Fährten

Dass Antoine Oulier »ab vom Schuss« wohnt, war die Untertreibung des Jahres. Der Weg führt über karge Kalksteinebenen zu zerklüfteten Bergpassagen rund um das Plateau von Aubrac. Wenn ich gestern dachte, dass ich schon mitten im Gebirge war, dann lerne ich jetzt, was wirkliche Bergserpentinen sind. Jedes Mal, wenn ein entgegenkommendes Fahrzeug nur zentimeterbreit am Lada vorbeifegt, halte ich unwillkürlich die Luft an und ich bin ziemlich erleichtert, als am Rand einer Straße endlich das verwitterte Holzschild auftaucht: ein aufgemalter roter Pfeil und darunter die Hausnummer. Gefühlte Kilometer lang hoppelt der Lada über einen Pfad mit ausgefahrenen Radspuren, tief wie Schlaglöcher. Schlammwasser spritzt bis zu den Fenstern hoch. Aber wie angekündigt, taucht hinter der ersten Biegung eine Ansammlung von Nadelbäumen auf. Zwischen den Stämmen hindurch leuchtet ein hellgraues Gebäude, das einige Jahrhunderte auf den Schultern hat. Das Dach ist mit schieferartig geschuppten Platten aus Stein bedeckt. Aus demselben Material wie das Dach sind auch die grob behauenen Quader der Wände. Modern ist nur ein sehr hoher Metallzaun, der um das Haus herumführt und sich zwischen Gesträuch und Bäumen verliert. Es wirkt, als würde er ein Wildgehege umfassen. Oder , überlege ich, soll die Umzäunung Hirsche und andere Wildtiere vom Garten fernhalten?

Der Lada schwankt und holpert und gleitet dann plötzlich auf einen betonierten Parkplatz. Die Fläche bietet Platz für mehrere Autos. Ein verbeulter Fiat parkt hier. Und eine Schlammspur mit einem breiten Reifenmuster zeigt, dass hier erst kürzlich ein größerer Wagen gewendet hat. Direkt hinter dem alten Gehöft schließt sich ein moderner und sehr schlichter, flacher Neubau an, der fast wie eine überdimensionierte Garage wirkt. Ein Durchgang verbindet das historische Steinhaus mit dem Neubau, der wohl das eigentliche Wohnhaus von Oulier ist.

Kaum habe ich geklingelt, wird schon die Tür schwungvoll aufgerissen. Ein Mädchen, das ich auf höchstens dreiundzwanzig schätze, steht vor mir. »Salut!« , stößt sie atemlos hervor. »Ich habe Sie vom Fenster aus gesehen. Ich bin Sylvie Oulier.« Sie bläst sich eine Strähne aus dem Gesicht und lächelt mir strahlend zu. Nur ihr glatt geföhnter Pony ist lang. Die Spitzen ihrer kurz geschnittenen schwarzen Haare sind blau eingefärbt, was ihr einen Szene-Touch gibt, der gar nicht zu ihrem weiten Flanellhemd und den abgeriebenen Arbeitshosen passen will.

»Bonjour , freut mich, ich bin Fleur Martin. Wir hatten telefoniert.«

»Ja, ich weiß. Sie sind aber sehr pünktlich!« Wieder strahlt sie mich an. Ihre Augen sind von einem so dunklen Blau, dass sie auf den ersten Blick auch braun sein könnten. »Kommen Sie rein. Oder darf ich einfach Du sagen? Ich hab’s nicht so mit Förmlichkeit.« Ihr Augenzwinkern ist so charmant, dass es mich zum Lächeln bringt.

»Gerne, Sylvie. Ich bin Fleur.«

»Schön! Lass deine Schuhe an. Wie du siehst, leben wir hier ohnehin halb im Wald. Der alte Kasten nebenan war früher nämlich ein Forsthaus.« Das sagt sie schon im Gehen über die Schulter. »Mein Onkel ist noch unterwegs. Er kommt aber gleich.«

Auf dem nüchtern gefliesten Flur passiere ich eine Reihe strammstehende Stiefel und aufgehängte Mäntel. Unsere Schritte hallen auf den Fliesen laut wieder, der ganze Neubau scheint damit verlegt zu sein, zum Teil reichen die Fliesen an den Wänden sogar hüfthoch. Nicht sehr einladend, aber vermutlich praktisch. Noch bevor wir in die Küche treten, steigt mir schon der Duft von süßem Gebäck in die Nase. Die Küche erinnert mich an mein Elternhaus, so vollgestopft ist sie mit Nippes und Deko. Die Kräutertöpfe, die zwischen Blümchenvorhängen auf dem Fensterbrett stehen, haben sogar lachende Gesichter, und auf einem Regal drängen sich zerfranste Kochbücher. Dort steht auch ein Smartphone, das den Raum mit Sylvies Playlist beschallt. Offenbar mag sie Rap eines Sängers namens Nekfeu .

»Was darf ich dir anbieten, Fleur? Kaffee? Wasser? Unseren guten Gentiane-Enzianschnaps?«

Sie lacht, als ich verdutzt die Stirn runzle. »War nur ein Scherz. Du siehst mir nach Kaffee aus, stimmt’s?«

»Ja. Danke.« Ich bleibe an der Tür stehen, die Küche ist zu eng für uns beide und Sylvie wirbelt so flink herum, dass ich ihr nur in die Quere kommen würde.

»Camille Richard sagt, du hast vielleicht einen interessanten Neuzugang für die Waffensammlung des Vereins?«, plaudert sie weiter.

»Eigentlich brauche ich nur eine Expertenmeinung zu der Zeichnung eines Gewehrs.«

»Mach dich trotzdem auf einen langen Vortrag gefasst«, gibt Sylvie mit einem Augenrollen zurück. »Zeig mir einen Oulier-Mann und ich zeige dir ein Extrem.«

Das klingt ja vielversprechend , denke ich mit gemischten Gefühlen.

»Nimmst du Milch zum Kaffee, Fleur?«

»Nur Zucker, danke.«

Sie reißt einen Küchenschrank auf, auf dem ebenfalls Nippes befestigt ist, bunte Postkarten und auch eine Kinderzeichnung. Ich denke erst, ich sehe nicht recht, aber das ungelenke Bild zeigt einen Wolf mit Säbelzähnen und langen Krallen, von denen hingekritzeltes Blut tropft. Sylvie bemerkt meinen entgeisterten Blick und lacht. »Ja, meine kleine Cousine ist für ihr Alter schon ein blutrünstiges kleines Biest. Die Zeichnung hat beim diesjährigen Bestien-Malwettbewerb der Zeitschrift La Gazette de la Bête den ersten Preis abgeräumt.«

»Bestien-Malwettbewerb? Aber das hat doch eine Grundschülerin gezeichnet!«

»Ouais! «, bestätigt Sylvie in lässigem Slang. »Sieben Jahre alt, drei Zahnlücken und stolz wie ein nasses Huhn auf ihren Preis.«

»Die Bestie ist doch kein Thema für kleine Kinder«, wende ich vorsichtig ein.

Sylvie grinst. »Ach, hier ist das längst nur noch eine Geschichte wie der Drache im Märchen«, gibt sie mit einem Schulterzucken zurück. »Weißt du, was meine Oma früher zu mir sagte, wenn ich zu laut war? Si t’es pas sage, la Bête va venir te manger! «

Wenn du nicht brav bist, kommt die Bestie und frisst dich , übersetze ich in Gedanken. Es ist seltsam, in dieser heimeligen Küche das Echo von Margots Drohung als Small-Talk-Anekdote zu hören.

»Geh schon vor ins Wohnzimmer.« Sylvie reicht mir die Teller und ein paar Servietten. »Rechts runter bis zur weißen Tür und dann kommt ein Durchgang zu unserem Salon im alten Haus. Ich bringe gleich Kaffee und Kuchen.«

Der schmale Gang führt mich vom Neubau direkt ins Gestern. Größer könnte der Bruch kaum sein. Hinter mir hallt noch Sylvies Rap von den kahlen Flurwänden wider, vor mir glotzen Jagdtrophäen stumm von den Wänden: Hirschköpfe mit gläsernen Bernsteinaugen und ein Wildschwein im Blutrausch, das mit gewetzten Hauern aus der Wand zu brechen scheint. Der Raum wirkt wie ein Museum altväterlicher Männlichkeit. Unverputzte Steinwände, wuchtige Schränke und ein Holztisch, an dem sicher schon mehrere Generationen Platz genommen haben. Mit den kleinen Bauernhausfenstern und der dunklen Bohlendecke ist es hier drin regelrecht düster. Die Vorhänge lassen nur einen schmalen Spalt Helligkeit herein. Die Luft ist stickig und riecht nach rissigem Leder, altem Stein und muffigen Fellen. Auf dem Tisch reihen sich gerahmte Fotos von schwarz-weiß gefleckten Jagdhunden. Auf einem Bild steht auch Antoine Oulier persönlich, den Jagdhund bei Fuß. Die ganzen Trophäen hier gehen sicher auf sein Jägerkonto. Das seltsamste Artefakt ist der Kronleuchter, der aus einem Kranz von Geweihstangen gemacht ist. Eiserne Kerzenhalter in Form von Eichenblättern sind ins Horn geschraubt. Das scheußliche Ding hängt an viel zu dünnen Ketten von der Decke, als würde es nur darauf lauern, herunterzufallen und jemanden zu erschlagen. Last but not least entdecke ich zwischen Wildschwein und Hirschkopf ein Gewehr. Spätestens jetzt hätte ich gute Lust, den Rückzug anzutreten.

Aber hinter mir rumpelt die Tür gegen die Wand. Sylvie hat sie mit dem Fuß ganz aufgestoßen und trägt das Tablett zum Tisch. »Willst du deine Jacke nicht ausziehen?«, fragt sie. »Setz dich doch und mach es dir gemütlich!«

Definiere gemütlich , denke ich bei mir. Aber ich hänge meine neue Rotkäppchenmontur über die Stuhllehne und lasse mich am Tisch nieder. Sylvie stellt das Tablett mit Kaffee und Hefekuchenstückchen in die Mitte. Das Gebäck ist mit Hagelzucker bestreut und verströmt einen zarten, butterigen Duft mit leichtem Orangenaroma. Er vertreibt für Momente den morbiden Hauch alter Jagdtrophäen. »Ich hoffe, du magst Fouace«, sagt Sylvie. »Frisch gebacken. Greif zu!«

Sie angelt sich mit der Hand ein Stück von der Platte und beißt noch im Stehen hinein. Der Hefekuchen dampft noch warm und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Sylvie lächelt zufrieden, als ich mir zum Kaffee auch eine Fouace nehme und mit vollem Mund anerkennend nicke.

»Erzähl mal, Fleur!«, fordert sie mich dann mit vollem Mund kauend auf. »Woher kannst du so gut Französisch?«

Es ist leicht, mit Sylvie zu plaudern. Sie hat einen sympathischen Witz und ein herzliches Lachen und sie ist wie Wasser, das immer einen Weg findet. Nach ein paar Minuten habe ich fast vergessen, dass wir auf dem Friedhof der Kuscheltiere sitzen. Als sie mir Kaffee nachschenkt, piepst ein SMS -Ton und Sylvie holt ihr Handy hervor.

»Ist mein Onkel. Er fragt, ob du schon da bist und ob ich Kaffee gemacht habe.« Sie rollt leicht mit den Augen, dann tippt sie in Windeseile eine Antwort und legt ihr Handy neben ihren Teller.

»Dein Onkel ist wohl ein passionierter Jäger«, sage ich mit einem Blick auf das Wildschwein.

»Eigentlich gar nicht«, sagt Sylvie leichthin. »Er geht nur ganz selten noch mit ins Gelände, wenn mein Vater und mein anderer Onkel auf die Jagd gehen.«

Weil er den Wald schon leer geschossen hat? »Ist der Zaun hinter dem Haus dann ein Gehege für Jagdhunde?«

Sylvie runzelt irritiert die Stirn. »Ach, du meinst wegen der ganzen Fotos von den beiden Bracken! Nein, die zwei alten Fellnasen sind schon längst in Rente und lassen sich bei meinen Eltern in Saugues nur noch die Sonne auf den Pelz scheinen. Zuckerwürfel?« Sie schiebt mir die Silberdose über den Tisch.

»Deine Eltern leben in Saugues und du wohnst trotzdem bei deinem Onkel?«

»Nur übergangsweise. Ist praktischer. Saugues ist viel weiter weg von meiner Arbeitsstelle. Ich jobbe hier in der Nähe. Im Frühjahr hatte ich meine Wohnung gekündigt, um Geld zu sparen. Nächsten Monat ziehe ich nämlich nach Marseille. Mein Freund ist schon dort. Aber diese Saison muss ich noch hier abarbeiten. Wird ja nicht gerade billig, am Meer zu wohnen.« Munter plaudert sie weiter. Ich erfahre, dass sie gerade eine Ausbildung zur Reisekauffrau abgeschlossen hat, als Tourenguide für Touristen jobbt und dass ihr Freund Jonah heißt und aus Kanada kommt. Er ist Musiker und die beiden träumen davon, eines Tages einen Club aufzumachen. »Aber jetzt erst einmal die Wohnung und dann ein Brotjob«, fügt sie mit einem Seufzen hinzu. Ihr Handy schrillt mit einer so lauten Fanfare los, dass ich zusammenzucke.

»Ich muss ran, das ist Jonah!« Sylvie springt wie elektrisiert auf und rennt aus dem Zimmer. Ein paar Sekunden später lugt sie wieder zu mir herein. »Das wird vielleicht etwas Längeres«, flüstert sie mir zu. »Kommst du klar?«

Als ich nicke, hebt sie den Daumen. Die Tür klappt zu und ich bleibe allein zurück. Ich widerstehe dem Impuls, die plötzliche Stille mit einem Check meiner Mails zu überbrücken, und trete stattdessen zum Fenster. Vorsichtig ziehe ich die Vorhänge ganz auf und öffne das Fenster – und blicke auf ein Netzgitter aus solidem Metall, das außen vor der Scheibe angebracht ist.

»Jonah war gerade beim Vermieter«, erklingt Sylvies Stimme hinter mir. Sie lässt sich wieder auf ihren Stuhl fallen. »Drück uns die Daumen, dass wir die Wohnung kriegen.«

»Die bekommt ihr bestimmt«, murmle ich. »Warum sind eure Fenster vergittert?«

»Damit die Scheiben heil bleiben«, antwortet sie leichthin. »Die Leute glauben es nicht, aber eine Fensterscheibe ist für einen Wolf gar kein Hindernis.«

Ich schlucke und spähe hinaus zum Wald, der ans Grundstück grenzt.

»Da draußen gibt es … wild lebende Wölfe?«, frage ich.

Sylvie schaut mich an, als hätte ich gefragt, ob im Wald Drachen leben. »Ähm, nein, natürlich nicht«, sagt sie verdutzt. »Wieso?« Draußen röhrt ein Auto bergauf. Sylvie springt wieder wie Quecksilber auf. »Da ist er ja endlich. Bleib sitzen, ich sag ihm Bescheid.«

Offenbar ist Feuerwehrübung angesagt, wenn Antoine Oulier nach Hause kommt. Sylvie nimmt noch schnell einen Bissen vom Kuchen, bevor sie aus dem Zimmer eilt. Vor dem Haus fällt derweil eine Autotür zu. Und ich zupfe nervös den Kragen meines Rollkragenpullovers weiter nach oben. Irgendwo wird ein Gatter mit einem metallischen Rasseln aufgezogen. Und als ich mich zum Fenster beuge, zucke ich reflexartig sofort wieder zurück. Ein großer schwarzgrauer Vierbeiner läuft in das Gehege, starrt mich aus kaum zwei Metern Entfernung aus hellen Bernsteinaugen an und huscht dann sofort aus meinem Blickfeld, als würde er vor mir flüchten. Ein zweites Tier springt herbei. Es ist braun mit einer helleren Zeichnung um die Schnauze und an der Brust. Und mir wird klar, dass das die beiden Hunde sind, die ich in Saugues auf den ersten Blick für Wölfe gehalten hatte. Vom Hotelfenster aus hatte ich sie beobachtet. Aber das ist nicht das einzige Déjà-vu.

»Ich sehe, meine Nichte hat Sie gut versorgt«, ertönt hinter mir eine wohlbekannte Stimme. Ich fahre herum. Es ist tatsächlich Tomé, der ins Wohnzimmer tritt. Nur dass er heute Jeans, schlammbespritzte Stiefel und eine olivgrüne Jacke trägt. Seine Haare sind vom Wind zerzaust und über seiner Schulter hängt eine vollgepackte Tasche. Im Gegensatz zu mir scheint er nicht im Mindesten überrascht zu sein, dass wir uns hier begegnen. »Kommen Sie, Flór«, sagt er statt einer Begrüßung und ohne ein Lächeln. »Wir gehen nach nebenan in mein Arbeitszimmer.«

»Eigentlich bin ich mit Antoine Oulier verabredet«, bringe ich heraus.

»Steht vor Ihnen.« Jetzt blitzt doch ein schnelles, überlegenes Lächeln auf, das sofort wieder verlischt. »Nehmen Sie Ihren Kaffee einfach mit.«

Damit macht er kehrt und geht mit schnellen, energischen Schritten hinaus. Ich bin zu überrumpelt, um ihm gleich zu folgen. Schließlich greife ich meine Jacke und die Tasche mit den Unterlagen und folge ihm zögernd zurück in den Neubau. Tomé hat sich schon seiner Jacke entledigt und wartet sichtlich ungeduldig an einer offenen Tür. Genau wie bei seinem Auftritt im Café scheint seine bloße Gegenwart das Haus mit einer flirrenden Energie zu füllen, als würde die Zeit plötzlich schneller laufen. Ich ignoriere seine Geste, mit der er mich energisch auffordert, vor ihm durch die Tür zu treten, und bleibe auf dem Flur stehen. »Hat es einen besonderen Grund, dass Sie im Internet ein anderes Foto und einen anderen Namen haben?«

Seine Augen blitzen amüsiert auf. »Sie verlassen sich also immer auf das, was im Internet steht?«

»Zumindest das Profil eines Ansprechpartners auf der Seite eines Vereins sollte korrekt sein«, gebe ich kühl zurück.

Tomé zieht den linken Mundwinkel hoch. »Es ist korrekt. Sie brauchen jemanden, der sich mit alten Waffen auskennt. Im Profil steht, ich kenne mich aus. Mein Gesicht tut dabei nichts zur Sache.«

»Ihr Name auch nicht? Haben Sie so viel zu verbergen?« Ich weiß nicht, was mich mehr ärgert: Die Tatsache, dass er mich nun schon zum dritten Mal überrumpelt hat. Oder das sichelscharfe, leicht arrogante Lächeln, das davon zeugt, dass er sich dessen vollkommen bewusst ist.

»Schon möglich, dass ich etwas verberge«, sagt er. »Oder ich trenne Privates einfach strikt vom Beruflichen. Doch der Name im Profil stimmt: Ich heiße Antoine Oulier. Tomé ist nur ein Rufname aus Saugues, der an mir hängen geblieben ist. Thomas, der Ungläubige, hat wohl als Kind besser zu mir gepasst als Antoine. Wollen Sie meinen Ausweis sehen oder glauben Sie mir auch so?«, setzt er etwas spöttisch hinzu.

Dafür brauche ich deinen Ausweis nicht , denke ich bei mir. Gib mir zwei Stunden und ich grabe deine komplette Timeline im Deepweb aus, inklusive der Dinge, die du über dich selbst nie wissen wolltest .

»Onkel Tomé?« Sylvie taucht am Ende des Flurs auf. Sie trägt einen Parka und klimpert mit Autoschlüsseln in ihrer Hand. »Ich habe dir fürs Abendessen einen Auflauf in den Kühlschrank gestellt. Wenn ihr zwei nichts mehr braucht, würde ich jetzt fahren. Und heute Abend treffe ich mich noch mit ein paar Leuten im Donjon, also mach dir keine Sorgen, wenn es spät wird.«

»Danke dir, Sylvie«, antwortet Tomé ruhig. »Aber falls was ist, übernachte nicht wieder bei diesem Kiffer, klar? Diesmal rufst du an, dann hole ich dich ab, egal, wie spät es ist.«

Sylvie seufzt theatralisch auf. »Oui, papa! «, sagt sie mit gutmütigem Spott. Aber dann fängt sie an zu strahlen und wirft ihm eine Kusshand zu. Und ich erkenne, dass sie Tomé von Herzen mag. »Mach’s gut, Fleur!«, ruft sie mir zum Abschied zu. »War schön, dich kennenzulernen.«

Die Haustür fällt zu und nun stehe ich allein hier mit einem Mann, der mich mit seiner Art völlig aus dem Konzept bringt. Eben noch wirkte er richtig sympathisch, als er sich um seine Nichte sorgte. Doch als er sich wieder mir zuwendet, strahlt eine enorme Distanz und Kühle von ihm ab. Und obwohl mich seine Art ärgert, bin ich froh, dass ich mich mit Rollkragenpullover und Concealer ausgestattet habe und mich somit nicht noch entblößter fühlen muss.

»Also?« Er deutet auf die Tür. »Raus oder rein? Ich soll mir doch die Zeichnung eines Gewehrs ansehen?«

»Ich habe gehört, Ihre Zeit ist kostbar«, antworte ich ruhig. »Wäre es nicht schneller gegangen, sich einfach einen Scan meiner Zeichnung per Mail anzusehen, statt mich herkommen zu lassen?«

»Natürlich. Aber dann hätten wir ja jetzt kein Rendezvous.« Er hebt die Brauen und schenkt mir ein charmantes Lächeln. Doch abgesehen von der Tatsache, dass Schillerfalter wie Tomé nur selten auf Blumen wie mich fliegen, schwingt hier nur zu deutlich noch etwas anderes mit. Was für ein Spiel spielst du hier, Antoine?

»Und ich hoffe, Ihre Waffe ist interessant genug, dass sich das Treffen auch lohnt«, setzt er hinzu.

Am Zucken seiner Mundwinkel erkenne ich, dass das hier wirklich ein Spiel ist. Eines, das wohl meinen Reibungswiderstand austesten soll. Player , denke ich bei mir.

»Camille Richards Beschreibung scheint Sie jedenfalls schon überzeugt zu haben«, kontere ich. »Sonst hätten Sie mich kaum hierher zitiert, statt sich gleich im Café vorzustellen. Sie hatten ja gesehen, dass ich auf dem Laptop nach ihrem Profil gesucht habe. Ach ja – und danke übrigens noch für die Einladung zum Wein. Die auvergnatische Gastfreundschaft ist zwar unberechenbar, aber wohl wirklich etwas Besonderes.«

Es überrascht mich, dass er auflacht und nickt. »Na schön, eine Mail hätte es auch getan. Aber um ehrlich zu sein, ich war neugierig. Nach unserem Gespräch hatte ich nämlich auch über Sie im Internet recherchiert. Ich hätte wetten können, ich finde Sie doch bei irgendeiner Zeitung oder Fernsehredaktion. Doch bis auf ein paar auffallend nichtssagende Cappuccinofotos auf einem langweiligen Instagram-Account ist über Fleur Martin im Internet nichts zu holen.«

Tja, du weißt nur nicht, wie man richtig sucht . Dennoch behagt es mir nicht, dass er irgendwie meinen Nachnamen herausgefunden hat. Vielleicht über das Hotel?

»Also haben Sie entweder ein besonders langweiliges Leben«, fährt er fort, »oder aber ein besonders interessantes. Nur legen Sie offenbar Wert darauf, dass niemand es erfährt. Vielleicht sind Sie ja diejenige, die mehr zu verbergen hat als ich?«

Unwillkürlich hat sich mein Rücken angespannt. Er schaut genau hin , denke ich bei mir. Zu genau für meinen Geschmack.

»Vielleicht trenne auch ich gerne Berufliches und Privates«, antworte ich. »Genau wie Sie.«

Ein paar Sekunden lang blickt er mir auf seine forschende, intensive Art direkt in die Augen. Ich halte seinem Blick stand. Dann flammt sein Lächeln wieder auf – und diesmal bleibt es. Von einer Sekunde auf die andere ändert sich die Stimmung und lässt mehr Raum zwischen uns. »D’accord« , sagt Tomé. »Sie haben Ihre Geheimnisse und ich meine. Wollen wir uns Ihr Erbstück ansehen?«

Diesmal nehme ich die Aufforderung an und betrete sein Arbeitszimmer. Alles hier ist hell und modern. Die große Terrassentür bildet gleichzeitig die Fensterfront des Raumes. Doch auch hier schützt ein Gitter die Scheibe. Weiße Regale an den Wänden biegen sich unter Zeitschriften und schweren Büchern, die meisten davon antiquarische Kataloge. Sie stapeln sich auch neben dem Tisch, auf welchem Laptop, Scanner und ein Drucker stehen. »Nehmen Sie Platz, Flór«, fordert Tomé mich mit einem Lächeln auf. »Ich hole uns frischen Kaffee.« Der heißkalte Tomé , denke ich. Immer noch kann ich ihn kaum einschätzen, so schnell wechselt er zwischen kühl und charmant. Aber viel mehr beunruhigt mich, dass er mir immer noch gefällt – mehr noch als neulich im Café. Und vielleicht atme ich deshalb erst einmal auf, als ich alleine zurückbleibe. Das heißt – »alleine« ist relativ.

Die beiden Hunde haben sich kaum vier Meter von mir entfernt auf der Terrasse ausgestreckt und genießen die Sonnenstrahlen, die wie Lichtfinger durch die Tannenwipfel fallen. Die Tiere können mich durch das Glas sicher nicht hören, dennoch gehe ich nur auf Zehenspitzen zum Tisch. An der Wand hängen zwei große Landkarten. Zone d’Errances et d’Attaques 1764 1767 steht über der linken. Es ist eine bearbeitete historische Karte. Die verschiedenen Gebiete sind darauf nach Jahren farblich unterlegt. Nadel-Wimpel stecken an verschiedenen Orten – sie ähneln den klassischen Tatortmarkierungen, wie ich sie noch von der Polizeiarbeit aus der aktiven Zeit meines Vaters kenne. Die zweite Karte ist ein geografischer Plan der heutigen Auvergne und des angrenzenden Gévaudan mit allen Gebirgs- und Höhenzügen. Mit Edding sind darin Orte eingekreist, Pfeile und Namenskürzel verzeichnet.

Tomé kommt mit zwei frisch gefüllten Kaffeetassen zurück und reicht mir eine davon. Dann schiebt er den Laptop und einen Ordner ans Ende des Tisches. Bevor er den Ordner zuklappt, erhasche ich einen Blick auf das Handout einer Fortbildung. Tomés richtiger Name steht darauf. Zusammen mit seiner Dienstbezeichnung. »Sie arbeiten bei der Polizei?«, frage ich.

»Hat Sylvie das nicht schon ausgeplaudert?«

Fast hätte ich erleichtert aufgelacht. Es ist seltsam, wie eine einzige neue Information einen Menschen schlagartig vertrauenswürdiger machen kann. Und endlich kann ich mich entspannen. Denn nun ergeben die Teile ein stimmiges Bild. Sogar seine doppelbödige Art, Menschen zu analysieren und auszutesten, passt dazu. Auch das kenne ich von meinem Vater, von Cem und Polizeioberkommissar Helge Walter.

»Und Sie haben die Fortbildung zur digitalen Sequenzierung von Tatverläufen gemacht, damit Sie Ihre Theorien zum Bestienfall nicht mehr wie Inspektor Colombo in den Achtzigern machen müssen?«, bemerke ich mit einem Fingerzeig auf die Karte. »Das Programm, das in Ihrer Fortbildung Thema war, kenne ich. Bei uns verwenden wir allerdings schon die neue X13 -Version dieser Polizeisoftware.«

Es ist schön, dass zur Abwechslung Tomé der Überrumpelte ist. Er stellt die Tasse ab, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. So kann er quasi auf mich herunterschauen. »Bei uns ?«, fragt er. Dann lässt er die Pause wirken. Auch das ist vertraut. Du musst Stille als Druckmittel verwenden , das hat mein Vater mir beigebracht. Das Wichtige bei einem Verhör geschieht nie, während man redet. Sondern während man schweigt. Denn diese Art von Stille ist Stress, den niemand lange aushält.

Tomé ist sichtlich irritiert, als ich mich ebenfalls zurücklehne und ihm freundlich zulächle. In der angespannten Pause schwingt weiter die Frage, die ich nicht beantworten müsste. Aber ich bin nicht hier, um Spiele zu spielen. Und mit diesem neuen Wissen über den heißkalten Tomé fällt es mir plötzlich leicht, meine Deckung zu einem kleinen Teil aufzugeben.

»Ich kenne die Software, weil ich ab und zu für die Polizei in Frankfurt arbeite«, sage ich in das Schweigen. »Allerdings nicht hauptberuflich.«

Wenn es ihn erstaunt, verbirgt er es gut. »Aha? Und was genau arbeiten Sie?«

»Datenforensik. Für die Beweissicherung.« Das ist mehr, als ich jemals einem meiner Tinderdates verraten habe. »Und für Privatleute lasse ich auch schon mal Beweise aus dem Netz verschwinden – zum Beispiel peinliche Partyvideos«, ergänze ich.

Seine Brauen zucken ehrlich überrascht in die Höhe. Dann schaut er auf meine Tasche und lacht auf. »Wahrscheinlich sagt es nichts Gutes über mich aus, dass ich trotz Ihrer ganzen Technik nicht ansatzweise auf die Idee kam, Sie könnten eine Datenspezialistin sein.«

»Es ist immer ein Vorteil, unterschätzt zu werden. Ich hätte Sie auf den ersten Blick auch nicht für einen Flic gehalten.«

Er stutzt, als überlegte er, ob das ein ernst gemeinter Seitenhieb ist. Und ich muss lächeln. Denn längst flirrt eine spannungsgeladene und spielerisch-aggressive Energie zwischen uns. Und um ehrlich zu sein, beginnt dieses Spiel mir Spaß zu machen. Es fühlt sich lebendig an, ein Kräftemessen auf gute Art. »Darf ich Sie weiterhin Tomé nennen oder steigen wir lieber auf das offizielle Monsieur Antoine um?«, setze ich hinzu.

Tomé runzelt die Stirn, als ich ihn mit dem Namen des königlichen Bestienjägers anspreche. Doch dann lacht er auf.

»Wie wäre es damit: Wenn du Flór bist, bin ich einfach Tomé?« Er umfasst seine Kaffeetasse mit der Hand und prostet mir damit zu, als wäre es ein Weinglas. Mir fällt zum ersten Mal auf, dass er schöne Hände hat, kräftig, mit langen, schlanken Fingern und sehr gepflegten Nägeln. Aber es sind Jägerhände, die Waffen halten . Der Gedanke stört in meinem Zwerchfell ein Kribbeln wie von elektrischen Schmetterlingen auf. Seltsamerweise fühlt dieses Echo von Gefahr sich gut an.

»Einverstanden?«, hakt er nach. Ich nicke und besiegle das Du mit einem Schluck Kaffee. Ich wundere mich, dass er genau richtig gesüßt ist. Dabei konnte Tomé Sylvie gar nicht fragen, wie ich meinen Kaffee mag.

»Wer ist der Mann auf deinem Profilfoto wirklich?«, frage ich. »Sein Bild steht im Wohnzimmer.«

»Das war mein alter Herr«, erwidert Tomé. »Er ist vor zwei Jahren gestorben.«

»Dein Vater? Das tut mir leid!«

Doch Tomé winkt ab. »Schon gut, das war schon lange abzusehen. Er war krank. Und ich habe seine alte Jagdhütte und auch die Verwaltung seiner Waffensammlung für den Verein übernommen. Und da ich als jüngster Sohn praktischerweise seinen Vornamen trage, konnte sein Profil einfach bleiben, wie es ist. Er war einer der Gründer der Bestiengesellschaft und auf diese Weise behält er seinen Ehrenplatz.«

»Das heißt, du verwaltest hier im Grunde sein Erbe?«

Vielleicht bin ich damit schon zu persönlich geworden, Tomé nimmt einen langen Schluck Kaffee und schaut mich über den Rand seiner Tasse nachdenklich an. »Was heißt hier im Grunde ?«, fragt er dann. »Es ist auch mein Erbe und damit meine Aufgabe, es zu erhalten. Die Bewahrung von Erinnerungen und Traditionen ist schließlich das, was uns ausmacht und zusammenhält. Es gibt uns erst unsere Identität.«

»Die Bestiengeschichte gibt euch eure Identität?«

»Sie ist Teil davon, ja«, sagt Tomé ruhig. »Auch das gehört zum Erbe der Region.«

»Wie die Throphäen in diesem Raum und der ganze Kult um die Jagden?« Es ist mir rausgerutscht, und leider hört man mein Unbehagen wohl deutlich heraus. Die Pause dehnt sich, aber dann bemerke ich, dass Tomé nicht verärgert ist, sondern einfach nur über die Frage nachdenkt.

»Ja«, sagt er dann schlicht. »Die Jagd ist ein uraltes Erbe, das in jedem von uns steckt. Aber hier in meiner Heimat hat sie eben noch eine besondere historische Bedeutung. In meinem Fall ist sie zudem eine Familientradition. Alle Oulier-Männer sind damit verbunden. Ich bekam zum achtzehnten Geburtstag mein erstes Jagdgewehr. Mein Großvater war Förster und nahm mich oft mit auf seine Touren. Er sagte immer, die Natur muss im Zaum gehalten werden, sonst frisst sie uns früher oder später auf.«

Sicher nicht die Rehe , denke ich und schaue verstohlen hinaus zu den wolfsähnlichen Hunden, die nun am Zaun entlanglaufen.

»Sylvie sagte aber, du gehst nicht gern auf die Jagd?«, frage ich leise.

Tomé lächelt auf eine Art, die ich nicht deuten kann. »Kommt darauf an, wie man das Jagen definiert. Ich war nie ein Trophäensammler, falls du darauf anspielst. Und ich würde mir keine ausgestopften Tiere an die Wände hängen, die stammen zum Teil noch von meinem Großvater. Sie waren ein wichtiger Teil seines Lebens, also sind sie es wert, aufbewahrt zu werden. Aber es geht nicht darum, ob ich gerne Jäger bin. Ich bin es einfach – genau wie du.«

»Wie meinst du das?«

»Alle Menschen sind Jäger«, sagt Tomé ernst. »Es liegt einfach in unserer Natur. Wir jagen alle etwas – manchmal auch nur Geld, Ruhm, Anerkennung oder die Wahrheit. Dein Revier ist die digitale Welt, aber das Prinzip ist das Gleiche: Du folgst der Fährte, du spürst dein Ziel auf, du bringst es zur Strecke.«

Meine Wangen glühen, so sehr sträubt sich alles in mir gegen Tomés Vergleich. Und noch deutlicher schwirrt der elektrische Falter in meinem Bauch. Nur, dass es sich diesmal kein bisschen gut anfühlt.

»Ich jage nicht, ich suche «, korrigiere ich mit Nachdruck. »Und es ist immer noch ein Unterschied, ob es um digitale Daten und Fakten geht oder ob man etwas verfolgt, was lebt!«

»Mag sein«, räumt Tomé mit einem Schulterzucken ein. »Aber ich für meinen Teil sehe mich als Jäger, auch wenn ich schon lange keine Tiere mehr erlege, sondern – wie du – Kriminellen auf der Spur bin.« Mit einem Statement-Klack stellt er seine leere Tasse auf den Tisch und beugt sich vor. »Aber du bist ja nicht hergekommen, um Grundsatzdiskussionen zu führen«, sagt er dann freundlich. »Also: Was ist das für ein Gewehr, das dir so wichtig ist, dass du dafür extra nach Frankreich reist?«

Es ist immer noch irritierend, wie schnell er von einer Stimmung auf die nächste umschalten kann. Ich dagegen bin immer noch aufgewühlt und gebe mir Mühe, es zu verbergen. Meine Finger zittern dennoch ein wenig, als ich das Handyfoto heraussuche. Tomé zoomt auf dem Handy Details heran und betrachtet sie lange. »Ungewöhnliche Verzierungen«, sagt er. »Ansonsten ist es ein üblicher Vorderlader aus der Zeit von Louis XV . Für Laien kurz erklärt heißt das, dass man die Rundkugeln aus Blei, die man damals als Munition verwendete, von vorne in den Lauf schob.«

Er steht auf und holt mehrere kiloschwere Kataloge aus dem Regal, die er auf den Tisch wuchtet. Darin sind Hunderte von blassen Schwarz-Weiß-Fotos, die er nun durchblättert.

»Ist das etwa die berühmte Waffensammlung, von der Camille sprach?«, frage ich.

»Ja und nein«, murmelt Tomé, ohne aufzublicken. »Unser Verein hat auch eine eigene Sammlung historischer Waffen, die allerdings noch in verschiedenen Kellern lagern – unter anderem auch in Cyrilles Museumskeller. Wir planen, sie irgendwann in einem eigenen Jagdmuseum auszustellen. Und alle Gewehre und Pistolen, die in unserer Region hergestellt wurden und zur Zeit der Bestienjagden in Gebrauch waren, sind in den Katalogen aufgeführt.«

»Wäre es nicht einfacher, eine digitale Datenbank zu erstellen? Man könnte in Sekunden filtern und suchen. Ihr würdet viel Zeit und Lagerplatz für den Papierkram sparen …«

Ich verstumme, als Tomé mir einen stirnrunzelnden Seitenblick zuwirft. »Ehrlich gesagt mag ich es, ein richtiges Buch in der Hand zu haben«, sagt er und blättert weiter.

Willkommen im analogen Dorf der Gallier , denke ich bei mir.

»Hier, das ist zumindest schon mal der genaue Typ deines Gewehrs.« Tomé tritt heran und legt den aufgeschlagenen Katalog vor mir auf den Tisch. »Hergestellt um 1740 herum. Das Modell wurde gern von Scharfschützen benutzt – wobei das bei diesen Waffen relativ war. Sie waren mit ihren glatten Läufen nicht zielgenau, vor allem wenn die Kugeln nicht ganz rund gegossen waren. Dann konnte es sein, dass das Geschoss einen Drall bekam und ganz woanders landete. Siehst du dieses Bauteil hier?«

Er tippt mit dem Zeigefinger auf die Metallkonstruktion über dem Abzugsbügel. »Das ist der Schlagmechanismus. Am Hahn des Schlosses ist vorne ein Feuerstein eingespannt. Wenn er auf das Metall der Batterie auftrifft, entsteht ein Funke. Der entzündete das sogenannte Zündkraut und löste damit den Schuss aus. Die Explosion des Schwarzpulvers im Gewehrlauf schleuderte die Kugel im besten Fall genau in Richtung Ziel.«

Danke, so genau wollte ich es gar nicht wissen. Jetzt habe ich ganz neue Details für meine Albträume.

»Der Hahn deiner Waffe scheint allerdings eine ungebräuchliche Form zu haben«, fährt Tomé fort. »Aber dazu müsste ich mehr Details sehen. Hast du die Originalzeichnung noch?«

Ich zögere. Die Kladde befindet sich zwar in meiner Tasche, aber es fühlt sich nicht richtig an, einem Fremden Einblick in Margots privateste Aufzeichnungen zu geben. »Ist das Foto nicht scharf genug? Du kannst es auf den Laptop ziehen und vergrößern …«

Ein rasselnder Schlag unterbricht mich. Der braune Hund ist seitlich gegen das Gitter vor der Terrassentür geprallt. Direkt vor der Tür balgen sich die beiden Tiere um ein buntes Hundespielzeug. Durch die Scheibe dringt lautes Knurren und ich bin geschockt, wie bösartig der schwarzgraue Hund plötzlich aussieht, als er die Lefzen zurückzieht. Ich fröstle, als lange weiße Fänge aufblitzen. Auch das Weiße in seinen Augen ist zu sehen. Nichts erinnert hier an das freundliche Lächeln von Retrievern und anderen Haushunden. Das ist die Mimik aggressiver Raubtiere.

Tomé grinst nur. »Loubards« , sagt er. Rowdys . Und wendet sich wieder ruhig meinem Foto zu.

Ich dagegen wage erst wieder zu atmen, als der braune Hund aufgibt und beide Tiere sich von der Terrasse entfernen.

»Hast du die Hunde auch von deinem Vater geerbt?«, frage ich atemlos.

Tomé lacht auf, als hätte ich einen guten Witz gemacht. »Wolfshybriden hätte er nicht mal mit der Kneifzange angefasst«, gibt er zurück. »Du siehst ja, die verhalten sich nicht wie Haushunde. Sie haben eine ganz andere Körpersprache, dazu gehören die Drohgebärden, das gesträubte Fell und das Zähnefletschen, das Knurren – und sie heulen auch wie Wölfe. Das Zähnezeigen sieht aggressiv aus, ist aber einfach eine sehr klare Art der Kommunikation. Je höher der Anteil der Wolfsgene ist, desto mehr Wildnis steckt auch meist in den Mischlingen. Aber selbst die mit wenig Wolfsblut sind für Überraschungen gut, wenn das Wildtier dann doch in ihrem Verhalten durchschlägt. Das sieht man an Ors – das ist die Braune. Genetisch gesehen hat sie zwar weit weniger Wolfsgene als Fada, aber viel geben sich die beiden nicht.«

Ich muss erst noch einen Schluck Kaffee nehmen, um zu verkraften, was er mir eben erklärt hat. »Das heißt, du hältst dir Wolfsmischlinge?«, sage ich leise. »Warum?«

»Tja, warum?«, sagt Tomé sarkastisch. »Weil sich immer irgendwo ein Idiot über den Internet-Schwarzmarkt einen Wolf fürs heimische Sofa besorgt und dann feststellt, dass man ihn nicht wie einen gewöhnlichen Haushund im Wohnzimmer halten kann. Leider gibt es immer mehr Leute, die sich solche Kreuzungen viel Geld kosten lassen und dann nicht mit den Tieren klarkommen. Der Handel mit illegalen Zuchten blüht mittlerweile in Holland, in den USA , in Deutschland – und zunehmend auch in Frankreich. Aber mit diesen Tieren muss man umgehen können. Dressieren lassen die sich nämlich so gut wie nie und sie schlafen auch nicht wie Schoßhunde friedlich auf dem Sofa. Ein Hund springt zudem nicht einfach durch ein geschlossenes Fenster, die zwei da draußen schon. Und wenn sie allein im Haus wären, bräuchten sie keine Stunde, um die Einrichtung komplett zu zerstören.«

Überrascht stelle ich fest, wie sehr er sich in Rage geredet hat. Seine Augen funkeln vor Ärger und seine Körpersprache ist energisch geworden, temperamentvoll, wie ich es bisher von dem beherrschten Tomé nicht kenne. »Fada kam zu mir, weil sie beschlagnahmt wurde«, fährt er fort. »Ihr Besitzer hatte sie über eine Internetbörse gekauft, mit Papieren, die sie als Mischling zwischen Schäferhund und Husky auswiesen. Aber der Gentest zeigte, dass die Papiere gefälscht waren – wie üblich bei diesen illegalen Zuchten. Sie ist zu einem Viertel Wolf. Damit gilt sie vor dem Gesetz noch als Wildtier und nicht als Hund und steht damit unter Artenschutz. Tierheime sind darauf nicht ausgelegt. Und wir haben hier zwar den Wolfspark von Gévaudan in der Nähe, aber die nehmen natürlich keine Mischlinge auf. Genau aus diesem Grund sind die beiden erst einmal hier: Ich kann sie wie gesetzlich vorgeschrieben im Freigehege halten.«

»Dann hast du hier so etwas wie eine Auffangstation.«

Tomé seufzt. »Zumindest ist es eine Übergangslösung, bis ein besserer Platz für sie gefunden wird. Bei Fada mache ich mir da allerdings nicht viele Hoffnungen, sie ist zu sehr Wildtier. Ors ist zahmer und menschenbezogener. Sie wurde in der Nähe eines Waldparkplatzes bei Mende aufgegriffen. Ihr Besitzer hat sich nie gemeldet, vermutlich hat er sie einfach freigelassen, als er nicht mit ihr klarkam. Sie hat ein paar Grauwolf-Gene, ist aber Menschen gegenüber weniger scheu als Fada.«

Noch ein Argument gegen Renates Vorschlag für Sonntagsspaziergänge im Grünen . Allein die Vorstellung, zufällig auf ausgesetzte Tiere wie Ors und Fada zu treffen, reicht für Gänsehaut. »Hast du ihnen ihre Namen gegeben?«

Tomé lächelt schmal. »Ja. Ors ist Okzitanisch für Bär. Und Fada ist eine keltische Fee der Wälder. Die sind nicht so lieblich wie die griechischen Nymphen. Nein, unsere Feen haben Krallen und Zähne.« Bei diesen Worten ist er aufgestanden und geht hinüber zur Terrassentür. »Stimmt’s, mein Mädchen?«, ruft er, während er die vergitterte Tür öffnet und einfach hinaustritt. Die Tiere springen sofort auf ihn zu. Auch Fada zeigt bei ihm wenig Scheu. Für mich sieht es so aus, als würden die Wolfshunde ihn bedrängen, mit so viel Wucht und Körperkontakt umspielen sie ihn, versuchen mit den Schnauzen sein Gesicht zu erreichen. Mir fährt ein Schauer über den Rücken, als Fada sogar ein raues Heulen von sich gibt. Aber Tomé bleibt völlig entspannt. »Willst du rauskommen?«, fragt er über die Schulter. »Die sind friedlich und ich bin dabei, also keine Angst.«

»Nein«, stoße ich hervor. »Nein, ich … bleibe hier.«

Beim Klang meiner Stimme hält Fada im Spiel inne und schaut mich an. In dem schwarzen Fell scheinen die bernsteinfarbenen Wolfsaugen regelrecht zu glühen. Für ein paar Sekunden starre ich der Wildnis direkt in die Augen, dann duckt die Wölfin sich und huscht scheu zur Seite davon. Ich atme auf, als Tomé wieder reinkommt und die Tür schließt. »Da siehst du es«, sagt er. »Fada zeigt typisches Wolfsverhalten, das kann man ihr auch nicht abtrainieren. Wilde Wölfe, die nicht von Menschen angefüttert wurden, sind scheu und wollen von uns nichts wissen, und erst recht sind sie keine Gefahr für uns. Sie gehen auf Abstand und bleiben am liebsten unsichtbar.«

Unsichtbar? Immer noch sitzt mir Fadas Blick im Nacken. Meine Haut kribbelt wie in einem Schreckschauer. Doch seltsamerweise ist es keine Furcht, sondern ein neues Gefühl, das ich noch nicht einordnen kann. Ein Riss im erstarrten Magma, ein Ziehen im Herzen, im Zwerchfell, eine Sehnsucht, die ich schon so lange nicht mehr spürte und die nicht sein darf.

»Alles klar?«, fragt Tomé und setzt sich wieder. »Du bist ganz blass.«

Ich weiche hastig seinem Blick aus und verstecke mein Gesicht hinter der Kaffeetasse und den Haarsträhnen, die mir über die Wangen fallen. »Alles okay. Ich dachte gerade nur daran, dass … die Bestie ja vielleicht auch ein Wolf war.«

Tomés Miene verfinstert sich so jäh, als wäre ein Schatten darauf gefallen. »Zumindest will Cyrille Richard das beweisen.« Er schnaubt verächtlich. »Aber egal, was er und seine Anhänger verbreiten, Wölfe waren es nicht. Kein einziger Angriff von damals entspricht ihrem typischen Jagdverhalten.«

»Ich habe gelesen, dass eine Autopsie der Bestie gemacht wurde. Und dass sie …«

»… den Maßen des Kopfes und des Kiefers nach zu urteilen vermutlich ein Wolfsmischling war? Ja, schon möglich, das würde auch eher zu manchen Angriffsbeschreibungen passen, die eher Attacken von Kampfhunden entsprechen. Aber selbst wenn einige Todesfälle von damals wirklich auf das Konto eines Wolfshybriden gehen sollten, tun wir den Wölfen, die gerade in Europa wieder heimisch werden, keinen Gefallen, indem wir diese Ausnahmefälle zur einzigen Erklärung hochspielen. Noch mehr Schaden richten die Crétins an, die sich in heutiger Zeit ohne Sinn und Verstand Hybriden anschaffen, mit denen es dann schon mal zu Zwischenfällen kommt. Dann zieht man wieder Rückschlüsse, dass die echten wild lebenden Wölfe sich genauso bissig verhalten und für den Menschen gefährlich sind.«

Tomés Augen blitzen vor Zorn. Die Art, wie er für sein Thema und seine Überzeugung brennt, facht auch in mir etwas an. Etwas Lebendiges, das mich hellwach sein lässt. Und ich verstehe nun, was Cyrille Richard und ihn bei diesem Thema zu Gegnern macht.

»Entschuldige«, murmelt Tomé. »So genau wolltest du es nicht wissen, aber bei diesem Thema kocht mir immer das Blut hoch.«

Und genau das gefällt mir an dir. »Engagierst du dich auch deshalb in der Gesellschaft zur Aufklärung des historischen Falls? Um zu beweisen, dass die Wölfe damals unschuldig waren?«

Tomé schüttelt entschieden den Kopf. »Ich verschwende keine Zeit auf Fälle, die sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren lassen. Dafür ist die Beweislage zu dünn.«

»Aber auf welcher Seite stehst du dann?«

Tomé lächelt kühl. »Auf der Seite der Wirklichkeit. Wahrheiten gibt es nämlich immer mehr als genug. Deine Wahrheit ist vielleicht, dass deine Kaffeetasse halb leer ist. Meine Wahrheit, dass sie halb voll ist. Doch die Wirklichkeit sagt, sie fasst zweihundertfünfzig Milliliter und beinhaltet zum jetzigen Zeitpunkt exakt hundertfünfundzwanzig Milliliter. Deshalb interessiert mich nur die Handvoll Morde, die zwar der Bestie zugeschrieben werden, aber eindeutig eine menschliche Handschrift tragen.«

»Du meinst, einige der Todesfälle von damals könnten auf das Konto eines menschlichen Mörders gehen?«

Tomé deutet ein Nicken an. »Pour couper une tête, il faut de la force, de l’intelligence … et un outil «, sagt er. Um jemanden zu enthaupten, braucht man Kraft, Intelligenz … und ein Werkzeug . »Und das sagt nicht nur André Aubazac«, fügt Tomé hinzu. »Auch andere Forscher gehen von einem möglichen Serienmörder aus. Nur eindeutig beweisen konnte diese These noch keiner.«

Mein Blick schweift zur Karte der Tatorte, an denen Tomé die Markierungswimpel angebracht hat. Und warum suchst du nach Mördern, die schon seit 250 Jahren tot sind? Die Frage liegt mir auf der Zunge, aber eine seltsame Scheu hält mich davon ab, sie laut zu stellen. Sie kommt mir zu persönlich vor, zu direkt. Und vielleicht fürchte ich mich ja vor einer Antwort, die Tomé zu einem Jäger machen würde, der mir Angst einflößt.

»Kommt dir wohl seltsam vor, dass ich mich damit beschäftige?«, bricht Tomé die Stille. Er hat wirklich gute Antennen. Und auch wenn ich ihm ausweiche, spüre ich seinen aufmerksamen Blick auf mir ruhen.

»Ehrlich gesagt kommt mir der ganze Hype um die Bestiengeschichte seltsam vor«, erwidere ich vorsichtig. »Jedes Dorf hat seine eigene Skulptur und jeder, der hier lebt, eine andere Theorie. Überall stößt man darauf, als wäre das nicht schon Jahrhunderte her …«

»Hype?« Tomés schüttelt verärgert den Kopf. »Es ist die offene Wunde dieser Region. Der französische Jack the Ripper. So sehe ich es zumindest. Und sicher ist das auch der Grund, warum diese Verbrechen bis heute die Leute so sehr beschäftigen.«

Du trennst Privates und Berufliches kein bisschen , denke ich. Verbeißt du dich deshalb in die Serienmörder-Theorie? Um als Mann zu glänzen, der den Ripper-Fall Frankreichs gelöst hat?

»Ich glaube daran, dass es wichtig ist, jeden Mord aufzuklären, egal, wann er geschah«, fährt Tomé fort. »Denn auch wenn der Täter Vergangenheit ist, seine Tat ist es nicht. Es gibt alteingesessene Familien bei uns, in deren Geschichte heute ein ungelöstes Verbrechen nachhallt.«

»Und was ist, wenn du herausfindest, dass der Täter einer deiner eigenen Vorfahren war?« Ich weiß nicht, was mich reitet, ihm diese provokante Frage zu stellen. Wieder scheint die Luft zwischen uns wie unter Spannung zu knistern. Tomé zieht die Stirn kraus und sieht mich nicht besonders freundlich an. Doch die unwillige Antwort, die er schließlich gibt, hätte ich nicht erwartet.

»Warum zum Teufel soll das eine Rolle spielen? Es geht nur um die Opfer! Ein ungelöster Mord öffnet ein Grab in den Familien, das sich erst schließen kann, wenn klar ist, was wirklich passierte. Und wenn es irgendein Oulier-Vorfahr gewesen wäre, dann wäre ich es den Opfern doch erst recht schuldig, ihnen mit einer Antwort Ruhe und Würde zurückzugeben. Sie waren nämlich Menschen, keine Pappfiguren wie in Richards Museum.«

Es ist dieser Moment, in dem ich weiß, dass ich ihm vertrauen will. Doch Tomé deutet mein schweres Schlucken und mein Schweigen wohl falsch. Er schnaubt und trinkt verstimmt seinen Kaffee aus. Dabei lasse ich nur seine Worte in mir nachklingen. Ich muss mich räuspern, um sprechen zu können, so berührt bin ich immer noch. »Dann … sind wir gleicher Meinung, was die Würde der Ermordeten angeht«, sage ich leise. »Wie viele Fälle hast du?«

Er schaut mich kritisch an, als würde er überlegen, ob ich nun diejenige bin, die sein Vertrauen verdient. Doch schließlich steht er auf und tritt zur Karte. »Drei, bei denen man mit der Faktenlage zumindest ansatzweise arbeiten kann. Zwei davon im Dreieck Chaliers – La Bessaire – Ruynes en Margeride im Abstand von wenigen Wochen.«

Dort in der Gegend liegt auch Margots Land , denke ich. Im Raum scheint es kühler und auch dunkler geworden zu sein, was aber vielleicht nur daran liegt, dass draußen die Sonne hinter die Wolken gekrochen ist.

»Ich habe mir die Gegend hinter Ruynes im Reiseführer angeschaut«, sage ich. »Vielleicht stammt ein Vorfahre von mir von dort.« Einige Sekunden zögere ich noch, aber dann gebe ich mir einen Ruck, hole die Kladde hervor und schlage die Zeichnung mit dem Gewehr auf. »Das ist die Originalzeichnung, nach der du gefragt hast. Meine Großmutter wollte vor Gericht beweisen, dass unsere Familie von einem Zweig der Grafenlinie d’Apcher abstammt. Vielleicht hat das Gewehr hier einem meiner Vorfahren gehört.«

Tomé tritt neben mich und beugt sich über das Buch. Mit schmalen Augen scannt er die Details und bleibt an Margots handschriftlichen Zeilen hängen. »Fürchte nicht die Wölfe, fürchte die Jäger «, murmelt er. »Hat das deine Großmutter geschrieben?«

Ich nicke. Immer noch fühlt es sich an, als würde ich ihm einen Blick in ein intimes Tagebuch gewähren.

»Was meinte sie damit?«, will er wissen.

»Das will ich ja gerade herausfinden. Ich hatte gehofft, dass die Waffe etwas darüber verrät.« Die Waffe, von der ich träume, seit ich denken kann . Aber das spreche ich wohlweislich nicht laut aus. »Und dann habe ich noch das hier.« Ich blättere die Seite um. »Ein Reliquiar, das vielleicht Gräfin Irène d’Apcher gehört hat. Sie lebte genau zu Zeiten der Bestienjagden.«

»Ich weiß«, sagt Tomé knapp. »Roux hat die Jagden schließlich mitfinanziert. Darf ich?«

Er zieht die Kladde zu sich heran. Mein Herz schlägt noch schneller, als er stumm Margots Zeilen unter der Zeichnung des Reliquiars studiert. Ich brauche sie nicht zu lesen, längst kenne ich sie auswendig. Aber wo liegt hier die Gerechtigkeit, Herr? Ich bin nicht diejenige, die gesündigt hat, dennoch trage ich wie Hiob demütig den Fluch von Roux d’Apcher .

Tomé hebt den Kopf und schaut mich mit so einem intensiven Blick an, dass ich fast zurückzucke. Es ist, als würde man in die Sonne treten, so deutlich strahlt die fiebrige Energie, die Tomé zu eigen ist, von ihm ab. »Was für ein Fluch soll das sein?«

Auch hier kann ich nur ratlos die Schultern heben. »Vielleicht das offene Grab meiner Familie? Mit diesem Reliquiar wollte meine Großmutter nachweisen, dass Roux d’Apchers Sohn Lucien ihr Ahne war. Sie hatte noch ein Dokument dabei, das wohl alles erklärte. Aber beides wurde ihr in Saugues gestohlen.«

Tomé runzelt kritisch die Stirn. »Ich bin kein Historiker, aber soweit ich weiß, starb Rouxs Linie mit ihm aus. Was sollte das Dokument dann beweisen?«

»Wenn ich das wüsste, säße ich nicht hier. Ich wollte nachforschen, aber Marie-Jeanne Saby hat mich in der Stadtverwaltung abblitzen lassen. Doch … Ich schätze, jemand von der Polizei könnte zumindest mal prüfen, ob es überhaupt noch eine Akte über den Diebstahl des Reliquiars gibt.«

Tomés Miene verschließt sich sofort. Ich kann seine Gedanken fast lesen. Jedenfalls weiß ich, was ich an seiner Stelle denken würde.

»Und du denkst, dieser Jemand von der Polizei könnte ich sein?«, sagt er unwillig. »Warum sollte ich in irgendwelchen alten Diebstahlsfällen herumstöbern?«

»Du hast eben selbst gesagt, dass der Comte d’Apcher die Jagden mitfinanziert hat. Es gibt ein Gewehr und ein Reliquiar. Und das Dokument dazu war offenbar brisant genug, dass jemand es stehlen musste. Vielleicht hat Margot ja bei der Anzeige angegeben, was in dem Dokument stand? Und möglicherweise ist es etwas, was auch für dich interessant sein könnte. D’Apchers Adelssitz befand sich schließlich in genau dem Gebiet, in dem auch dein Serienmörder am Werk war.«

Das ist ein kompletter Schuss ins Blaue, aber jetzt habe ich zumindest seine Aufmerksamkeit. Ohne ein Lächeln sieht er mich mit gerunzelter Stirn an.

»Angenommen, ich erkundige mich nach der Akte«, sagt er nach einer Weile. »Was bietest du mir dafür?«

Mir ist völlig klar, dass er nicht Geld damit meint. Das ist nicht die Währung, mit der du handelst, Antoine .

»Informationen«, erwidere ich. »Alles, was ich über meine vermeintlichen Vorfahren herausfinde, teile ich mit dir. Und falls meine Großmutter etwas Brisantes über die d’Apchers oder den Bestienfall wusste, gehören die Fakten dir. Entweder für deine eigenen Nachforschungen zu den Mordfällen – oder für das Geschichtsarchiv eures Vereins. In beiden Fällen ein guter Preis für einen kurzen Telefoncheck bei deinen Kollegen, meinst du nicht?«

Ich kann den Ausdruck in Tomés Augen nicht deuten. Seine Miene bleibt unbewegt, doch die Spannung ist fühlbar. Für einen Moment bin ich sicher, er wird den Kopf schütteln und mich verärgert nach Hause schicken. Aber plötzlich fragt er: »Wie lange bist du noch hier?«

»Ein …. paar Tage, auf jeden Fall noch bis zum Wochenende.«

Noch einmal überfliegt er Margots Worte. Und als er sich mir wieder zuwendet, sehe ich ihm an, dass er Feuer gefangen hat. »Also schön, ich erkundige mich nach der Akte. Morgen habe ich allerdings frei, also kann ich mich frühestens am Dienstag darum kümmern. Und nur, damit wir uns richtig verstehen: Sollte etwas für mich Relevantes dabei herauskommen, dann gibst du die Fakten auch zur Veröffentlichung frei. Und zwar alle Fakten.«

Nun zögere ich doch. Die Fleur, die ich noch vor einigen Tagen war, hätte sofort den Kopf geschüttelt und den Rückzug angetreten. Weil Fakten das Letzte sind, womit ich handle – vor allem, wenn sie meine Familie betreffen. Aber dann mache ich mir klar, dass das, was vor Jahrhunderten im Haus d’Apcher geschah, weder eine Verbindung zu den Durands noch zu Familie Roland erkennen lässt.

»Ich willige nur unter einer Bedingung ein«, sage ich in die Stille. »Es geht hier nur um die d’Apchers. Mich lässt du völlig außen vor. Egal, was du veröffentlichst, ich bin dabei nicht existent und komme in keinem Bericht vor. Es wird keine Hinweise geben, keine Namenskürzel, keine Andeutungen, woher du die Infos hast. Was mich und meine Großmutter betrifft, legst du die Quellen nicht offen. Und auch die Zeichnungen von Margot Durand bleiben privat. Kann ich mich auf dein Wort verlassen?«

Tomé streckt mir die Hand hin. »Wenn ich mich auch auf deines verlassen kann, Flór?«

Ich mag es immer noch, wie mein keltischer Name aus seinem Mund klingt. Und als ich seine Hand ergreife, ist es Kräftemessen und Versprechen zugleich. Sein Händedruck ist warm und stark und ich spüre wieder die hitzige Energie, die von Tomé abstrahlt. Sie springt auf mich über, lässt mein Herz rasen, macht mich unruhig und auch ein wenig euphorisch. Denn mit diesem Versprechen bekommt Margots Geschichte eine Wirklichkeit, die bisher nur ein Traum und eine Ahnung war.