Ich bin immer noch aufgebracht, als ich zu dem Treffpunkt mit Gustave Charliers Kontaktmann in Sachen historischer Waffenkunde gehe. Am Morgen hatte ich ihn angerufen. Der Dschungelfunk zwischen Le Puy-en-Velay und Saugues funktioniert offenbar gut. Sobald ich Charlier erwähnte, hatte ich eine Einladung.
Der Weg führt an der aufgemalten Wolfsspur entlang in die Altstadt und endet direkt an einer Haustür am vereinbarten Treffpunkt. Ich befinde mich in einer grauen Gasse am historischen Wehrturm und dem Musée fantastique de la Bête du Gévaudan. Genau wie der Wehrturm, der die Gasse überschattet, hätte auch dieses gedrungene Museumshäuschen einem Ansturm von feindlichen Truppen mühelos getrotzt. Die wuchtigen Steinblöcke, die den Türstock säumen, sind größer als die Holztür selbst. Alle Fenster sind blickdicht verrammelt; ein Schild neben dem Eingang verkündet, dass das Museum nur bis Ende September geöffnet hat. Doch auf mein Klopfen hin öffnet sich die Festung und ein alter Mann in Flanellhemd und Arbeitshosen erscheint in der Tür, in der Hand einen Gummihammer. Langsam sollte mich wohl nichts mehr wundern. »Ah, da sind Sie ja!« Ehrlich erfreut streckt er mir die Hand hin. »Ich bin Cyrille Richard. Kommen Sie rein, Madame. Camille hat schon Kaffee gekocht.«
Camille ist eine rundliche Dame, die seelenruhig die Trennwand an der Ticket-Theke putzt. Zur Begrüßung schwenkt sie nur kurz den Glasreiniger. Monsieur Richard führt mich zur Shop-Ecke, in der Postkarten, Bestien-Schlüsselanhänger und sogar Bestien-Briefpapier ausliegen, und holt zwei Hocker. Der Kaffee, den er mir einschenkt, ist aromatisch und stark und lässt mich sogar M. J. fürs Erste vergessen.
»Sie wollen also etwas über ein historisches Gewehr wissen«, beginnt mein Gastgeber.
»Ja, meine Großmutter hat es irgendwo abgezeichnet – vielleicht aus einem Museumskatalog. Aber im Internet konnte ich nichts über das Original finden.«
»Internet!« Richard schnaubt mit deutlicher Verachtung. »Die richtigen Informationen findet man nur in der richtigen Welt. Zeigen Sie die Zeichnung mal her.«
Ich reiche ihm mein Handy mit dem Foto und er zückt seine Lesebrille, kneift die Augen zusammen und verwandelt sich in einen Fuchs mit scharfem Blick. »Auf jeden Fall ist es ein Steinschlossgewehr, wie es im 18 . Jahrhundert typischerweise verwendet wurde«, murmelt er. »Aber diesen Intarsienschmuck habe ich noch nie in dieser Form gesehen. Es hat ziemlich sicher keinem einfachen Jäger oder Soldaten gehört. Dafür war die Verarbeitung zu teuer. Das Motiv – die königliche Lilie – deutet eher auf das Gewehr eines Adeligen hin. Man könnte recherchieren, wer den Intarsienschmuck angefertigt hat.« Er gibt mir das Handy zurück. »Dafür fahren Sie am besten nach Mende zu einem Freund von mir, der Fachmann für die Emblematik des Barockzeitalters ist und …«
»Warum machst du es so kompliziert?«, meldet sich Camille von der Theke. »Wieso soll sie denn gleich nach Mende fahren, wenn sie auch erst mal Antoine fragen kann?« Bei dem Namen verfinstert sich Monsieur Richards Miene. »Ach, schau nicht so grimmig, Cyrille«, sagt die Frau und wendet sich an mich. »Auch wenn mein Mann ihn nicht leiden kann, Antoine kennt sich mit alten Waffen aus und hat sogar eine eigene Sammlung. Und außerdem führt er ein Archiv zu den damaligen Treibjagden auf die Bestie. Er ist selbst Jäger, wissen Sie?«
Sie strahlt mich an, als müsste ich über diese Nachricht jubeln. Sie nimmt eine Postkarte und einen Kugelschreiber aus dem Verkaufsständer und kommt zu uns herüber. Dann schreibt sie den Namen Antoine Oulier und eine Festnetznummer darauf. »Er ist zwar immer sehr beschäftigt«, fügt sie hinzu. »Aber bestimmt nimmt er sich die Zeit, sich Ihre Zeichnung zumindest mal anzusehen.«
»Ja, der Herr ist viel beschäftigt«, murrt ihr Mann. »Das Einzige, womit sich dein Antoine auskennt, ist Schießpulver. Von allem anderen hat er keine Ahnung und das weißt du genau!«
»Jedenfalls kann mein Antoine ihr sicher weiterhelfen«, kontert Camille ungerührt. Sie wendet sich mir zu und rollt mit den Augen. »Die beiden Streithähne beharken sich seit Jahren«, erklärt sie. »Im selben Verein, aber an verschiedenen Fronten. Hier!« Sie drückt mir die Postkarte in die Hand. »Lassen Sie sich nur nicht einschüchtern. Antoine kann anfangs etwas abweisend wirken, aber im Grunde ist er ganz in Ordnung, egal, was Cyrille von ihm hält. Man kann durchaus mit ihm reden.«
Dieser Seitenhieb ist an ihren Mann gerichtet. Monsieur Richard schnaubt nur abfällig, aber wirklich gekränkt über die Worte seiner Frau scheint er nicht zu sein. Die beiden sind wohl in jeder Hinsicht ein eingespieltes Team.
»Danke für Ihre Zeit und Mühe«, sage ich. »Und auch für Ihren köstlichen Kaffee, Camille.«
»Y a pas de quoi , ma chère!« Sie lächelt und geht zur Theke zurück – nicht, ohne ihrem Mann im Gehen beiläufig liebevoll über die Schulter zu streichen.
Monsieur Richard wirft einen Blick auf die Uhr über dem Tresen und steht auf. »Na dann viel Erfolg«, sagt er mürrisch. »Melden Sie sich, wenn Sie nicht weiterkommen. Und jetzt wollen Sie sicher noch unser Museum besuchen. Sie haben Glück. Es hat sich eine Reisegruppe aus Lyon angemeldet, der Sie sich anschließen können. Und wenn Sie mehr über unseren Wolf wissen wollen: Ich beschäftige mich seit über dreißig Jahren mit diesem Fall und habe mehrere Bücher darüber verfasst. Das hier ist das neueste.« Er angelt ein Taschenbuch von einem der Regale. Und weil ich weiß, was sich gehört, erwerbe ich nicht nur eine Eintrittskarte, sondern auch Richards neuestes Werk mit dem Titel: Der Wolf, der eine Armee verschlang – Neue Beweise zu den Angriffen im historischen Gévaudan.
Monsieur Richard signiert sein Buch mit dem Stolz des Wissenschaftlers und legt das Museumsticket als Lesezeichen hinein. Inzwischen ist auch die Reisegruppe eingetrudelt und kauft bei Camille Tickets. Es sind zwei Elternpaare mit ihren Kindern, ein Mädchen und zwei Jungs, alle drei im Teenageralter. Das Mädchen gähnt, die Jungs checken noch schnell ihre Handys, während Camille uns einweist. »Es ist ein Rundgang durch das Haus. Folgen Sie den einzelnen Tableaus . Dort, wo das Licht auf der Bühne angeht, da geht es weiter. Viel Spaß!«
Kurz darauf stehen wir in einem abgedunkelten Raum mit niedrigen Decken. Als Camille die Tür hinter uns zumacht, umgibt uns Finsternis. Ein Tonband schaltet sich ein. Die tiefe Stimme eines Sprechers begrüßt uns zu einer Reise voller Gefahren und Geheimnisse. »Das ist ja wie in einer Geisterbahn«, flüstert einer der Väter hinter mir. Seine Tochter kichert. Und eine der Frauen zischt: »Steck endlich das Handy weg, Léon!«
»… Entrez dans le rêve et l’irréel« , schließt der Sprecher mit unheilvollem Unterton. Betreten Sie nun das Reich des Traums und des Irrationalen. Mit einem Klicken geht in einer Ecke eine Beleuchtung an und illuminiert das erste Tableau auf einer kleinen Bühne. Lebensgroße Figuren in historischer Kleidung sind darauf zu einer Szene arrangiert. Die gemalten Landschaften im Hintergrund erstrahlen in intensiven Farben, wir blicken auf purpurnen Himmel und blaue Waldschatten. Geräusche und Dialoge werden eingeblendet. Die Szenen spielen auf Weiden, Wirtshäusern, Dorfplätzen. Bei den ersten Tableaus flüstern und lachen die Teenager noch, aber bald schon werden sie still und sind gebannt von dem Schauertheater. Die Puppen haben ernste, wettergegerbte Gesichter und komplett schwarze Augen, ohne Iris und auch kein Weiß darin. Ich finde sie unheimlich, sie wirken weder tot noch lebendig. Wiedergänger, die auf ewig dazu verdammt sind, ihre Geschichten zu widerholen. Sobald das Licht über einer Szene erlischt, stehen wir im Dunkeln, bis uns in einer anderen Ecke eine neue Beleuchtung weiterlockt.
Verstohlen betrachte ich die Mienen der Teenager, als ein weiteres Todesopfer auf grellgrünem Kunstgras präsentiert wird. Der Oberkörper der Puppe ist hinter einem Kunstfelsen verborgen und an Rock und Schürze klebt rote Farbe. Wir hören, dass es sich um eine junge Hirtin handelt. Ich bin froh, dass der Künstler sie halb vor unseren Blicken verborgen hat und ihr damit ein Stück Würde gelassen hat. Ich bin froh, dass niemand lacht, niemand kommentiert, niemand mit dem Handy Fotos macht. Die Hirtin war nicht älter als das Mädchen, das neben mir steht. Und vielleicht denkt das Mädchen aus Lyon etwas Ähnliches, denn sie tritt näher zu ihrer Mutter und hakt sich bei ihr unter, als würde sie bei ihr Sicherheit suchen.
Dunkelheit fällt über die Szenerie und wir folgen dem nächsten Licht, hören Bauern über Treibjagden reden und sehen einen königlichen Jäger aus Versailles, den Ludwig XV . ins Gévaudan schickte. Er wurde Monsieur Antoine genannt – der Name des Jägers, dessen Telefonnummer in meiner Tasche steckt. Fragt sich nur, ob das ein gutes oder ein schlechtes Omen ist.
Das nächste Tableau zeigt ein Kloster in Saint-Julien-des-Chazes . Eine schwarzäugige Ordensfrau betrachtet zusammen mit dem Jäger Monsieur Antoine einen Wolf, der erlegt und gefesselt zu ihren Füßen liegt. Der »Wolf von Chazes« wurde ausgestopft und am Hof von Versailles offiziell als Bestie präsentiert. »Doch das Ende war das nicht«, tönt es aus dem Lautsprecher. »Nachdem der königliche Jäger abgereist war, begannen die Angriffe von Neuem.«
Immer düsterer wird das Märchen, das wir auf knarrenden Dielen durchwandern. Von den Berichten aus dem Internet weiß ich, dass die Landbevölkerung nun völlig auf sich gestellt war. Vor Angst wagte sich kaum noch jemand auf die Felder. Das letzte Tableau zeigt schließlich einen einfachen Mann aus dem Volk namens Jean Chastel. Unter einem Sternenhimmel schießt er mit dem Gewehr auf ein Monster mit wallender Mähne. Die Bestie sieht aus wie einem Fantasyfilm entsprungen, mit spitzer Schnauze und dolchartigen gefletschten Zähnen. Passend dazu erklärt der Sprecher, dass diese wahre Bestie mit einer Silberkugel erschossen wurde. »Dann war es ja doch ein Werwolf«, höre ich nun einen der Jungs flüstern. »Cool.« Das Mädchen lacht leise auf und ihr Vater sagt: »Ich wusste gar nicht, dass es damals zwei Wölfe gab, die als Bestie galten.« Ich muss den Blick abwenden, so sehr fröstle ich. Nicht wegen des Monsters, sondern wegen des Jägers, der mich an meine Nächte erinnert. Nur, dass im Traum stets ich das Tier bin, auf das sich seine Waffe richtet.
*
Draußen ist ein kurzer Regenschauer vorbeigezogen. In der Herbstsonne glänzt die nasse Straße wie ein Kupferspiegel. Ein aufgemotztes Motorrad röhrt bergauf. In der reingewaschenen Luft klingt der Motorlärm lange nach. Aus einer Seitengasse nähert sich Hufgeklapper. Ein Mann in Trekkingkleidung taucht auf, am Zügel führt er zwei Maultiere, auf deren Rücken Outdoor-Taschen und zusammengerollte Schlafsäcke geschnallt sind. Der Guide telefoniert im Gehen, während die Tiere mit wippenden Ohren brav hinter ihm hertrotten. Irgendwie beruhigt mich dieser Anblick und holt mich endgültig ins Tageslicht zurück. Ich schaue den Tieren nach, bis sie hinter der nächsten Straßenbiegung verschwinden und nur noch ihren Hufschlag zurücklassen. Dann suche ich mir ein Café.
Was meine Mutter an Frankreich immer besonders liebte, sind die kleinen Kaschemmen, die mittags völlig überfüllt sind und sich je nach Tageszeit in Bar, Café oder Kantine verwandeln. In Saugues scheint das Le Petit Chez Soi das Herzstück des Städtchens zu sein. Alle Mittags-Stammtische sind belegt. Es ist ganz offensichtlich, dass die meisten Leute hier einander kennen. Für sie bin ich nur die verschwommene Figur am Rand des Sichtfelds, die sich an den letzten freien Einzel-Katzentisch neben dem Zigarettenautomaten setzt. Männer mit Schiebermützen lehnen lässig an der Theke. Vielleicht sind es Landwirte aus der Gegend, die sich einen Plausch gönnen. Ich kann nicht anders, als ihnen verstohlen zu lauschen. Sie unterhalten sich in dem Dialekt, von dem ich kaum ein Wort verstehe. Die junge Bedienung scherzt in derselben Sprache mit ihnen. Sie hat ein raues, herausforderndes Lachen und eine Ausstrahlung, die den Raum mit resoluter Energie füllt. Fisch im Wasser , denke ich bei mir. Ich dagegen bin Strandgut und froh darum, dass niemand sich nach mir umschaut, als ich Bücher und Unterlagen hervorhole. Die Bedienung stellt mir mein belegtes Baguettebrötchen und ein Glas Rotwein hin und eilt zurück hinter die Theke, ohne mich wirklich wahrzunehmen. Es tut gut, in diese Unsichtbarkeit zu sinken. Richards Buch blättere ich nur flüchtig durch. Es ist eine Beweisführung, dass die Bestie ein Wolf gewesen sein muss – beziehungsweise ein Rudel Wölfe, das herausgefunden hatte, dass unbewaffnete Menschen leichte Beute sind. Danke, das reicht , denke ich bei mir und versenke das Buch in meiner Aktentasche. Im Moment habe ich gründlich genug von Raubtieren und Jägern aller Art.
Während der Museumstour war mein Handy ausgeschaltet, nun finde ich Max auf der Anrufliste.
»Hi Große«, meldet er sich sofort. »Wo bist du?«
»In einem Café – so wie du offenbar auch.«
Sein Lachen vermischt sich mit dem Fauchen eines Milchschäumers. »Du legst die Miss Marple wohl nie ab. Wie läuft es? Hast du schon was rausgefunden?«
Ich schiele zum Antragsformular für die Auflösung des Grabes. Und sofort glost in mir wieder der Zorn auf und all der Widerwille, Lucien verschwinden zu lassen, als hätte es ihn nie gegeben. »Bei mir nichts Neues, Max. Bis jetzt renne ich nur von A nach B.«
»Das heißt, du hast das Grab nicht gefunden?«
»Doch, am Grab war ich.«
»Und das nennst du nichts Neues ?«, ruft Max aus. »Warum hast du mir kein Foto geschickt?«
Prima. Jetzt bin ich auch noch wütend auf mich selbst. Dafür, dass ich Lucien ohne nachzudenken ebenso totschweige wie meine Herkunftsfamilie. Vielleicht bin ich ja doch mehr die Tochter meines leiblichen Vaters, als ich ertragen kann. »Erzähl schon«, drängt Max. »Hast du rausgefunden, warum Margot ihren Sohn ausgerechnet in Saugues beerdigt hat?«
Es ist komisch, dass es mich immer noch Überwindung kostet, Max wirklich in mein Leben zu lassen. Aber mit jedem Satz fühlt es sich richtiger an. Nur ganz am Rand nehme ich ein Begrüßungshallo am Tresen wahr. Die Landwirtfraktion schart sich um einen neuen Gast. Ich kann ihn nicht sehen, aber es gibt diese Menschen, die einen Raum verwandeln, sobald sie ihn betreten. Die Luft scheint dichter zu werden, die Stimmung besser. Die Bedienung strahlt und angelt sofort ein Weinglas aus dem Regal. Und als ich den Gast schließlich erspähe, erkenne ich den Mann im eleganten Mantel, dem ich auf dem Weg zum Friedhof begegnet bin. Kurz bleibt sein Blick an mir hängen, dann wendet er sich ab und taucht wieder in seiner Gruppe unter.
»Das ist ja Wahnsinn«, höre ich Max atemlos sagen. »Das heißt, wenn du das Reliquiar findest, das Margot gestohlen wurde, springt für dich vielleicht doch ein Märchenschloss raus?«
»Nein, keine Chance, Max.«
»Aber das Stück Land schaust du dir doch an und machst für mich Fotos davon, ja?«, beharrt Max. »Und wenn du das nächste Mal zu Luciens Grab gehst, lege ein paar Blumen von mir dazu. Ich zünde für ihn eine Kerze hier in Berlin an, sobald ich an einer Kirche vorbeikomme.«
Es gibt Momente, da beschämt mein kleiner Bruder mich. Mein Herz wird so weich und wund, dass ich schlucken muss. Für ihn gehören wir wirklich alle zusammen. Natürlich hätte er an Blumen gedacht, bevor er zum Friedhof geht. Und er würde nie zulassen, dass Lucien im Vergessen verschwindet , setze ich in Gedanken hinzu. »Versprochen«, sage ich. »Und wie geht es dir in Berlin, Kleiner? Ich meine: Wie geht es dir wirklich?«
Max muss tief durchatmen. »Ganz ehrlich, Große? Im Moment steht alles bei mir auf Panikrot.«
»Wieso? Was ist passiert?«
»Noch nichts. Aber ich brauch dich als Fallback , Fleur. Ich werde nämlich heute mein FSJ canceln. Papa wird mir den Kopf abreißen, aber ich … bleibe erst mal bei Tom in Berlin.«
Das ist wirklich ein Plot-Twist, den ich nicht erwartet hätte. »Und Merle?«, frage ich vorsichtig.
Max muss sich räuspern. »Ich … werde ihr sagen, dass es zwischen uns als Paar vorbei ist«, sagt er bedrückt. »Ja, ich weiß, es ist ihr gegenüber nicht fair. Ich komme mir jetzt schon vor wie der letzte toxische Idiot, aber … es wäre doch noch unfairer, keinen reinen Tisch zu machen, jetzt, wo ich sicher weiß, dass ich bei Tom bleiben will. Und mir ist klar, dass ich Merle damit das Herz breche, aber ich kann nicht mehr zurück – obwohl ich sie liebe und es mir auch das Herz bricht. Verstehst du das?«
Der Kummer in seiner Stimme ist so deutlich, dass ich selbst einen Widerhall davon in mir spüre. Gerne würde ich ihn jetzt in den Arm nehmen.
»Fleur?«, fragt er mit banger Stimme.
»Ja, ich verstehe es, Floh«, sage ich. »Aber so ist es eben. Im Leben kommt keiner von uns darum herum, anderen mal Schmerz zuzufügen.«
»Schöner Shit«, sagt Max aus vollem Herzen.
»Ja.« Mehr gibt es dazu wirklich nicht zu sagen. Aber im Schweigen, das wir nun teilen, sind wir uns so nah, wie ich es sonst von uns nicht kenne. Bei Max ertönt im Hintergrund das helle Klickern eines Flippers. Vielleicht vertreibt Tom sich im Café gerade die Zeit damit. Um mich herum scheint es hingegen plötzlich still zu sein, als hielte die Zeit den Atem an. Ich starre auf M. J.s schiefes Kreuz auf dem Antrag. Auf die Leerstelle, an der mein Name stehen könnte. Die Leerstelle, die irgendwie auch für mein Leben steht.
»Wie lange bleibst du noch in Frankreich?«, höre ich Max sagen.
So lange, bis ich weiß, was ich wissen will. Aber ich antworte: »Erst einmal noch eine weitere Woche. Heute übernachte ich noch im Hotel. Aber dann suche ich mir eine günstigere Unterkunft. Ich gebe dir durch, wohin du mir meine Tabletten schicken kannst.«
»Das mache ich. Und halte mich immer auf dem Laufenden, ja?«
»Versprochen, Max.« Das meine ich von Herzen. Und es tut gut, dass die Zeit des Schweigens zwischen uns vorbei ist. Auch nachdem ich aufgelegt habe, spüre ich noch diese neue Verbindung zwischen uns. Es ist nur eine zögerliche kleine Flamme, aber sie wärmt mich auf eine gute Art und lässt mich lächeln.
*
Bei Antoine Oulier geht nur der Anrufbeantworter ran. Ich bitte um Rückruf und hole meinen Laptop hervor. Ouliers Foto finde ich auf Anhieb auf der Seite der Gesellschaft zur Erforschung des Bestienfalls. Wie ich vermutet hatte, ist er in Cyrilles Alter. Er ist beleibt und breitschultrig, sein Walrossschnauzbart schneeweiß und sein Blick grimmig. Fehlen nur noch eine Flinte und ein totes Tier, dem er triumphierend seinen Stiefel in den Nacken rammt. Siegessicher, wettergegerbt, schießwütig, denke ich. Der letzte Mensch, dem ich live begegnen möchte .
An den anderen Tischen macht die obligatorische Nachtisch-Käseplatte die Runde. Die ersten Gäste gehen. Der Zigarettenautomat rattert und immer wieder schieben sich Leute an meinem Tisch vorbei, sodass ich den Laptop schließlich wieder wegpacke und mich stattdessen mit den Formularen für das Grab befasse. Erst nach einer Weile bemerke ich, dass jemand wohl schon eine ganze Weile direkt vor meinem Tisch steht. Es ist der Mann mit dem scharfen Blick. Er hält ein Glas Wein in der Rechten. Die andere Hand hat er in der Tasche seiner schwarzen Hose vergraben. Mit dem lässig geöffneten Mantel und seinem selbstbewussten Lächeln sieht er aus wie ein Model für Pariser Herrenmode. Und ich müsste lügen, um zu behaupten, dass er mir nicht gefällt.
»Sieh mal an«, sagt er. »Von allen Cafés dieser Stadt kommen Sie ausgerechnet in meines.«
»Ich verfolge Sie immer noch nicht.«
»Und das ist immer noch schade.« Er grinst, als mir wieder keine Antwort darauf einfällt. »Ich sehe, Sie hatten einen Termin bei Marie-Jeanne Saby?«, fährt er dann fort. Mit einem angedeuteten Kinnrucken deutet er auf das Formular, das vor mir liegt.
»Und Sie verbringen Ihre Mittagspause damit, die Dokumente fremder Leute zu lesen?«
Vielleicht etwas unhöflich, aber er hat mich überrumpelt und die Tatsache, dass er auftritt, als würde der ganze Raum ihm gehören, gefällt mir nicht. Er denkt auch nicht daran, sich zu erklären oder zu entschuldigen. Sein Blick wird nur schärfer und sein Lächeln verschwindet. Ohne mich aus den Augen zu lassen, nimmt er ruhig einen Schluck Wein. Ich muss mich beherrschen, um meine Haare nicht über die Narben zu zupfen, so intensiv mustert er mich.
»Lesen musste ich gar nichts«, erwidert er dann. »Das Wappen der Stadtverwaltung erkennt man auf drei Meter Entfernung. Und Marie-Jeannes schiefes Kreuz ebenfalls. Sind Sie Journalistin?«
»Weil ich einen Laptop dabeihabe?«
»Weil Sie nicht nur einen Laptop, sondern ein halbes Büro in Ihrer Tasche haben, am Telefon hängen, statt ihr Mittagessen zu genießen und eines Ihrer Fachbücher aus Julies Bibliothek im Hotel Le Sabatier stammt.«
Ich schiele zu meiner Aktentasche. Der Reißverschluss ist offen, man kann die gesammelten Ladegeräte, zwei externe Festplatten und weitere Kabel sehen, außerdem das Buch über alte Adelshäuser der Region, auf dessen Buchrücken ein Aufkleber mit dem Hotelstempel prangt. »Die Filmleute und Journalisten, die hier immer wieder auftauchen, steigen normalerweise im Sabatier ab«, setzt der Mann hinzu. »Das Touristenbüro empfiehlt das Hotel allen Medienleuten mit viel Nachdruck. Gegen eine Provision natürlich. Und Marie-Jeanne ist auch für Drehgenehmigungen zuständig. So schließt sich der Kreis.«
Er hebt kurz die Brauen und lächelt mir ein wenig überheblich zu. Erwartest du Applaus? , denke ich verärgert.
»Und das ist alles, was Sie an Schlussfolgerungen zu bieten haben?«, gebe ich trocken zurück.
»Nein«, entgegnet er. »Aber Sie haben eben auf dem Laptop nach Antoine Oulier von der Bestiengesellschaft gesucht. Und wenn Medienleute etwas über den Bestienfall wissen wollen, ist er die erste und beste Adresse.«
Seine Augen blitzen amüsiert auf, als mir mein Pokerface entgleitet. Ich sitze mit dem Rücken zur Wand, er kann unmöglich gesehen haben, was auf meinem Bildschirm los war. Doch als ich seinem Fingerzeig folge und mich umdrehe, fühle ich mich eiskalt ertappt. Mir war gar nicht aufgefallen, dass genau über mir an der Wand ein schräg nach unten gekippter Spiegel hängt. Vielleicht für die Bedienung, die ansonsten von der Theke aus die hinteren Tische nicht im Blick hat. Und Antoine Ouliers Gesicht mit Walrossschnauzbart erkennt man sicher auch gespiegelt und aus drei Metern Entfernung.
»Sie kennen also Monsieur Oulier?«
Er zuckt mit den Schultern. »Nicht jeder mag ihn«, antwortet er. »Aber jeder hier kennt ihn.«
»Sie liegen bei mir dennoch daneben, Sherlock.«
Ein amüsiertes Lächeln blitzt in seinem Gesicht auf. Dann mustert er mich wieder auf diese prüfende und intensive Art, die mich auf der Hut sein lässt. Ich habe keine Ahnung, was das hier soll. Vielleicht ist es ja nur ein kurzes Austesten, ob sich ein Flirt lohnen könnte. Vielleicht will er auch einfach nur glänzen. Aber abgesehen davon, dass ich immer misstrauisch werde, wenn zu schöne Männer sich zu sehr für mich interessieren – in seinem Blick flackert auch eine unterschwellige Unruhe, auf die ich mir keinen Reim machen kann. Und langsam macht er mich damit wirklich nervös.
»Keine Journalistin also«, stellt er fest. »Verraten Sie mir wenigstens, warum Sie als Deutsche so gut Französisch sprechen?«
Wieder sieht er auf mich herab, als würde er Applaus dafür erwarten, diesmal richtigzuliegen. Aber nun ist es an mir, müde zu lächeln.
»Was hat mich enttarnt? Doch nicht etwa mein Akzent?«
Mein ironischer Konter entlockt ihm überraschenderweise tatsächlich ein echtes Lächeln. Für eine Sekunde habe ich den Eindruck, hinter die Maske aus arroganter Selbstgefälligkeit zu blicken. Doch der Ernst ist sofort wieder zurück. »Auf Akzente gebe ich nichts. Die beherrscht jeder mittelmäßige Schauspieler. Aber wenn ich mich kurz setzen darf, sage ich Ihnen gerne, was Sie wirklich verraten hat.«
Fragend deutet er auf den freien Stuhl. Ich kann mich immer noch nicht entscheiden, ob ich ihn mag oder nicht, dennoch deute ich ein Nicken an und räume meine Papiere weg. Er stellt sein Weinglas ab, setzt sich und lehnt sich im Stuhl lässig zurück. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.«
»Ich weiß, dass Sie Tomé heißen.«
Es ist sicher nicht leicht, ihn aus dem Konzept zu bringen, aber ein kurzes Stirnrunzeln kann ich ihm entlocken.
»Die Dame, mit der Sie heute Morgen in der Altstadt gesprochen haben, nannte Sie Tomé«, setze ich hinzu.
»Oh, richtig. Dann fehlt jetzt nur noch Ihr Name.« Er knipst ein charmantes Lächeln an und hebt fragend die Brauen. Wieder bin ich irritiert und frage mich, ob ich nach so vielen Jahren Tinder-Dasein einfach nur verlernt habe, einen Flirt in der analogen Welt zu erkennen. Er wartet auf eine Antwort. Erst will ich einen meiner Internetnamen nennen, aber der Gedanke an Simon und alles, was in letzter Zeit schiefgelaufen ist, hält mich zurück. Was habe ich hier schon zu verlieren? , denke ich. »Fleur.«
»Schöner Name. Freut mich sehr, Fleur.« Er beugt sich vor und hebt sein Weinglas. Und weil ich nicht nur Deutsche bin, sondern auch französische Reflexe habe, nehme auch ich meinen Wein und stoße mit ihm an.
Doch statt einen Schluck zu nehmen, lächelt Tomé triumphierend. »Sehen Sie? Unbewusste Gesten verraten mehr als Akzente. Ich weiß nicht, warum, aber in Deutschland ist es üblich, Weingläser unten am Stiel zu halten, als wären es gläserne Tulpen.«
Ich stutze. Genau so halte ich mein Glas. Tomé dagegen umfasst den Kelch, als hielte er einfach nur ein Wasserglas, an dem zufällig unten ein Stiel angebracht ist. Und als ich mich umsehe, entdecke ich, dass er recht hat. Ich bin die Einzige in dem ganzen Café, die eine gläserne Blume in der Hand hält.
»Touché« , sage ich ernsthaft beeindruckt und stelle mein Glas ab. Wir mustern einander, als würde derjenige verlieren, der als Erstes wegschaut. Wieder schwingt diese Spannung zwischen uns, ein kühles Knistern, das mich wachsam sein lässt. Aber ich muss zugeben, dass mir zumindest seine Art zu denken und zu beobachten gefällt.
»Da ist ja der verlorene Sohn!«, schallt es plötzlich quer durch den Raum. Ein älterer, vierschrötiger Mann in Arbeitshosen tritt von hinten an Tomé heran und haut ihm beide Hände auf die Schultern. Tomé zuckt überrascht zusammen. »Dass du dich auch mal wieder hier blicken lässt«, dröhnt der Mann. »Nehmen Sie sich vor ihm in Acht, Madame«, wendet er sich dann an mich. »Unser ewiger Junggeselle hier ist nämlich ein Herzensbrecher.« Er grinst, als Tomé ihm einen verärgerten Blick über die Schulter zublitzt. Tja, so schnell fällt die Maske der Überlegenheit , denke ich.
»Danke für die Warnung, Monsieur«, erwidere ich.
»Ja, vielen Dank, Jeanót«, sagt Tomé knapp.
Der Mann lacht nur und haut Tomé noch einmal gutmütig auf die Schulter. »Sitz nicht zu lange hier rum, deine Tante wartet auf dich«, sagt er, dann geht er zur Theke, wo sich auch die Bedienung, die mitgehört hat, sichtlich amüsiert. Er übergibt ihr einen Schlüsselbund und verlässt wieder das Café. Aber nicht, ohne mir vorher noch einmal zuzuzwinkern.
Tomé wendet sich mir wieder zu. »Tja«, murmelt er. »Jetzt kennen Sie meinen Onkel.«
Seine Miene verdüstert sich noch mehr, als ich grinse, aber ich kann einfach nicht anders. Es ist interessant, wie sich das Bild eines Menschen in wenigen Sekunden wandeln kann. Bis eben habe ich ihn für einen zwielichtigen Schönling gehalten. Nun hat sich die Spannung zwischen uns schlagartig aufgelöst. Und ich stelle fest, dass ich ihn tatsächlich mögen könnte.
»Der verlorene Sohn also?«, bemerke ich. »Das heißt, Sie kommen aus Saugues, aber Sie leben nicht mehr hier?«
Die Art, wie sich seine Miene verschließt, verrät noch mehr über ihn. Er gibt nicht gerne etwas über sich preis . Genau wie ich .
»Ja, ich bin heute nur zu Besuch hier«, antwortet er schließlich. »Ansonsten lebe ich schon lange im Département Lozère. Aber Sie sehen ja: Egal, wie weit man wegzieht, der Familie entkommt man nie.«
Wahre Worte , denke ich bei mir. »Sprechen Sie dann auch den hiesigen Dialekt?«
»Natürlich. Das Auvergnatische ist eine Variante des Nordokzitanischen, die nur hier gesprochen wird. Und es ist meine Muttersprache.«
»Also ist Tomé ein auvergnatischer Name. Oder doch ein Spitzname von Thomas?«
Tomé runzelt die Stirn. Ja, der Wind hat gedreht, nun bin ich diejenige, die hier die Fragen stellt. Und das scheint ihm nicht besonders zu gefallen. »Beides«, sagt er dennoch. »Von jedem Namen gibt es eine okzitanische Variante. Thomas wird zu Tomé, eine Magdalena zu Magali. Und in meiner Familie würde man Sie nicht Fleur nennen, sondern Flór.«
Aus seinem Mund klingt der Name fremd, der Vokal tief und düster. Es könnte der Name einer Nachtfee aus einem spanischen Märchen sein. Doch irgendwie gefällt er mir besser als das pastellfarbene Fleur, das nie so recht zu mir passen wollte.
»Interessieren Sie sich für unser keltisches Erbe?«, fragt Tomé.
»Ich habe als Jugendliche ›Asterix und der Arvernerschild‹ gelesen. Sonst weiß ich nichts darüber.«
Er verzieht das Gesicht. »Darin sind die gallischen Stämme als nuschelnde Barbaren dargestellt, was sie definitiv nicht waren. Der Stamm, der hier ansässig war, nannte sich Gabales. Aber nicht nur hier in Saugues finden sich die Spuren dieser Kultur. Waren Sie schon mal in Le Puy-en-Velay?«
»Ähm … ja. Erst gestern.«
»Dann haben Sie keltisches Heiligtum betreten. Der Mont Anis, auf dem die Wallfahrtskirche steht, war ein Kultplatz der Druiden. Und der heilende Fieberstein ursprünglich Teil des heidnischen Altars. Aus heutiger Sicht fast schon paradox, dass christliche Pilger ihn seit Jahrhunderten verehren.«
Und die gläubige Irène d’Apcher flehte dort um das Leben ihres Sohnes Lucien , denke ich.
Das Café ist nun fast leer, das gedämpfte Surren eines Handys klingt deutlich durch die Stille. Tomé holt es aus der Manteltasche. »Tja«, sagt er trocken. »Wenn ich jetzt nicht gehe, bekomme ich Ärger mit meiner Tante.«
»Dann sollten Sie sich beeilen. Mit gallischen Tanten ist nicht zu spaßen.«
Er sieht mich scharf an. Aber dann zuckt ein kurzes Lächeln um seine Mundwinkel. Ein paar Sekunden schauen wir uns in die Augen. Wenn das hier ein Flirt wäre, dann wäre dies der Moment, nach einem Kontakt zu fragen. Doch Tomé steht auf und knipst sein Lächeln so schnell wieder aus, als hätte er einen Lichtschalter umgelegt. Plötzlich wirkt er sehr distanziert. »Also dann, Flór …«, sagt er kühl und klopft zweimal mit den Knöcheln auf den Tisch. Ich bin mir nicht sicher, ob das hier eine übliche Abschiedsgeste ist oder das ironische Zitat eines deutschen Stammtisch-Grußes. »Vielleicht sieht man sich ja irgendwann.« Damit geht er einfach davon, ohne meine Antwort abzuwarten oder sich noch einmal umzublicken. Durch die Fenster des Cafés sehe ich ihn mit wehendem Mantel und großen Schritten die Straße überqueren. Eine Weile sitze ich nur verdutzt da und frage mich, was hier eigentlich gerade passiert ist. Sein leeres Weinglas hat er auf meinem Tisch zurückgelassen. Und als ich verstimmt meine Sachen zusammenpacke und die Bedienung rufe, erfahre ich, dass Tomé meine Rechnung längst beglichen hat.