Max hat sich einen der frühesten Züge ausgesucht. Kurz vor sieben habe ich ihn in Trier am Bahnhof abgesetzt. Zurück im Hotel habe ich telefoniert und dabei meine Sachen hastig in die Tasche geworfen. Und seit Echternach hinter mir liegt, habe ich den Fuß kaum vom Gas genommen. Zwei Tage geschenkter Zeit liegen vor mir, undercover sozusagen. Bisher weiß nur mein Bruder, wohin ich unterwegs bin. Meine Mutter würde sagen, dass es sinnloser Wahnsinn ist. Und vielleicht ist es ja wirklich verrückt, wegen ein paar kryptischer Zeilen über siebenhundert Kilometer herunterzureißen. Ich rede mir ein, dass der einzige Grund dafür die Weigerung des Anwalts ist, ein Online-Meeting zu vereinbaren. Aber in Wirklichkeit bin ich mehr als froh, ein paar Stunden im Auto vor mir zu haben. Seit ich in das Kaninchenloch von Margots Geheimnissen gefallen bin, lässt mich der Gedanke an ihre Worte nicht mehr los. Jede Nacht sterbe ich von Neuem … Fürchte nicht die Wölfe, fürchte die Jäger. Bis halb drei Uhr nachts war ich in der Wohnung und habe vergeblich versucht, aus Fetzen und Scherben ein Bild zusammenzusetzen. Aber zu viele Teile fehlen – genau wie einige Seiten aus Margots Kladde, die jemand herausgerissen hat. Ihre verbliebenen Aufzeichnungen befinden sich nun in der Aktentasche auf meinem Rücksitz. Genau wie eine Kopie von Maurice’ Festplatte, deren Daten ich bisher nur nach Schlüsselwörtern und Namen im Zeitraum des laufenden Jahres durchsucht habe. Ja, es zahlt sich aus, sein Werkzeug immer dabeizuhaben.
Meine alte Heimat hat mich mit Nieselregen über Wiesen und weiten Ebenen empfangen. Untermalt vom Gesang der bretonischen Band auf Max’ CD röhrt der Lada monoton vor sich hin, Frankreich-Trance dank Tempolimit, unterbrochen nur von kurzen Stopps an Tankstellen. Mir war nicht bewusst, wie sehr mein Französisch inzwischen eingerostet ist. Beim Small Talk an den Kassen höre sogar ich selbst den hölzernen deutschen Akzent überdeutlich heraus. Dennoch tut es überraschend gut, mich von dieser Sprache umfließen zu lassen. Erinnerungen klingen darin – an Plaudereien meiner Mutter mit den Marktfrauen in Nancy. Und an den kleinen Nachbarsjungen, der aus unerfindlichen Gründen in mich vernarrt war, auf die Art, wie nur Sechsjährige sich für andere Kinder begeistern können.
Auf der Tourismusseite, die ich bei einem Kaffee in einer Raststätte aufrufe, scrolle ich rasch ein paar Eckdaten zu Le Puy-en-Velay durch. Die Stadt in der Auvergne, heißt es dort, wurde in einem Vulkankrater erbaut. Ihre Kathedrale ist eine der ältesten Marien-Wallfahrtstätten Europas und für Pilger aus aller Welt der Startpunkt des Jakob-Pilgerwegs, der über die Pyrenäen bis nach Santiago de Compostela führt. Aber Maurice war nicht dort, um seinen Glauben oder sich selbst zu finden.
Je weiter ich in den Südosten der Auvergne komme, desto wilder und bewaldeter wird die Gegend. Mauern aus kantigen Steinbrocken halten die Natur an den Landstraßen im Zaum. Noch spielt der Herbst seine Farben nicht aus, die Hügel nehmen unter dem diesigen Himmel ein verschleiertes Blassgrün an. Vor Blavozy verengt sich die Straße. Meterhoch ragt Fels an der Straße auf, gekrönt von Nadelbäumen, deren Wurzeln sich in einer dünnen Erdschicht festkrallen. Als ich endlich die letzte dieser bedrückenden Bergstraßen hinter mir habe, öffnet sich die Landschaft zum weiten Hochplateau von Vulkanebenen. Über bewaldeten Flächen und sanften Hügellinien liegt ein Weichzeichner von Regen und Nebel. In der Ferne nehmen die Silhouetten ein unwirkliches Blau an. Vor mir erheben sich die waldüberwachsenen stumpfen Kegel schlafender Vulkangipfel – die »Puys«, deren Kuppen schon vor Urzeiten von Eruptionen abgesprengt wurden. Unter den Wäldern, die auf der erstarrten Lava gewachsen sind, kocht sicher noch Magma. Man muss nur tief genug bohren, denke ich. Ich traue Vulkanen nicht und noch weniger dem Label »inaktiv«. Immer habe ich das Gefühl, die Naturgewalten lauerten nur darauf, allen wissenschaftlichen Vorhersagen zum Trotz jeden Moment loszubrechen.
Ich liege gut in der Zeit, doch auf den letzten Kilometern merke ich deutlich, dass ich über acht Stunden am Steuer hinter mir habe. Mein Nacken schmerzt, die Landstraße flimmert vor meinen Augen. Kaum verschwindet das Schild mit der Ausfahrt Le Puy-en-Velay im Rückspiegel, geht auch noch ein Starkregen nieder. Im prasselnden Grau erreiche ich die äußeren Stadtbezirke mit rechteckigen Trabanten-Bauten, die an weiße Parkhäuser erinnern. Durch kurvige Straßen leitet mich das Navi steil bergauf zu Wohngebieten, die hoch über dem Krater liegen. Dort parke ich den Lada an einer Mauer und hoffe, dass die Handbremse die Steigung meistern wird. Es dauert, bis der heftigste Schauer aufhört und ich endlich aussteigen kann. Die Aktenmappe und auch den Technik-Koffer mit dem teuren Equipment nehme ich mit. Und während ich mit noch steifen Knien die Straße überquere, reißt über der Stadt die Wolkendecke auf und milchiges Licht fließt über Basaltklippen und Häuser. Vor dunklen Regenwänden am Horizont leuchten die drei »Puys« der Stadt in unwirklich intensiven Farben auf. Auf dem größten Felsgipfel erhebt sich eine rotbraune Marienstatue mit dem Jesuskind auf dem rechten Arm. Klein wie eine Streichholzschachtel und ebenso zerbrechlich wirkt die Kapelle Saint-Michel, die sich auf der Spitze des zweiten hohen Nadelfelsens festkrallt. Der Kirchturm der Kathedrale, die auf dem Mont Anis hoch über der Altstadt thront, ist der dritte Gipfelpunkt. Dazwischen füllt ein Meer von roten Dächern das Tal und bricht sich in dem Saum von Grün, das am Marienfelsen hochbrandet. Max würde sofort eine Fotoserie für Instagram knipsen, Hashtag #ohnefilter. Das Licht flutet mich bis in den letzten Seelenwinkel und ganz von selbst schleicht sich ein Lächeln in mein Gesicht. So oft war ich zwischen Buchseiten in Frankreich – auf den Spuren von Le Petit Chaperon rouge , La Belle et la Bête und dem französischen Rumpelstilzchen Ricdin-Ricdon . Dabei hatte ich völlig vergessen, wie sehr dieses Land tatsächlich das Märchenreich meiner Kindheit ist. Hier blicke ich wieder auf das Frankreich der heldenhaften Ritter, der weisen Könige und der Prinzessinnen, die sich in weiße Katzen verwandeln können.
Der Fußweg zur Altstadt führt durch regennasse Serpentinensträßchen bergab. Obwohl es Oktober ist, sind einige Pilger in den Straßen unterwegs, die meisten davon ältere Herrschaften in Funktionskleidung, gestützt auf Wanderstöcke und schnaufend unter dem Gewicht prall bepackter Rucksäcke. In Gassen, die so eng sind, dass mir der Geruch ihrer regenfeuchten Kleidung und verschwitzter Haut in die Nase steigt, drängen sie sich an mir vorbei.
Für den Termin bei Dr. jur. Gustave Charlier bin ich zu früh dran. Dennoch gehe ich gleich zur Rue Raphael. Schon im Internet hatte ich gesehen, dass der Anwalt für Erbrecht keine moderne Kanzlei besitzt. Das Haus ist ein schmales Gebäude, das neben den Altstadthäusern mit ihren historischen Bogenfenstern und holzverschalten Fassaden eher schäbig wirkt. Es gibt nicht einmal ein Kanzleischild, aber der richtige Name steht an der Klingel. Beruhigt schlendere ich weiter zum zentralen Platz der Altstadt an der Rue des Tables. Eindeutig die Touristenmeile. Malerische Häuser und Souvenirläden scharen sich hier um einen runden Steinbrunnen. Mit ihren Fassaden in Pastellfarben von Rosa bis Gelb und Fensterläden in Türkis und Rot geben sie sogar diesem Regentag einen Hauch von Méditerranée. Der Hall von Stimmen und das Klacken von Absätzen auf Kopfsteinpflaster vermischt sich mit dem Plätschern des Brunnens zu einer hypnotisch beruhigenden Klangkulisse. Hinter dem Brunnen verengt sich der Platz zum Steilweg, der zur Freitreppe der Kathedrale auf die Spitze des Basaltbergs führt. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um den schattigen Bogen des Kircheneingangs zu betrachten, der die Besucher wie ein schwarzes Portal verschluckt. Der Tempel der Schwarzen Madonna , so wurde die Wallfahrtskirche im Internet betitelt. Kurz überlege ich, ob ich die Zeit für eine Pause in einer Brasserie gegen einen Besuch der Sehenswürdigkeit eintauschen soll, aber dann mache ich mich doch lieber auf die Suche nach Koffein. Auf dem Weg fällt mir eine Figur auf der hölzernen Veranda eines Ladens ins Auge. Die lebensgroße Puppe trägt eine historische Tracht mit Häubchen und Schürze und außerdem Sabots – die klobigen Holzschuhe, wie sie früher von Bauern getragen wurden. Es ist die Art von Tracht, die ich von der alten Rotkäppchen-Ausgabe kenne, die in Simons Wohnung Weinflecken abbekommen hat. Auf dem Schoß der Puppe liegt Werkzeug für die Herstellung von Spitze. Die hölzernen Klöppel hängen an weißen Fäden, die sich im fertigen Teil einer Borte zu einem Blumenmuster fügen. Im Schaufenster sind Sonnenschirme aufgespannt, die ganz mit durchbrochenen Spitzen bezogen sind, und außen auf dem breiten Fenstervorsprung liegen Schaukästen mit Mustern und Motiven aus, präsentiert auf rotem Stoff. Ich trete heran und studiere die filigranen Kunstwerke. Und zwischen Blütendekor, geklöppelten Bärchen und Schmetterlingen entdecke ich ein bekanntes Motiv: die Frau und das Raubtier, die den Spitzenuntersetzer auf Margots Heiligenregal zieren.
»Bonjour , kann ich helfen?« Die Verkäuferin ist vor den Laden getreten und lehnt mit verschränkten Armen an der Tür. Sie trägt eine ähnliche Trachtenbluse wie die Puppe – dunkelbraun, mit einem breiten Klöppelkragen.
»Ich habe nur das Motiv betrachtet«, antworte ich. »Meine Großmutter besaß einen Untersetzer mit diesem Bild. Es stellt eine Heilige dar, oder?«
»Nicht alles hier dreht sich nur um Heilige, Wunder und Wallfahrten«, antwortet die Verkäuferin amüsiert. »Das ist nur ein Hirtenmädchen und bei dem Tier handelt es sich um unsere berühmte Bestie. Von ihr haben Sie doch sicher schon im Reiseführer gelesen, oder?«
Auch wenn Sie mit mir Französisch spricht, hat mich mein Akzent wohl als Touristin verraten.
»Der Wolf, der im 18 . Jahrhundert gejagt wurde?«, antworte ich. »Ja, aber mit seiner Geschichte habe ich mich nicht näher beschäftigt.«
Sie lacht freundlich auf. »Na, er wird Ihnen hier noch auf Schritt und Tritt begegnen. Und ein gewöhnlicher Wolf war es nicht, sondern ein richtiges Monster. Ein Menschenfresser, der es auf Frauen und Kinder abgesehen hatte. Die Vorlage für das Klöppelmotiv ist eine historische Zeichnung, die auf Augenzeugenberichten gründet. Die Touristen nehmen es gerne als Souvenir mit. Wir haben es auch in kleinerem Format. Möchten Sie reinkommen und sich die Auswahl anschauen? Vielleicht als Ergänzung zu dem Deckchen Ihrer Großmutter?«
»Danke, Madame, die Dentelles sind sehr schön, aber sie passen nicht so ganz zu meiner Einrichtung.«
Ihr Blick schweift zu meinem Technikkoffer. »Ich verstehe«, sagt sie freundlich. »Sind Sie ein paar Tage in der Gegend? Das Wetter soll ja besser werden und im Laden haben wir auch einen guten Reiseführer mit Wandertouren zu den Orten, an denen die Bestie gewütet hat.« Ich muss wohl etwas zweifelnd dreinschauen, denn sie lacht und winkt ab. »Ich weiß, das klingt für manche Leute seltsam, aber wir leben in der Region nun mal auch vom Bestientourismus. Und auch wenn das Thema etwas makaber ist: Die Touren zu den Tatorten sind landschaftlich wunderschön.«
»Das glaube ich, Madame. Vielen Dank, aber fürs Wandern bleibt mir leider keine Zeit. Ich bin nur auf der Durchreise hier.«
»Dann kommen Sie einfach bald wieder!«, sagt sie leichthin. »Und schauen Sie gerne auf unserer Homepage vorbei.« Damit steckt sie mir eine Visitenkarte zu, zupft ihren Spitzenkragen zurecht und wendet sich dem nächsten Besucher zu.
*
Als ich in der Stadt ankam, war ich übermüdet und erschlagen von der Fahrt, doch zwei Kaffees später gehe ich voller Energie und hellwach zu meinem Termin. Bevor ich die Klingel drücken kann, surrt bereits der Türöffner. Im ersten Stock beugt sich ein hagerer grauhaariger Herr aus dem Fenster und gibt mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich eintreten soll. Wie eine Kanzlei wirkt es auch hinter der Fassade nicht, im Treppenhaus steht ein Kinderwagen und es riecht nach Putzmittel und feucht gewischtem altem Steinboden. Gustave Charlier erwartet mich an seiner Tür. Mit seinem grauen Rollkragenpullover unter einem Jackett und dem schütteren schulterlangen Haar könnte er als Figur aus einem französischen Arthouse-Film der Sechziger durchgehen. Ich schätze ihn auf siebzig, vielleicht sogar älter. Seine Brauen sind noch dunkel und sehr buschig und betonen seinen strengen, direkten Blick. »Sie sind Monsieur Durands Tochter?«, fragt er ohne Umschweife.
»Ja, wir hatten heute Morgen telefoniert. Danke, dass Sie den Termin so kurzfristig freigemacht haben …«
»Ja, ja«, murrt er. »Kommen Sie, ich habe nur eine Viertelstunde Zeit.«
Ich spare mir also den Begrüßungs-Small-Talk und folge ihm in einen Raum, der wie aus der Zeit gefallen wirkt. Anwaltsbüro anno 1910 . Poliertes Holz, dazu Ölbilder mit pastösen Vulkanlandschaften und eine Vintage-Sitzgruppe mit gelbem Seidenüberzug. Eine altertümliche Standuhr tickt überlaut vor sich hin. Auf dem zierlichen Beistelltisch liegen Akten und Papiere schon bereit. Monsieur Charlier bietet mir mit einer knappen Geste einen Platz auf dem Sofa an, setzt sich in den Sessel gegenüber und kommt wieder direkt zur Sache.
»Ich sagte Ihnen ja, dass ich Ihnen nur nach einer Identitätsprüfung Informationen geben darf. Dafür brauche ich Ihren Personalausweis und einen Nachweis.« Insgeheim hatte ich befürchtet, er könnte darauf bestehen, erst in Echternach nachzuprüfen, ob ich wirklich die Erbin bin, aber er vergleicht nur meinen Ausweis mit den Daten auf dem Bescheid vom Nachlassgericht und nickt. »Für meine Unterlagen benötige ich eine Kopie der Dokumente«, murmelt er und geht nach nebenan. Das Surren eines Kopierers wirkt seltsam in diesem aus der Zeit gefallenen Büro. Voller Unbehagen frage ich mich, ob mein leiblicher Vater genau an dieser Stelle saß und ebenfalls die Bücher im Regal betrachtete – jede Menge juristischer Fachliteratur. Aber ich entdecke auch Sachbücher über die Barockzeit und Biografien französischer Könige. Charlier kommt mit Ausweis, einer Datenschutzerklärung und Papieren zurück und reicht mir einen Kugelschreiber zum Unterschreiben. »Eine Rechnung für ein abschließendes Telefonat mit Monsieur Durand ist noch offen«, erklärt er. »Sie können mit Karte oder bar zahlen.« Deshalb also keine Online-Beratung , denke ich bei mir. Er will nicht noch einmal auf einer Rechnung sitzen bleiben. Und wahrscheinlich verdanke ich Maurice’ Schulden auch den kurzfristigen Termin. »Wegen des Todesfalls verzichte ich ausnahmsweise auf die Mahn- und Verzugsgebühren«, fügt der Anwalt hinzu. »Mein Beileid zu Ihrem Verlust.«
»Das … ist sehr freundlich, Monsieur Charlier.«
Er nickt nur knapp. »Und hier die Rechnung für die Beratung, die Sie jetzt in Anspruch nehmen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, sie ebenfalls jetzt gleich zu bezahlen?« Es ist nicht als Frage gemeint. Innerlich seufzend zücke ich meine Kreditkarte. Charlier lässt sich Zeit dabei, den Betrag im Nebenzimmer abzubuchen. Als Quittung bekomme ich den Ausdruck aus dem Kartenlesegerät angetackert an einen handschriftlich ausgefüllten Beleg. Dann hakt er den Posten auch noch in einem analog geführten Bilanzbuch ab. Es ist wohl kein Wunder, dass ich auf Maurice’ Festplatte keine Mails und Dateien von Gustave Charlier gefunden habe.
»Also.« Er lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander. »Sie wollen Einblick in die Rechtsberatung Ihres Vaters?«
»Ja, er hat mir kaum Informationen hinterlassen. Aber soweit ich verstanden habe, wollte er Ansprüche auf ein Stück Land in einer ehemaligen Grafschaft geltend machen?«
»Dafür hätte es erst einmal Beweise geben müssen«, gibt der Anwalt trocken zurück. »Nein. Ihr Vater war wegen eines Mannes aus Saugues bei mir. Dieser sollte angeblich ein Familienerbstück aus dem 18 . Jahrhundert haben. Monsieur Durand wollte ihn auf die Herausgabe des Erbstücks verklagen. Angeblich hätte der Mann es schon vor Jahrzehnten widerrechtlich in seinen Besitz gebracht.«
Ich bin sicher, er bemerkt, dass ich seinem gewählten Französisch nur angestrengt folgen kann, dennoch macht er nicht einmal den Versuch, mir in Geschwindigkeit und Wortwahl entgegenzukommen, im Gegenteil. Nun, wie sagt mein Vater, der ehemalige Cop, immer: Sprache kann immer ein Machtinstrument sein.
»Das heißt also im Klartext, dass dieser Mann aus Saugues ein Beweisstück gestohlen hat?«, hake ich nach.
Charlier runzelt tadelnd die Stirn. »Ob ein Diebstahl stattfand, kann nicht belegt werden.«
»Und um was für ein Erbstück ging es?«
»Der Beschreibung Ihres Vaters nach handelte es sich um ein sakrales Schmuckstück, ein Reliquiar, das an einer Kette getragen werden kann. Laut Monsieur Durand war seine Mutter vor Jahren in Saugues und bei dieser Gelegenheit sei das Erbstück entwendet worden, zusammen mit einem Dokument, das dessen Echtheit belegen sollte.«
Margot wurde also bestohlen? Jetzt bin ich wacher als vor dem Kaffee. »Das Dokument … war also so etwas wie ein Echtheitszertifikat?«
Charlier hebt die Hände, ein vornehmes Pendant zu einem Schulterzucken. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Madame.«
Kannst du nicht oder willst du nicht? Nur zu deutlich ist zu spüren, dass er keine große Lust hat, auch nur ein Wort zu viel an mich zu verschwenden.
»Über den Inhalt des Schriftstücks wusste Ihr Vater nichts«, setzt er fast gelangweilt hinzu. »Er hat es selbst nie gesehen. Aber es wäre auch irrelevant. Der angebliche Diebstahl wäre längst verjährt, zudem ist der Verdächtigte verstorben. Daher gab es für mich keine juristische Grundlage, Monsieur Durands Fall anzunehmen.«
»Und warum wollte er das Reliquiar einklagen? War es so wertvoll?«
Er lehnt sich zurück und mustert mich mit schmalen Augen. »Angeblich sollte es Ansprüche auf ein Stück Land in der Nähe von Ruynes-en-Margeride beweisen.«
Also sollte das der erste Schritt sein, um an das Land zu kommen , denke ich.
»Ihr Vater war allerdings kaum davon zu überzeugen, dass er weder mit noch ohne Beweisstück Anspruch auf das Grundstück hätte«, setzt der Anwalt hinzu. »Er war sich seiner Sache sehr sicher und hatte sich bereits über die Preise in der Region informiert. Offenbar rechnete er fest damit, das Land bald verkaufen zu können. Er war wohl ein Mann mit klaren Vorstellungen und … sehr eigenem Charakter, nicht wahr?«
Offenbar erwartet er ernsthaft ein privates Statement von mir. »Was macht Sie so sicher, dass es keinen Anspruch auf das Land gibt, wenn Sie das Dokument und das Reliquiar nie gesehen haben?«, erwidere ich stattdessen im selben kühlen Tonfall. In der Pause, die folgt, scheint die Uhr noch lauter zu ticken. »Ganz die Tochter des Vaters, scheint mir«, bemerkt Charlier schließlich. »Hartnäckigkeit liegt wohl in der Familie.« Mir steigt die Röte in die Wangen. Und auch sonst muss ich aufpassen, dass ich Ruhe bewahre. Denn langsam bringt seine Art mich innerlich zum Kochen. »Aber wenn Sie sich nun Chancen auf einen finanziellen Gewinn ausrechnen«, setzt Charlier hinzu, »muss ich Sie ebenso enttäuschen wie Ihren Vater. Hier gibt es weder Land noch einen Adelstitel zu erben.«
Okay, jetzt weiß ich, was mich an ihm antickt: die unterschwellige Verachtung, die in seinem ganzen Habitus mitschwingt. Ich ahne langsam, welches Bild er sich von der Familie Durand gemacht hat: Erst die Großmutter, die nach dem Land greift, dann der Sohn, dem es nur darum geht, an Geld zu kommen. Und hier sitzt nun seine bucklige Tochter aus Deutschland, die Raffgier in dritter Generation. Tja, da musst du durch, Gustave , denke ich. Schließlich habe ich deine Zeit im Voraus bezahlt.
»Warum keinen Adelstitel?«, frage ich. »Laut der Ahnenforschung meiner Großmutter stammt unsere Familie schließlich von der Linie eines gewissen Roux d’Apcher ab.«
»Roux Elzéar d’Apcher«, korrigiert mich Charlier streng. Diesmal glaube ich eine leichte Verärgerung zu spüren, vielleicht nur ein Flackern seiner Aura, wenn es so etwas gibt. Denn was das Pokerface angeht, schlägt Charlier mich um Längen. »Ja, Historikern aus der Region ist sein Name ein Begriff«, fährt er fort. »Wenn er auch in seinem Leben weder militärische Erfolge erzielte und geschichtlich nicht so relevant war wie sein Verwandter zweiten Grades, Jean-Joseph d’Apcher. Sie sind sicher im Bilde über dessen Leben und Verdienste?«
»Inwiefern spielt das für mein Anliegen eine Rolle?«
Charlier zeigt mir ein Lächeln, an dem man sich schneiden könnte. »Nun, wenn Sie sich als Erbin dieser Namenslinie betrachten, sollten Sie zumindest den bekanntesten Vertreter der Familie kennen, Madame Martin.«
»Bevor ich mich mit den Biografien anderer d’Apchers beschäftige, wüsste ich erst einmal gerne, was es mit meinem Vorfahren auf sich hat.« Das Wort kann ich mir nicht verkneifen, auch wenn ich selbst nicht daran glaube. Es ist interessant zu beobachten, wie die Lippen des Anwalts bei meinen Worten noch etwas schmaler werden. Doch wenn ich gehofft hatte, ihn mit dem Hinweis auf meinen Vorfahren aus der Reserve zu locken, habe ich mich getäuscht. Charlier ist nicht umsonst schon länger Anwalt, als ich auf der Welt bin. Er lächelt nur wieder sein schmales Lächeln. Dann erhebt er sich ohne Eile und zieht einen Aktenordner aus der Historienecke seines Buchregals. »Was auch immer Sie zu wissen glauben, Ihre Ahnenforschung irrt, Madame Martin. Ganz egal, was in dem verschwundenen Dokument stehen mag. Und selbst wenn das Reliquiar wieder auftauchen würde, hätte es keinerlei juristischen Wert.«
Damit reicht er mir ein Blatt aus dem Ordner. Es ist eine mit Powerpoint erstellte Übersicht eines Stammbaums. Das Wappen mit Axt, Turm und Wolfskopf erkenne ich. Und auch einen Namen, der mir sofort ins Auge springt. Margot hat ihren jüngeren Sohn tatsächlich nach einem d’Apcher benannt.
»Das ist die Seitenlinie des fraglichen Grafengeschlechts«, erklärt Charlier. »Roux Elzéar, geboren 1714 , heiratete Irène Catherine de Beauvau, geboren 1728 in Nantes, im Jahr 1745 . Es dauerte vier Jahre, bis der erste Sohn kam: Lucien Louis. Erst sechzehn Jahre später kam ein zweiter Sohn zur Welt: Joseph Etienne. Der Graf starb 1768 , die Gräfin im Jahr darauf. Der jüngere Sohn kam in die Obhut ihrer Verwandten in Nantes. Dort erlag er allerdings noch im Kindesalter einer Lungenerkrankung. Und damit … erlosch dieser Zweig der Familie.«
»Und … der Erstgeborene? Was wurde aus ihm?«
»Ihre Großmutter war offenbar der Meinung, er könnte ihr Ahne gewesen sein«, sagt Charlier mit kaum verhohlenem Spott. »Aber das ist nicht möglich.« Er blättert im Ordner und schiebt mir die Farbkopie eines historischen Dokuments hin. Ich habe nur die schlechte Schwarz-Weiß-Kopie davon in Maurice’ Unterlagen gefunden und mir keinen Reim darauf machen können. Nun erkenne ich dünne schwarze Buchstaben, mit Federkiel geschrieben auf vergilbtem Papier. Es ist eine Art Sterbeverzeichnis, vermutlich eine Seite aus einem Kirchenbuch, die analoge Datenbank des Barockzeitalters. Der Anwalt tippt auf den letzten Todesfall der Seite, der etwas gedrängt ganz unten steht. »Verstorben am Morgen des 23 . Mai 1757 , an hohem Fieber , das ihn über Wochen heimgesucht hatte «, liest er vor. »Dieser Eintrag aus dem Kirchenarchiv zeigt, dass Lucien d’Apcher nicht der Vorfahre ihrer Familie sein kann. Wie Sie sich ausrechnen können, starb er mit acht Jahren. Zeit seines Lebens war er so schwach und kränklich, dass er auf Anraten der Ärzte das Zimmer kaum verlassen durfte. Er konnte seine Mutter nicht einmal zu einer Wallfahrt in unsere Stadt begleiten, um den Fieberstein sein heilendes Werk tun zu lassen. Es ist belegt, dass die Gräfin oft hierherkam, um für weiteren Kindersegen zu beten. Eine Woche verbrachte sie im einfachen Pilgergewand auf Knien vor der Madonna und bat um Luciens Genesung. Aber wie der Eintrag zeigt, hat die Heilige Jungfrau sich seiner nicht erbarmt.« Er nimmt das Blatt wieder an sich und verstaut es mit spitzen Fingern im Ordner.
Treffer versenkt , denke ich verärgert. Und dafür zitierst du mich extra nach Frankreich? Dass Margot und Maurice falschlagen, hättest du mir auch am Telefon sagen können. Und noch etwas anderes stört mich. Ich sollte nicht so enttäuscht sein. Du wolltest doch Fakten, Fleur, hier hast du sie.
Charlier hat wieder Platz genommen und schweigt, die Fingerspitzen aneinandergelegt. Das wäre wohl der Moment aufzustehen und mich geschlagen zu geben. Aber irgendetwas lässt mir immer noch keine Ruhe.
»Würden Sie sich noch eine Zeichnung ansehen?«
Charlier beugt sich nur widerwillig vor, als ich ihm mein Smartphone mit dem Foto von Margots Skizze hinhalte. »Hat mein Vater dieses Erbstück beschrieben?«
Es ist sicher nicht leicht, Charlier zu überraschen, doch beim Blick auf den Kreuzanhänger zucken seine Brauen kurz in die Höhe. Und zum ersten Mal funkelt so etwas wie Interesse in seinem Blick auf. »Das ist bemerkenswert detailliert«, murmelt er. »Diese Art der Fertigung ist typisch für die fragliche Zeit. Vermutlich war die Axt im Wappen beweglich und diente als Verschluss für den Hohlraum hinter dem Turmsymbol. Darin trug man geweihte Gegenstände oder Knochenreliquien mit sich.«
»Dann könnte es also ein Original aus dem 18 . Jahrhundert sein?«
»Gut möglich«, sagt Charlier, ohne zu zögern. »Hätte man es vorliegen, könnte man vielleicht sogar überprüfen, ob es Irène d’Apcher gehörte. Sie stammt aus einer Familie, die einige Bischöfe und andere geistliche Oberhäupter hervorbrachte, und es ist bekannt, dass sie sehr gläubig war und Reliquien sammelte, für die sie solche Anhänger nach eigenen Vorgaben anfertigen ließ. Trotzdem wäre es kein Beweis für Ihr Anliegen. Nach der französischen Revolution war der Schmuck unserer Adelshäuser über das ganze heutige Europa verteilt – entweder geplündert, gestohlen oder auf der Flucht verkauft. In jedem Antiquitätenladen finden Sie solche ›Erbstücke‹.«
»Glauben Sie, dass jemand aus meiner Familie das Schmuckstück erworben hat?«
»Ich glaube nichts, was ich nicht sicher weiß, Madame Martin«, sagt Charlier nicht einmal unfreundlich. »Vielleicht hat Ihre Großmutter das Stück ja tatsächlich geerbt und glaubte an die Geschichte. Und möglicherweise ist in gewisser Hinsicht sogar etwas dran. Vielleicht haben Sie ja d’Apcher-Blut in den Adern. Nur wäre das juristisch irrelevant.«
»D’Apcher-Blut? Wie meinen Sie das?«
Charlier hebt vielsagend die Brauen. »Roux könnte einen Bastard gezeugt haben«, sagt er. »Viele Adelige hatten damals …«
»… illegitime Nachkommen? Das ist, soweit ich weiß, die korrekte Bezeichnung.«
Wieder blitzt Interesse in seinem Blick auf. »Sie stören sich an der historischen Bezeichnung?«
»Ich finde nur, kein Mensch sollte so genannt werden. Und schon gar nicht ein Kind.«
Natürlich entgeht ihm nicht, wie aufgebracht ich bin. Meine Wangen glühen, er dagegen erlaubt sich nur ein kurzes Seziermesser-Lächeln. »Nun, dann müsste ich für Sie wohl auch ein freundlicheres Wort für ›Wüstling‹ suchen, um Ihren vermeintlichen Vorfahren zu beschreiben. Roux Elzéar d’Apcher dürfte so einige … illegitime Nachfahren gezeugt haben.«
»Mehr als andere Adeligen seiner Zeit?«, kontere ich. »Und das macht ihn aus historischer Sicht zum Wüstling?«
Cem würde mich jetzt ziemlich komisch ansehen. Und ich kann selbst kaum glauben, dass ich allen Ernstes einen Grafen verteidige, der vermutlich seine Macht missbraucht hat, die er über Mägde und Kammerzofen hatte.
Aber ich lerne etwas über Gustave Charlier. So trocken und abweisend er als Jurist ist, er brennt offenbar für die historischen Fakten seines Landes. »Eine gute Frage«, sagt er ohne jede Ironie. »Sie haben völlig recht, für die Herren der damaligen Zeit galten natürlich andere moralische Maßstäbe als für den einfachen Kirchgänger aus dem Volk. Aber Roux galt sogar unter seinesgleichen als Barbar. Mit seinen Bauern redete er in der hiesigen Langue d’Oc , also Okzitanisch. Sie müssen sich vorstellen: In Versailles regierte der Nachfolger des Sonnenkönigs, aber hier war man sehr weit vom Hof und der beginnenden Aufklärung entfernt. Das Gévaudan, das damals noch im Groben gesprochen das Gebiet des heutigen Départements Lozère umfasste, galt als rückständig, wild und unzugänglich. Es gab nicht einmal Straßen. Die Waren mussten mit Maultieren über Trampelpfade und Bergserpentinen von Dorf zu Dorf gebracht werden.«
»Und Roux sprach die Sprache seiner Untergebenen?«
»Ja, die meisten Bauern verstanden kaum das Französisch ihrer Herren. Sie glaubten noch an die alten keltischen Gottheiten, wenn auch nur heimlich. Es hieß, Roux duldete auf seinem Land nicht nur heidnische Ernterituale, er nahm angeblich sogar daran teil. Was dazu führte, dass man ihn in den eigenen Kreisen hinter vorgehaltener Hand auch Le païen nannte.«
»Der Heide«, wiederhole ich leise. »Das dürfte der gläubigen Gräfin d’Apcher kaum gefallen haben.«
Diesmal ist das kurze Lächeln, das sein anerkennendes Nicken begleitet, echt. »Ihrer strenggläubigen Familie, die mit so vielen hochrangigen Geistlichen nicht nur in Nantes als christliches Leitlicht fungierte, passte es noch viel weniger«, ergänzt er. »In den Archiven finden sich Mahnbriefe ihrer Verwandten an ihn. Was nichts nützte. Dieser Adelige liebte nun mal ausschweifende Feste, den keltischen Gott Grannus und die Jagd mehr als die christliche Dreifaltigkeit und die Fastengebete. Und seine Jagdleidenschaft wurde ihm letztlich zum Verhängnis.«
Ich schlucke. Dabei gibt es keinen Grund, sich so unbehaglich zu fühlen. Schließlich war jeder Adelige damals ein Jäger , sage ich mir. »Wollen Sie damit sagen, er starb bei einem Jagdunfall?«
»An den Folgen eines Unfalls. Er hatte an den großen Treibjagden auf Wölfe teilgenommen, die in jenen Jahren veranstaltet wurden. Dabei stürzte er vom Pferd und verletzte sich so schwer, dass er die wenigen Jahre bis zu seinem Tod weder laufen noch reiten konnte und letztlich an den Spätfolgen der Verletzung starb.«
Ich schlucke. »Das heißt aber, er war vor seinem Tod an der Jagd nach dieser ›Bestie‹ beteiligt?«, frage ich vorsichtig.
Ich weiß nicht, ob Charlier überrascht ist, aber zumindest scheint er angetan zu sein, dass ich die Zeit der Wolfsangriffe richtig zugeordnet habe. »Interessieren Sie sich für die Bestienhistorie?«
»Ja«, lüge ich, ohne mit der Wimper zu zucken.
Zum ersten Mal lächelt Charlier freundlich. »Natürlich hat sich auch Roux an den Jagden beteiligt«, antwortet er freundlich. »Wie jeder Adelige der Region. Die Herren zogen alle aus, um den Wolf zur Strecke zu bringen.«
Ich zögere, aber dann gebe ich mir einen Ruck und zücke noch einmal das Handy. Wie schon heute Nacht, breitet sich beim Anblick der Gewehrzeichnung ein Frösteln in meinem Nacken aus. »Können Sie einschätzen, ob die Waffe aus der fraglichen Zeit stammt? Oder kennen Sie das Modell vielleicht aus historischen Aufzeichnungen? Gehörte … es vielleicht sogar Roux?«
Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein soll, dass Charlier diesmal nur ratlos den Kopf schüttelt. »Da bin ich überfragt, Madame. Soweit ich sehe, ist es ein altes Steinschlossgewehr, aber zu Details müssten Sie sich an einen Spezialisten wenden.« Er mustert mich mit einem ganz neuen Interesse. »Hat diese Skizze auch mit der Ahnenforschung Ihrer Familie zu tun?«
Wenn ich das wüsste . »Vermutlich ja. Ich will es herausfinden. Und … der Mann, der meiner Großmutter das Reliquiar gestohlen haben soll, lebte in Saugues, richtig? Können Sie mir seinen Namen sagen?«
»Wozu?«
»Ich fahre heute noch weiter nach Saugues. Und vielleicht hatte der Mann ja Verwandte, die das Originalschmuckstück damals gesehen haben …«
»Auf keinen Fall«, kommt es streng zurück. »Abgesehen davon, dass ich keine Namen herausgeben darf – ich dachte, ich hätte es deutlich genug erklärt: Der Fall wäre verjährt, es gibt keinen Beweis und somit keinen Grund, einen Verstorbenen vor seinen Hinterbliebenen übel zu verleumden. Und das Land kann Ihnen bewiesenermaßen gar nicht zustehen …«
»Das habe ich verstanden«, entfährt es mir so scharf, dass er die Stirn runzelt. »Es geht mir nicht um Land«, setze ich hitzig hinzu. »Und schon gar nicht um Geld oder das Reliquiar an sich.«
Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Normalerweise habe ich mich besser im Griff, aber in diesem Moment bin ich einfach zu aufgebracht. »Es ist eine rein persönliche Sache«, setze ich beherrschter hinzu. »Ich möchte nur verstehen, was es mit meiner Familie und … mit dieser Waffe auf sich hat.« Das ist mehr, als ich jemals preisgeben wollte.
Es ist erstaunlich, wie lang zehn Sekunden sein können, in denen man sich nur in die Augen starrt. Dann greift Charlier wortlos zu seinem Füller und notiert etwas auf einem Zettel, den er mir reicht. »Hier«, sagt er trocken. »Cyrille Richard kann Ihnen sicher Näheres zu der Waffe sagen. Berufen Sie sich gerne auf mich, wenn Sie ihn anrufen.«
»Danke!«, sage ich ehrlich überrascht. Noch irritierter bin ich, als ich die Adresse auf dem Zettel lese. »Ich soll mich an die Gesellschaft zur Erforschung des historischen Falls der Bestie des Gévaudan wenden?«
»Wohin sonst?«, gibt der Anwalt lakonisch zurück. »Dort versammeln sich die Fachleute der verschiedensten Professionen. Auch Historiker der Waffenkunde sind darunter.« Er klappt den Aktenordner zu und steht auf.
»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Fahrt nach Saugues, Madame Martin. Und viel Erfolg bei allem, was Sie zu finden hoffen.«
*
Ich fühle mich wie durchgewrungen, als ich auf die Straße trete, die Hand fest um den Zettel in meiner Jackentasche geschlossen. Der kalte Nieselregen sticht auf meiner erhitzten Stirn und meinen Wangen. Ich sollte mich beeilen, zum Auto zu kommen, aber stattdessen gehe ich erst einmal zurück zur Pilgertreppe. Mein beau-père , mein wahrer, schöner Vater Roland sagt immer, man soll sich in eine Kirche setzen, wenn die Welt zu groß wird. Der Gedanke an ihn tut gut. Kurz überlege ich, ihn anzurufen, aber der Regen wird wieder stärker und ich beeile mich, ins Trockene zu kommen. Der Pilgerweg führt direkt zur steilen Freitreppe der Kathedrale. Die hohen romanischen Rundbögen mit einem Muster aus dunklem und hellem Stein ragen weit über mir auf. Noch ist das Tor geöffnet, auch wenn die meisten Besucher mir schon ins Freie entgegenkommen. Durch das Tor trete ich ins Dunkel und ich finde mich im Inneren der Kathedrale an der nächsten steilen Treppe wieder. Die Stadt bleibt zurück, bald höre ich nur noch meine Schritte und den eigenen Atem. Die Treppe mündet mitten in den weitläufigen Altarraum. Der Duft von Weihrauch erinnert an Margot, und das ist nicht das einzige Déjà-vu. Zwischen hängenden ewigen Lichtern thront vor mir die Schwarze Madonna vor blaugoldenem Stoff. Die Figur ist natürlich größer als die Maria auf meinem Fensterbrett, die zweifellos eine Nachbildung dieser Wallfahrtsmadonna ist. Im Gegensatz zu meinem Exemplar ist das Jesuskind auf dem Schoß der Muttergottes beim Original nicht abgebrochen und verloren gegangen. Hier schaut sein dunkles Gesicht aus dem goldgewirkten Seidenumhang, der beide Figuren umhüllt. Es ist ein seltsames Gefühl, auf dem Boden zu stehen, auf dem schon Irène d’Apcher kniete und für ihren kranken Sohn betete. Inmitten der Gläubigen, die hier in sich versunken in Gedanken ihre Gebete sprechen, fühle ich mich wie eine Zeitreisende, die sich mit dem Jahrhundert, in das sie geraten ist, nicht besonders wohlfühlt.
In einer Seitenkapelle stoße ich auf die schwarze Steinplatte, die seit Jahrhunderten als wundertätiger Fieberstein verehrt wird. Dahinter steht die Skulptur einer Pietà. Doch es gibt auch ein flaches, sandgefülltes Becken, in dem man Opferkerzen anzünden kann. Familientraditionen können Halt geben und uns in die Gegenwart zurückholen, das merke ich nun stärker denn je. Denn als ich für die »Altvorderen« von Rolands Seite der Familie ein Gedenklicht entzünde, werde ich endlich ruhiger. Der zweite Anker ist das Handy, das ich aus der Tasche ziehe. Der Empfang ist zu schlecht, aber es beruhigt mich schon, diese Verbindung zu meiner Welt einfach mit der Hand zu umschließen. So geerdet versuche ich ganz logisch zusammenzusetzen, was es mit dem Chaos auf sich hat, das Maurice in der Kommode hinterlassen hat. Offenbar ist er zufällig auf Margots Mission gestoßen – vielleicht durch das Schreiben des Friedhofsamtes in Saugues, das den Ablauf der Frist für Luciens Grab anmahnte. Maurice hat sich also auf die Suche nach dem Vertrag für die Grabstelle gemacht und stieß dabei auch auf Margots Aufzeichnungen. Und sobald er von Charlier erfuhr, dass er umsonst auf Geld gehofft hatte, war er so enttäuscht, dass er aus Zorn alles weggeworfen oder weggesperrt hat, vermute ich. Das würde erklären, warum Dokumente zerrissen und zerknittert waren.
Hinter mir betritt jemand den Raum. Bei einem flüchtigen Blick über die Schulter nehme ich eine damenhaft schwarz gekleidete ältere Frau wahr, die sich zum Fieberstein beugt und ihn berührt. Meine Augen brennen, so lange habe ich ohne zu zwinkern in die Flammen der Opferkerzen gestarrt. Warum hatte Margot nicht herausgefunden, dass die Söhne des Grafenpaares schon als Kinder gestorben waren?, überlege ich. Der letzte Eintrag in ihrer Kladde stammt aus der Woche vor ihrem Tod und lässt keinen Zweifel daran, dass sie selbst da noch fest davon überzeugt war, dass der Adelsname ihr zustünde.
Mein beau-père erzählte mir auch, dass er im Lauf seines Berufslebens bei der Polizei schnell gelernt habe, seine Intuition niemals zu unterschätzen. »Dort, wo es keine Beweise gibt, ist es gut, diese Ahnungen nicht zu übergehen, Fleur«, höre ich ihn sagen. »Wir nehmen unterschwellig sehr viel mehr wahr, als wir bewusst einordnen können. Wenn du ein komisches Gefühl hast, zieh den Rahmen größer und betrachte das Ganze.«
Nur habe ich gar kein Bild im Rahmen, nur Scherben, die kein Ganzes ergeben. Margot und Irène, wiederhole ich wie ein Mantra. Zwei Söhne namens Lucien, zwei tief religiöse Mütter, zwei Schwarze Marien, eine mit, eine ohne Jesuskind. Und dazu die Wildnis, ein Wolf und ein Jäger, von dem offenbar schon meine Großmutter träumte. Irgendeine Verbindung gibt es . Aber welche?
Die Besucherin hat den Fieberstein verlassen und tritt neben mich. Sofort drücke ich das Handy an die Brust und schirme es mit beiden Händen ab, ein halbherziger Versuch, vor der gläubigen Dame zu verbergen, dass ich gar nicht hierhergehöre. Denn so fühle ich mich: als hätte ich mich hier nur eingeschlichen. Die Frau ist wohl keine Touristin, sie stellt ihre Einkaufstasche ab und nickt mir lächelnd zu. Ohne Hast entzündet sie eine Opferkerze und steckt sie zu den anderen in den Sand. Dann holt sie einen Rosenkranz hervor und schließt die Augen zum Gebet. So stehen wir da wie Spiegelbilder – nur dass sie Jesus an die Brust gedrückt hält und ich das Smartphone. Verschiedene Universen , denke ich. Und für einen bizarren Moment stelle ich mir vor, der Lauf der Zeit wäre aufgehoben. Die Schleier zwischen Epochen und Generationen werden durchsichtig und wir existieren alle im gleichen Moment: meine Großmutter und diese gläubige Dame. Die Gräfin Irène und ich, die Datenforensikerin, die nur an Fakten glauben will. Die Frauen und Mädchen, die Opfer eines Wolfs wurden. Und sogar mein früheres Ich ist hier, die Siebenjährige, die auf dem Holzschemel kniet und betet, damit das Untier nicht aus dem Schrank springt und sie auffrisst. Meine Kiefer pochen, so fest presse ich die Zähne zusammen. Nein, ich bin nicht übermüdet oder fiebrig. Es ist ein ganz anderes Feuer, das sich in mir entzündet. Und in diesem Moment beschließe ich, morgen Nachmittag nicht wieder nach Hause zu fahren.