In dieser Nacht bin ich nicht die Gejagte. Ich sitze im Hotelzimmer vor einem ovalen Märchenspiegel aus Silber und kämme mein Haar. Im Traum ist es so schwarz wie das von Margot und meine Haut so weiß wie die von Schneewittchen. Doch ich muss gar nicht erst fragen, ob ich die Schönste im ganzen Land bin. Ich bin es nicht, ich war es nie. Unbarmherzig klar zeichnet der Spiegel die Narben nach. Je länger ich mein Gesicht betrachte, desto blasser und unschärfer werde ich, so, als würde mein ganzes Sein vom Spiegel aufgesogen, bis ich schließlich verschwunden bin. Dort wo gerade noch mein Ebenbild war, ist nur noch das Zimmer sichtbar, die Seidenlampenschirme auf den Nachttischchen und die zart gezeichneten Blumen an den Wänden. Ein Kratzen ertönt, dann ein weiteres. Es hört sich an, als würden dornige Zweige an der Tapete entlangstreifen. Unter dem Teppich bricht knackend das Parkett. Obwohl ich unsichtbar bin, wage ich nicht zu atmen. Denn mit siedendem Schreck wird mir klar, dass das Untier aus Margots Schrank mich gar nicht sehen und hören muss. Es reicht, wenn es mich wittert. Und als hätte ich damit alles herbeigerufen, wovor ich mich verbergen will, heben sich dornige Brombeerranken in Bögen vom Boden, ziehen Fäden aus dem Teppich und reißen Streifen von der Tapete. Der Lack der Zivilisation löst sich in Fetzen von der Wirklichkeit, bis nur noch Wildnis bleibt. Aus dem Holz der Möbel sprießen Triebe und Zweige, winden sich zur Decke, drücken auch die Tür des Zimmers aus den Angeln. Dahinter gähnt Dunkelheit. Und darin alles, was ich fürchte.
Immerhin habe ich nicht geschrien. Jetzt sitze ich aufrecht im Bett, die Brust eng vom krampfhaften Atemholen, und bilde mir ein, dass grüne Augen mich anstarren. Aber da sind nur die LED -Lichter meiner Ladestationen und das Kratzen der Ranken kommt vom mechanischen Surren meines vibrierenden Handys.
»Meine Güte, Max! Was willst du so früh? Es ist noch nicht mal sieben Uhr.« Vom Rotwein klingt meine Stimme rau, aber mein Bruder bemerkt es wohl gar nicht.
»Sorry«, sprudelt er aufgeregt heraus. »Tom und ich sind schon wach und als ich im Bad war, habe ich gemerkt, dass ich gestern in der Hektik versehentlich deine Medikamente eingepackt habe.«
Wenn mein Kopf ein Rechner wäre, müsste ich ihn erst mal dringend ans Netz hängen. Der Ladestatus hängt noch bei dreißig Prozent. »Warte«, nuschle ich. »Ich schau mal nach.«
Meine Synapsen sind nicht begeistert vom Badezimmerlicht. Mit steifen Fingern räume ich den Kulturbeutel aus. Und finde tatsächlich nur ein Medikamentenröhrchen, das definitiv nicht meines ist. »Max? Ja, du hast meine Tabletten eingesteckt.«
»Fuck!«, rutscht es ihm heraus. »Na toll. Dann hast du jetzt das Aspirin, das ich in Spanien gekauft hatte. Tut mir leid. Kommst du klar? Findest du einen Arzt, der dir ein Notrezept ausstellt?«
»Du tust ja gerade so, als sei ich auf Methadon. Nein, ein paar Tage ohne Tabletten sind kein Drama.« Und schlimmer als jetzt kann es ja nicht werden , denke ich beim Blick in den Spiegel. Von Schneewittchen keine Spur mehr, ich schaue in das Gesicht von Pechmarie, die eine wirklich schlechte Nacht im Brunnen hatte. Als Max sich beruhigt hat und ich das Handy beiseitelegen kann, genehmige ich mir erst einmal zwei spanische Aspirin. »Was hat dich nur geritten, hierherzukommen, Marie?«, frage ich die Frau im Spiegel. Sie verzieht nur zweifelnd den Mund. Als ich das Zahnputzglas mit Wasser wegstelle, stoße ich aus Versehen auch noch das Make-up am Waschbeckenrand um. Beim fahrigen Versuch, es aufzufangen, haue ich mir die Hand an. »Verdammt!« Das Fläschchen zerbricht mit einem satten Geräusch. Hautfarbe der Tönung »Sand04 « kriecht über die Fliesen. In diesem Moment habe ich nur eine Antwort: Ich bin hier, weil ich das alles hier müde bin. Ich bin es müde, ein fahles Gespenst mit tiefen Ringen unter den Augen zu sein. Und müde, mir jeden Morgen die Albträume aus dem Gesicht zu waschen.
*
Was bei Nacht und Gewitter wirkte, als wäre ich in einem Horrorfilm gelandet, verwandelt sich an diesem sonnigen Morgen in ein Feelgood-Movie. An der Rezeption steht eine gut gelaunte blonde Frau in Blümchenbluse. Das Radio spielt sanfte Klassik und hinter den Flügeltüren neben der Rezeption versteckt sich eine Salonbibliothek à la Jane Austen mit Ohrensesseln und einem edlen Holztisch, an dem die Gäste wie an einer Tafel gemeinsam frühstücken. Ein älteres Ehepaar aus Paris trinkt gerade seinen Morgenkaffee. »Leihen Sie sich einen Stadtführer aus«, schlägt die Dame nach einem kurzen Begrüßungsplausch vor. »Die Gäste dürfen sich Bücher mitnehmen, sagen Sie nur Julie kurz Bescheid.« Julie ist die Rezeptionistin und wie sich herausstellt die Tochter des Hotelbesitzers. Die Gästebibliothek hat sie selbst für die Touristen eingerichtet. Es gibt eine Geschichtsabteilung, Kulinarisches, Bücher über den Pilgerweg und auch das Thema Bestie füllt ein Buchregal. Fachzeitschriften, Romane, Sachbücher – und unzählige Comics und Graphic Novels. La Bestia prangt als Titel über einem Monster mit weißen Zähnen. L’histoire vraie! steht auf einem anderen Cover – Die wahre Geschichte . »Die Comics haben früher meiner Tochter gehört«, erklärt mir Julie, während sie mir Kaffee einschenkt. »Als Jugendliche hat sie sie verschlungen. Wollen Sie heute wandern gehen?«
»Nein, ich muss zur Stadtverwaltung«, antworte ich. »Und außerdem zum Friedhof. Ist er weit von hier?«
Julie lacht auf, als hätte ich einen guten Witz gemacht. »Hier geht im Winter eine Eislaufpirouette als Stadtrundfahrt durch«, sagt sie mit liebevoller Ironie. »Zum Markt und dann immer bergauf, den Friedhof können Sie nicht verfehlen.«
Was sie so lustig fand, geht mir auf, als ich wenig später mit Laptop und Aktentasche aufbreche. Le Puy-en-Velay mit seiner Altstadt aus dunklem Lavastein kam mir mittelalterlich vor, aber Saugues schlägt dieses Prädikat noch um Längen. Auf den ersten Blick ist es nicht mehr als ein Dorf aus altertümlichen Steinhäuschen, die sich an einer steilen Bergstraße zusammenkauern. Meine Mutter würde sagen, es ist ein romantisches Örtchen. Grob behauene Natursteine fügen sich zu schmalen Gebäuden. Von den blauen und hellgrauen Holzläden hat die Witterung schon den Lack genagt, um sich nun an den sandigen Putz der Fensterumrahmungen zu machen. Schräges Morgenlicht zeichnet Fugen, Kanten und Bruchstellen mit harten Schatten nach.
In Saugues ist die Reisewelle wohl vorbei, zumindest entdecke ich keine Pilger und auch keine Leute, die Fotos machen. Das normale Leben geht seinen Gang – Leute mit gefüllten Einkaufstaschen kommen mir entgegen, Mütter mit Kinderwagen und auch eine Schulklasse. Jenseits der Hauptstraße gibt es Gehöfte, auf deren Grundstücken Traktoren neben Futtersilos parken. Hofhunde faulenzen hinter Maschendrahtzäunen und an den Straßen wuchert Unkraut aus den Ritzen. Ich hatte gelesen, dass Saugues das Zentrum der damaligen Jagden auf die Bestie war. Aber das hier ist Overkill, wie Max sagen würde. Wolfsfratzen geifern von Hausfassaden, sie schmücken Wände, Brunnen und auch die Schaufenster von Läden. An der Kante eines Hauses prangt die Steinskulptur eines Wolfskopfs mit langer Zunge und so menschlichen Zügen, dass man sogar eine Zornesfalte zwischen den großen Augen erkennt. Ein paar Häuser weiter entdecke ich auf einem Balkon das Relief eines Jägers an der Wand. Mit dem Gewehr zielt er auf ein aufrecht gehendes Wesen, das an einen Werwolf erinnert. Und als wäre das noch nicht genug, ziehen sich Spuren durch die Straßen: aufgemalte weiße Pfotenabdrücke, größer als meine Hand, mit langen Krallen. Die Menschen hier verschwenden keinen Blick darauf, bestimmt oute ich mich als Touristin, weil ich immer wieder stehen bleibe.
Bei einem Café werden Stühle vors Haus gestellt und mit Filzdecken bestückt. Ein Mann in meinem Alter tritt heraus und geht ein paar Meter vor mir her. Ich kann nicht anders, als ihn zu mustern, so sehr wirkt er wie jemand, der aus einem der guten Arrondissements von Paris direkt aufs Land gebeamt wurde. Der schmal geschnittene Mantel wirkt teuer und betont die durchtrainierte Linie seiner Schultern. Das schwarzbraune Haar des Mannes ist akkurat geschnitten und sein Gang so fest und zielstrebig, dass die Schritte in der Gasse wiederhallen. Eine alte Frau schaut aus einem Fenster und winkt ihm zu. »Tomé! «, ruft sie. »Ça va? «
Er bleibt stehen und wechselt ein paar Worte mit ihr in einer Sprache, die nur bruchstückhaft an Französisch erinnert und härter klingt. Fast habe ich ihn überholt, als er sich von der Frau verabschiedet und weitergeht. Wir laufen in dieselbe Richtung, vorbei am Tour des Anglais, dem historischen Wehrturm, der das Herzstück der Altstadt bildet. Für einen bizarren Moment wirkt es, als würde der Mann vor mir die weißen Spuren auf dem Boden hinterlassen. Dann bleibt er plötzlich stehen und dreht sich so abrupt zu mir um, dass auch ich unwillkürlich stoppe. Es gibt diese Männer, deren scharfe Züge sie auf eine herbe Art besonders attraktiv machen. Das glatte Haar fällt ihm schräg über die Stirn und seine Augen sind wach und scharf und von einem dunklen Blau.
»Verfolgen Sie mich?«, fragt er mit einem Stirnrunzeln.
»Was? Natürlich nicht!«
»Schade.« Er grinst. »Trotzdem einen schönen Tag.« Damit lässt er mich stehen und biegt mit federnden Schritten in die Seitenstraße ein, ohne sich noch einmal umzusehen. Erst bin ich verdattert, dann ärgere ich mich darüber, dass ich von diesem Pfau so leicht zu überrumpeln war. Aber noch viel mehr ärgert es mich, wie froh ich eben war, heute Morgen noch ein paar Tropfen Camouflage-Make-up von den Fliesen gerettet zu haben. Hastig streiche ich mir den verwehten Pony wieder über die Stirn und beeile mich, zum Friedhof zu kommen.
Je weiter es bergauf geht, desto urtümlicher und kleiner werden die Gebäude. Kräutertöpfe reihen sich hier auf schmalen Fenstersimsen. In einer Straße kommt mir eine Herde von milchkaffeebraunen Kühen mit sehr langen und spitzen Hörnern entgegen. Ein Bauer in einem staubigen Blaumann, Gummistiefeln und einer Schiebermütze treibt die Tiere vor sich her. Er lacht, weil ich mich in den Schutz eines Türstocks verkrieche. Der Geruch nach Kuhfell und Stall hängt noch in der Luft, als endlich das geschmiedete Friedhofstor auftaucht.
Im ersten Moment bin ich einfach nur überwältigt von der Aussicht. Der Friedhof liegt wie auf einer Terrasse weit über der Landschaft. Bis zum Horizont blickt man hier über flache Erhebungen und vereinzelte Wälder. Stumpfe Granitfelsen liegen wie verstreut an den Hängen rund um die Stadt. In der Ferne stehen ein paar struppige Tannen, sonst gibt es nur Buschwerk, Flechten, Stein und Trampelpfade. Sie erinnern mich daran, was der Anwalt Charlier über das Gévaudan des 18 . Jahrhunderts erzählte: keine gepflasterten Straßen, keine Kutschen, nur schwer bepackte Lasttiere, die ihren Weg durch das steinige Gelände suchen.
Dieser Friedhof sieht aus, als sei er seit Urzeiten Teil der Landschaft, als wären die Gräber ursprünglich einfach Granitfelsen gewesen, die von Wind und Wetter zu den sarkophagähnlichen Gebilden geschliffen worden waren, die sich nun ordentlich aneinanderreihen. Meine Schuhe sinken in nasses, weiches Gras, befestigte Wege gibt es hier nicht. Die Kreuze scheinen direkt in den Himmel zu ragen. Die meisten sind ebenfalls aus Stein; mit dem Ring, der ihr Zentrum einfasst, erinnern sie an die keltischen Kreuze Irlands. Andere sind aus schwarzem Metall geschmiedet, bloße Umrisse, durchbrochen und so filigran, dass sie die ziehenden Wolken umrahmen. Mitten in dieser Granitstadt der Toten erhebt sich eine winzige Kapelle aus Naturstein. An der Außenwand lehnen verwaiste Metallkreuze. Sicher stammen sie von Gräbern, die es längst nicht mehr gibt.
Es ist ein seltsames Gefühl, von Grab zu Grab zu gehen und nach einem Namen zu suchen. Nach meiner Familie. Der Gedanke lässt mein Herz schneller schlagen, als hätte ich Lampenfieber. Vielleicht gehe ich ja gerade auf Margots Spuren? Vielleicht ist sie an denselben Gräbern stehen geblieben wie ich und hat ebenfalls den Grabschmuck betrachtet. Hier legt man wohl keinen Wert auf schlichte Eleganz und frische Blumen. Die Grabplatten sind zugestellt mit Nippes und Vasen voller bunter Plastikrosen von Pink bis Himmelblau. Dazwischen sind Porzellan- und Steintafeln platziert, Keramikaufsteller mit Jägern und Jagdhunden, erlegten Enten und röhrenden Hirschen. Die Relieffiguren umrahmen die Grüße der Lebenden. In Goldschrift sind darauf die Namen von Vereinsmitgliedern verewigt, von Freunden und Verwandten. Sie lassen die Toten wissen, dass sie nicht vergessen sind.
Und dann finde ich Lucien – direkt an den moosbewachsenen Brocken, die eine Mauer bilden. Es ist ein unscheinbarer Grabplatz mit einem schlichten Metallkreuz. Auf einem kleinen Schild stehen Name und Lebensdaten. Das Grab ist verwildert, Gras wuchert und Distelgestrüpp lehnt sich an das schiefe Kreuz. Mein Versuch, das Kreuz aufzurichten, schlägt fehl. Ich zerkratze mir nur den Unterarm. Und obwohl ich keine Kirchgängerin bin, fühle ich mich ein wenig schuldig. Denn mir wird bewusst, dass ich mit leeren Händen dastehe und nicht einmal eine Rose habe, um sie meinem jung verstorbenen Onkel auf das Grab zu legen.
*
Der Warteraum in der Stadtverwaltung ist leer, dennoch dauert es fast eine Stunde, bis ich aufgerufen werde. Ich dachte, dass schon Gustave Charlier kein Fan von Small Talk ist, aber gegen die junge Beamtin mit dem Namensschildchen M. J. Saby ist der Anwalt ein Ausbund an Charme und Gesprächigkeit. Schweigend und mit kritisch gerunzelter Stirn hört sie sich mein Anliegen an und lässt sich eine gefühlte weitere Stunde Zeit, um meine Unterlagen zu sichten. Die ganze Zeit klackert sie dabei ungeduldig mit dem Kugelschreiber. Und mit jedem nervtötenden Klick-Klick scheint die Temperatur im Raum weiter abzusinken. »Sie wollen also Einsicht in die Unterlagen, mit denen Ihre Großmutter Erbansprüche geltend machen wollte?«, meint M. J. schließlich zweifelnd. »Das ist schon einige Jahrzehnte her.«
»Das stimmt, aber Sie können doch prüfen, ob das Archiv die Akten noch hat. Meine Verwandte hat damals ein Dokument vorgelegt, das ihre Ansprüche belegen sollte.«
Madame Saby schaut mich sehr scharf an und schüttelt den Kopf. »Ein Anwalt könnte vielleicht eine Recherche in den Archiven beantragen«, sagt sie knapp. »Aber dafür braucht es einen offiziellen Antrag mit einem juristischen Grund – und den sehe ich hier nicht.«
»Das Dokument wurde ihr gestohlen, aber vielleicht gibt es ja eine Kopie davon im Archiv.«
»Für Diebstähle ist die Polizei zuständig.«
Ruhig bleiben, Fleur . Es ist nie eine gute Idee, auf einer Behörde schlechte Laune zu bekommen.
»Das ist mir klar, Madame Saby«, erwidere ich. »Ich bitte Sie doch nur, nachzusehen, ob eine Kopie hinterlegt wurde.«
M. J. hört endlich mit dem passiv-aggressiven Kugelschreiber-Klicken auf, legt den Stift zur Seite und klickt am Computer weiter. Der Drucker fängt an zu surren. Doch ich habe mich zu früh gefreut. »Wie schon gesagt, wenden Sie sich an einen Anwalt«, sagt sie und pflückt das Dokument aus dem Drucker. »Aber da Sie schon hier sind, Madame Martin: Die Liegezeit für das Grab läuft demnächst ab.« Sie legt mir den Ausdruck hin und macht mit dem Kugelschreiber ein schwungvolles, schiefes Kreuz neben das Unterschriftenfeld. »Hier bitte einmal unterschreiben. Damit bestätigen Sie, dass Sie die Kosten für die Auflösung des Grabs übernehmen. Wir brauchen außerdem Ihre Kontoverbindung. Die Gebühr für die fachgerechte Entsorgung des Kreuzes beträgt zweihundertelf Euro.«
Was im Klartext bedeutet, dass jemand das Kreuz einfach vier Meter weiter zu den anderen Restexemplaren zur Kapelle schleift und es dort an die Mauer lehnt, denke ich grimmig.
»Wie kommen Sie darauf, dass ich das Grab auflösen will?«, höre ich mich fragen.
»Dann wollen Sie die Liegezeit also verlängern?«, fragt sie kühl. »In diesem Fall bräuchte ich dann aber den Erbnachweis und die schriftliche Bestätigung, dass Sie den Vertrag Ihrer Großmutter für das Grab übernehmen.« Sie holt ein weiteres Formular und schiebt es über den Tresen.
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Die Pause dehnt sich. M. J. schaut demonstrativ auf ihre Armbanduhr und atmet hörbar aus. Ich sollte das Vernünftige tun und das Grab, an dem niemand weint und das keiner jemals wieder besuchen wird, sofort kündigen. Aber irgendetwas in mir sträubt sich dagegen, auf diese Art über Luciens endgültiges Verschwinden zu entscheiden. »Ich werde in Ruhe darüber nachdenken, Madame«, antworte ich und packe die Formulare ein.