»Hé! Que fais-tu là? « Es ist eine alte Frau, die sich aus einem Fenster des gegenüberliegenden Hauses lehnt. »Das ist Privatbesitz«, schimpft sie weiter. »Du hast da nichts verloren, Junge. Sofort runter da oder ich rufe die Polizei!«
Von dem zornigen französischen Wortschwall versteht Max vermutlich nur »Polizei«. Er hebt beschwichtigend die Hand und beeilt sich, herunterzuklettern.
»Alles in Ordnung, Madame«, rufe ich der Fensterfurie zu. »Niemand bricht ein. Wir sind Verwandte von Maurice Durand. Die Wohnung gehörte ihm.«
Die Frau mustert mich misstrauisch durch ihre Brille. »Was für Verwandte denn?«, herrscht sie mich an.
»Ich bin … seine Tochter.« Das Wort fühlt sich ebenso falsch an wie das »wir«, mit dem ich Max in den Familienkreis Durand befördert habe. Die Dame reißt die Augen auf und starrt mich an, als wäre ich eine Erscheinung. »Fleur?«, fragt sie dann ungläubig. »Sie sind Fleur Durand? Warten Sie, ich komme herunter.«
»Sollen wir abhauen?«, flüstert Max mir zu.
»Zu spät. Halte dich im Hintergrund und lass mich reden.«
Völlig außer Atem eilt die Dame auf die Gasse. »Ja, ist denn das die Möglichkeit!«, ruft sie aus. »Die kleine Fleur. Nie im Leben hätte ich Sie wiedererkannt.«
Meine Narben spannen unter dem Camouflage-Make-up, so unverhohlen starrt sie mir ins Gesicht.
»Müssten wir uns kennen, Madame?«, gebe ich höflich zurück.
Sie lacht und winkt ab. »Nein, Sie waren ja noch ein Kind. Ich bin Odile Schiltz. Wir sind uns nur einmal begegnet, als Sie vor vielen Jahren mit Ihrem Vater hier waren. Sie waren mit ihm in der Basilika, ein paar Tage nachdem Madame Durand gestorben war …« Ihr Lächeln erlischt. »Ach je, verzeihen Sie! Mein herzliches Beileid zu Ihrem neuerlichen Verlust!«
»Danke«, antworte ich knapp. Ich kann nur hoffen, dass Max von ihrem unglaublich schnellen Wortschwall nicht genug verstanden hat.
»Wie gut, dass sich jetzt endlich jemand um die Beerdigung des armen Maurice kümmert«, rattert sie weiter. »Und auch um die Wohnung. Das Dach gehört schon seit Jahren repariert. Wir haben ja versucht, mit Ihrem Vater zu reden, aber … nun, er hatte seinen eigenen Kopf, nicht wahr?« Sie lacht unbehaglich und leckt sich über die Lippen. »Wissen Sie denn schon, was Sie mit der Wohnung machen werden? Ich meine, denken Sie daran, sie zu verkaufen?«
Ich habe keine Lust, einer Fremden zu erklären, warum sie sich in Sachen Wohnungskauf ans Nachlassgericht und die Stadt wenden muss. »Das … ist noch nicht entschieden«, sage ich nur vage.
»Verstehe. Aber falls Sie über einen Verkauf nachdenken: Meinem Sohn gehört das Lager im Erdgeschoss. Es wäre ideal, wenn er für sich und seine Frau die Wohnung darüber hätte. Wir hatten schon mehrfach angefragt, da Ihr Vater sie über Jahre ohnehin nicht nutzte, aber er wollte nichts davon wissen.« Damit greift sie in die Tasche ihrer Weste und zaubert eine Visitenkarte hervor. »Rufen Sie uns an. Jederzeit, ja? Wir helfen auch gerne, wenn Sie etwas brauchen.«
Sie verliert wirklich keine Zeit. Ich versuche mich an einem neutralen Lächeln und stecke die Karte ein. »Danke, Madame Schiltz. Aber jetzt müssen wir weiter.«
»Warten Sie, Fleur!« Sie packt mich allen Ernstes am Arm und beugt sich so vertraulich vor, dass ihr Atem meine Wange streift. »Ich will niemandem etwas nachsagen«, raunt sie mir zu. »Aber Sie sollten wissen, dass diese Portugiesin, die für Ihren Vater den Einkauf erledigt hat, immer noch einen Schlüssel hat. Sie war gestern wieder in der Wohnung. Das hintere Fenster stand nämlich offen. Sie verstehen sicher, dass es meinem Sohn nicht recht ist, dass fremde Leute Zugang zu seinem Lager haben. Und da oben stehen ja noch die Sachen Ihres Vaters …«
Vielsagend hebt sie die Brauen. Ich sollte gehen, aber ihre Worte ticken mich an. »Hat diese Portugiesin auch einen Namen?«, frage ich nicht besonders freundlich. »Oder nur ein Vorstrafenregister als Diebin?«
»Ach du liebe Güte!«, entfährt es Madame Schiltz. »Sagen Sie nur, dass Sie sie gar nicht kennen? Sie heißt Maria Morais. Und natürlich unterstelle ich ihr nichts, aber Kindchen, man muss doch vorsichtig sein. Sie sollten den Schlüssel von ihr einfordern. Sie wohnt in der Rue André Duchscher, direkt beim Gotischen Haus, ich komme auch gerne mit und zeige Ihnen …«
»Nein, danke.« Damit entwinde ich mich ihrem Griff und winke Max, mir zu folgen. Wir sind wohl beide froh, als wir um die Ecke und damit außer Sichtweite sind.
»Was war das denn?«, bemerkt Max. »Warum war die so aufdringlich?«
»Sie wollte, dass ich der Haushaltshilfe von Maurice den Schlüssel abnehme.«
Max bleibt abrupt stehen. »Es gibt einen Schlüssel? Dann gehen wir hin und fragen die Frau, ob sie uns kurz reinlässt.«
»Auf keinen Fall.«
»Fleur, warte!« Er holt zu mir auf. »Das ist die Chance, ein paar Erinnerungsfotos zu machen.«
»Ich brauche keine Fotos von einer verwahrlosten Wohnung.«
»Aber vielleicht brauche ich sie ja!«, ruft Max verärgert, während ich meine Schritte beschleunige. »Fleur, verdammt, jetzt bleib doch mal stehen!«
Er überholt mich und verstellt mir den Weg. »Wenn es dich nicht interessiert, okay. Aber ich will sehen, wo deine Leute gewohnt haben.«
»Warum ist dir das so wichtig? Maurice hat doch alles längst zu Geld gemacht, was in der Bruchbude noch zu holen war. In den letzten zwanzig Jahren hat er die Räume sicher an Gelegenheitsmieter vertickt …«
»Du verstehst es immer noch nicht, oder?«, bricht es aus meinen Bruder heraus. »Weil wir Geschwister sind! Weil es deshalb auch meine Familie war …«
»Glaub mir, du kannst froh sein, dass du nichts mit den Durands zu tun hast.«
»Du tust es schon wieder«, ruft Max verärgert. »Du schließt mich aus, Fleur, merkst du das gar nicht? Kaum will ich etwas wissen, schlagt ihr mir die Türen vor der Nase zu – Moms, du und sogar Papa.«
Ich muss wohl ziemlich perplex dreinblicken, denn Max beißt sich auf die Unterlippe und sucht nach Worten. Vor einem Jahr noch konnte ich auf ihn herunterschauen, inzwischen ist er größer als ich. Doch der Ausdruck in seinen Augen erinnert an sein früheres Ich. »Ist doch so, Fleur!«, fährt er dann fort. »Und weißt du eigentlich, wie schräg das als Kind für mich war? Von mir gibt es Tausende Fotos, das ganze Wohnzimmer ist tapeziert mit Max Martin. Aber das einzige Kinderfoto von dir ist das von Moms und dir im Krankenhaus, am Tag deiner Geburt. Du hast mit mir nie über eure Zeit in Nancy gesprochen. Und wenn ich mich überhaupt mal getraut habe zu fragen, hast du abgewiegelt. Und Moms sowieso. Das war … wie ein Minenfeld, das keiner betreten durfte. Und es gab immer diese Trennungslinie bei uns. Moms und du auf der einen Seite. Und ich ganz allein auf der anderen.«
»Aber Max, das ist doch nicht wahr!«
»Erzähl du mir nicht, was für mich wahr ist!«
Ich erschrecke, wie bitterernst es ihm ist. »Das hier«, er deutet zurück zu dem Haus, »wäre endlich mal etwas, was nur uns beiden gehören würde.«
Es zieht mir das Herz zusammen, als ich endlich die Traurigkeit verstehe, die mir neulich schon an ihm aufgefallen ist. Mein kleiner Bruder treibt gerade im luftleeren Raum, losgelöst, haltlos und aller Sicherheiten beraubt. Und das hat nicht nur mit Merle und Tom zu tun. Auch jetzt sieht er mich ernst an, in seinem Blick dieser Hunger nach Zugehörigkeit. Und schmerzlicher denn je nehme ich all das wahr, was uns trennt.
*
Max holt sein Handy aus dem Hotel. Ich bin für den Schlüssel zuständig. Mir ist nicht wohl dabei, aber ich höre auf die sachliche Stimme in mir, die verdächtig nach Roland Martin klingt. Es sind doch nur vier Wände und ein Dach, Blume. Und schulde ich es Max nicht, ihm wenigstens diese eine Tür in mein früheres Leben zu öffnen? Außerdem, setze ich in Gedanken hinzu, ist so ein Realitätscheck keine so schlechte Möglichkeit, endgültig mit den Durands abzuschließen.
Die Sackgasse, in der Maria »die Portugiesin« wohnt, besteht im Grunde nur aus drei Gebäuden. Und direkt neben dem »Gotischen Haus« mit schmalen historischen Spitzbogenfenstern parkt ein roter Traktor vor einem Gehöft. Auf der Suche nach dem Namen Morais auf einem der Klingelschilder begegne ich einer jungen Frau, die gerade aus dem Nebenhaus kommt, in ihren Händen ein leerer Wäschekorb. Vielleicht hält sie mich für eine verirrte Touristin, die auf der Suche nach dem Gotischen Haus ist, jedenfalls wirkt sie genervt, als ich sie anspreche. Doch dann hellt sich ihre Miene auf. Es stellt sich heraus, dass sie Marias Tochter ist. Offenbar wartet die ganze Familie darauf, dass endlich jemand von Maurice’ Verwandtschaft auftaucht. Fünf Minuten später stehen wir in einer Küche, die Frau kramt in einer Schublade und übergibt mir schließlich einen Schlüssel, die neueste Post und einen zerknitterten Briefumschlag, auf den jemand »Rechnungen Durand« geschrieben hat.
»Das hat er alles nicht bezahlt«, erklärt die Tochter. »In den letzten Wochen hat er die Wohnung nicht mehr verlassen. Zuletzt machte er die Klingel aus und ging auch nicht mehr ans Telefon. Maman hat ihm die Einkaufstüten nur noch vor die Tür gestellt.« Sie streckt mir einen Zettel hin, auf dem sich Zahlen reihen. »Hundertdreiundzwanzig Euro. Sie können gerne nachrechnen.«
Tja, nun komme ich doch nicht drum herum, einen Teil von Maurice’ Schulden zu begleichen. Widerwillig zücke ich den Geldbeutel. »Ihre Mutter war gestern noch mal in der Wohnung?«, frage ich. Die Miene der jungen Frau verfinstert sich auf der Stelle. Sie verschränkt die Arme – genau wie mein Bruder, wenn Empörung in ihm aufsteigt. »Hat sich die Schiltz beschwert? Meine Mutter hat nur die Post geholt und gelüftet. Ist bei dem ganzen Muff immer noch dringend nötig.« Sie bekommt schmale Augen und mustert mich, als versuche sie, Maurice und mich in ein Bild einzupassen. Offenbar gelingt es ihr nicht. Kunststück, es gelingt mir ja selbst nicht .
Ich weiß nicht, warum meine Kehle plötzlich eng wird. Ich muss sie freiräuspern, um sprechen zu können. »Danke für Ihre Fürsorge«, sage ich leise zu der Frau. »Mein Vater konnte froh sein, dass Sie für ihn da waren. Richten Sie das bitte auch Ihrer Mutter aus.« Die Tochter schaut mich überrascht an, dann huscht ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht.