Hexenhaus

Während ich mit Pierre in die Baumkronen geschaut habe, hat Tomé in den frühen Morgenstunden vor seinem Dienst ganze Arbeit geleistet. Innerhalb weniger Tage hat er so viel über Irènes bischöfliche Verwandtschaft zusammengetragen, dass wir es heute kaum schaffen werden, alle Listen, Verzeichnisse und Einträge in einen Zusammenhang zu bringen. Inzwischen sieht das Arbeitszimmer aus wie das Police Department in einer New Yorker Cop-Serie der Achtziger. Der Kuchen steht halb aufgegessen auf dem Tisch, die erste Weinflasche ist schon leer und ich sitze auf dem Boden zwischen Papieren, den Rücken an die Couch gelehnt. Tomé ergänzt an der Wand mit Filzstift Daten an der Zeitleiste, die wir erstellt haben. Er bemerkt gar nicht, dass ich ihn immer wieder fasziniert beobachte. Tomé gehört zu den Männern, die genau wissen, wie sie wirken. Aber ihm ist sicher nicht bewusst, wie attraktiv er ist, sobald er aufhört, sich in Szene zu setzen und einfach nur im Flow und völlig fokussiert ist, weil er für seine Sache brennt.

»Zwei Tage«, sagt er nun. »So lange dauerte die Jagd. Und genau hier fand einer der Jäger das blutige Stück Schürze von Claire. Zwanzig Kilometer von diesem Punkt.« Er macht ein Edding-Kreuz in dem Waldstück nördlich vom Schloss.

»Jedenfalls ergibt es jetzt einen Sinn, warum Irène die Jagd veranstaltete«, bemerke ich. »Sie wollte ihre Bedienstete finden.«

»Wäre eine Variante«, erwidert Tomé, ohne sich zu mir umzudrehen. »Aber man sollte sich nie in die einfachste Möglichkeit verbeißen.«

Du hörst dich an wie Cop Martin, denke ich bei mir. Mein Vater wäre von Tomé wirklich angetan. Kurz bin ich versucht, die Ermittlungswand abzufotografieren, um meinem Beau-père das Bild zu schicken. Doch beim Gedanken an ihn fällt mir auch der Satz ein, den er mir bei unserem Telefonat über Irène und die Morde sagte: »Unterschätze nie den Schatten einer Person.«

»Du hattest mal angedeutet, dass du auch Adelige als Täter in Betracht ziehst«, sage ich zu Tomé. »Glaubst du, die d’Apchers selbst könnten indirekt mit Claires Verschwinden zu tun haben?«

Tomé lacht nur auf. »Indirekt? Willst du damit sagen, Roux hat sie im Wald ausgesetzt?«

»Nein. Aber … vielleicht hat Claire das Schloss verlassen, weil sie wegwollte. Der Anwalt aus Puy en Velay sagte, Roux war auch als Wüstling bekannt.«

»Wenn, dann hatte er unter christlichen Leuten den Ruf als heidnischer Wüstling. Und das bedeutet nur, dass er vom gleichen Schlag war wie seine Bauern. Er war pragmatisch und wusste, wie er mit ihnen reden muss. Natürlich gab es auch die Adeligen, die ihre Macht ausspielten und gewalttätig waren. Comte de Morangies war so ein Kandidat, und er wurde von seiner eigenen Mätresse vergiftet. Aber die meisten Seigneurs waren weder Sadisten noch Psychopathen und pflegten ein gutes Verhältnis zu ihren Leuten. Vielen Bediensteten brach es das Herz, als ihre Herrschaften während der Revolution verhaftet wurden oder fliehen mussten. Nein, Roux war beliebt bei der Bevölkerung hier. Und er tat nachweislich alles, um die Leute zu beschützen. Wird also schwierig sein, ihm nachzuweisen, dass er sich an der Zofe seiner Frau vergreifen wollte – obwohl man natürlich nie eine Möglichkeit ausschließen sollte.«

»Und … wenn die Gräfin für Claires Tod verantwortlich war?«, sage ich leise.

Tomé wendet sich überrascht zu mir um. »Weißt du etwas, was ich nicht weiß?«

»Nein«, murmle ich und lege meine Ausdrucke entnervt zur Seite. Langsam steigt mir das Karussell der Theorien zu Kopf. »Ich überlege nur … Was, wenn Claire und Roux zusammengekommen sind? Er hat zu der Zeit ja das Schloss nicht mehr verlassen. Claire und er müssen sich also ständig begegnet sein. Und vielleicht entwickelten sie Gefühle füreinander und sie wurde von ihm schwanger. Für Irène wäre Ehebruch eine Todsünde gewesen. Und ein Kind als lebender Beweis dieser Sünde eine Schande.«

»Mord wäre für sie aber erst recht eine Sünde gewesen«, gibt Tomé zu bedenken. »Und warum sollte sie die Jagd veranstalten, wenn sie das Mädchen getötet hat?«

»Um über jeden Verdacht erhaben zu sein? Oder um doch endlich dieses großartige Gewehr mit den Kugeln voller Gussdellen auszuprobieren? Rachsucht, Eifersucht und Gerechtigkeitswahn können doch ein explosives Gemisch sein.«

Tomé lacht auf und schenkt sich ein weiteres Glas ein. Dann kommt er zu mir herüber und lässt sich neben mir auf dem Boden nieder. »Flór, kann es sein, dass du zu viele schwedische Krimis siehst?«

»Das brauche ich gar nicht. Ein Klick im Internet genügt. Dagegen ist Nordic Noir das reinste Kinderkino. Santé! «

Tomé hebt ebenfalls sein Glas und trinkt einen Schluck, dann lehnt er sich an die Couch und streckt die Beine aus. Schulter an Schulter sitzen wir da und betrachten die Ermittlungswand.

»Sie hätte es nicht mal selbst tun müssen«, sage ich mehr zu mir selbst als zu Tomé. »Im Märchen hat die böse Königin ihrem Jäger befohlen, Schneewittchen in den Wald zu bringen und dort zu töten.«

»An einen Bediensteten im Schloss hatte ich auch schon gedacht«, murmelt Tomé. »Roux hatte zwei Jäger an seinem Hof, einer davon kümmerte sich auch um die Hundemeute, die speziell für die Wolfsjagd ausgebildet war. Für einen solchen Täter wäre es ein Leichtes gewesen, in diesem Umkreis zu morden.«

»Aber wäre ein Jäger so dumm gewesen, jemanden vom eigenen Hof zu töten?«, überlege ich. »Noch dazu die Zofe seiner eigenen Herrin?«

»Du würdest nicht glauben, wie leichtsinnig manche Mörder werden, sobald sie sich einbilden, allen überlegen zu sein.«

In meiner Tasche surrt mein Handy. Doch bis ich mich aufgerappelt und sie geholt habe, hat das Klingeln längst wieder aufgehört. Dafür trifft nun eine kurze Nachricht von Pierre ein. Habe versucht, dich anzurufen, Chardon . Ich bin morgen unterwegs und erst am Montagnachmittag wieder da. Aber wenn du in den Trailer willst: Schlüssel liegt hinter dem großen Mauerstein. Bis bald! Gruß, P.

»Macht dein fester Freund aus Deutschland sich Sorgen, wo du abgeblieben bist?«, fragt Tomé völlig direkt. Ich verberge sofort das verräterische Lächeln, das sich bei Pierres Nachricht ganz von selbst auf mein Gesicht geschlichen hat und stecke das Handy wieder ein. »Ich habe es gerade nicht so mit festen Beziehungen«, sage ich.

»So?« Tomé mustert mich mit schmalen Augen. Und ich weiß nicht, warum ausgerechnet jetzt wieder die elektrischen Falter in meinem Zwerchfell lossirren. »Willst du ihn nicht wenigstens zurückrufen?«, sagt Tomé. »Oder sollte er lieber nicht wissen, dass du bei einem anderen Mann bist?«

»Erstens: Du bist hier nicht der andere Mann «, gebe ich spöttisch zurück. »Und zweitens: Tut mein Beziehungsstatus für unsere Ermittlungen etwas zur Sache, Monsieur le commissaire

Er grinst nur. »Auf Sirona«, sagt er dann und hebt das Glas. »Die stolze Jägerin, die frei die Wälder durchstreift und sich nicht einfangen lässt!«

»Was ist mit dir?«, kontere ich. »Dein Onkel sagte neulich im Café, du seist der ewige Junggeselle. Mögen die Frauen, die dir gefallen, keine Wölfe?«

»Ob du es glaubst oder nicht: Wölfe sind beim Daten ein Bonus. Und wenn ich eine Beziehung wollte, dann hätte ich eine. Aber im Augenblick habe ich Wichtigeres zu tun.« Er grinst. »Dann sind wir also beide glückliche Singles.«

Wenn du wüsstest, wie weit du bei mir danebenliegst!, denke ich nur bei mir. Und sicher hast du ein Adressbuch voller Frauen, die sich liebend gerne Zeit nehmen, sobald du anrufst . Doch ich schätze seine Direktheit. Und ich verstehe ihn nur zu gut. Tomé liebt seine Freiheit und im Moment brennt er für seine Karriere und seinen Glanz. Ruhig betrachten wir einander. Das Schweigen hängt wie ein Komma in der Luft. Doch keiner von uns vollendet den Satz.

Nach einer Weile streckt Tomé sich und steht auf. »Was Claire betrifft, ist aus den Informationen im Moment nicht viel mehr rauszuholen«, wechselt er abrupt das Thema. »Verrätst du mir, was du über Lucien herausgefunden hast?«

Ich nicke und hole meine Unterlagen hervor. »Der Eintrag im Sterbeverzeichnis zeigt eine interessante Abweichung in Bezug auf Lucien«, beginne ich. Tomé stützt sich auf dem Tisch auf, wo ich die Ergebnisse ausbreite. Und während ich ihm erkläre, was dem Schriftexperten aufgefallen ist, kann ich spüren, wie die Atmosphäre sich schlagartig verdichtet. Seine Miene verfinstert sich. Mit einem Mal ist Tomé ernst und hoch konzentriert, fast grimmig. Und als er sich mir zuwendet, ist auch sein Tonfall völlig verändert. »Du hast eine Analyse bei einem deutschen Sprachprofiler in Auftrag gegeben?« Er klingt rau, knapp, regelrecht unwirsch.

»Es ging über eine private Nachfrage und war kein offizieller Auftrag«, antworte ich verwundert.

»Aber du hast alle Informationen einfach weitergegeben?«

Bin ich plötzlich in einem Verhör? , denke ich irritiert. »Natürlich habe ich das. Was ist das Problem?«

»Dass du es nicht für nötig befunden hast, es mit mir abzusprechen, bevor du Unterlagen an externe Fachleute weitergibst«, erwidert Tomé.

Ich hoffe, ich habe mich verhört. »Das klingt ja, als müsste ich dich um Erlaubnis fragen.«

Zu meinem Erstaunen presst Tomé die Lippen zusammen und schnaubt verärgert. »Immerhin hatten wir eine Vereinbarung, schon vergessen?«, sagt er dann sehr deutlich. »Dass es meine Ermittlung ist! Also ist es auch meine Entscheidung, wer Einsicht bekommt.«

»Moment mal! Wir hatten vereinbart, dass du alle Ergebnisse verwerten kannst und ich im Hintergrund bleibe. Und abgesehen davon ist es meine Familiengeschichte, also kann ich fragen, wen ich will.«

»Es sind möglicherweise deine Vorfahren«, korrigiert mich Tomé. »Aber selbst, wenn es so ist, gehört dir deren Geschichte nicht, Flór.«

»Sondern dir?«, entfährt es mir im selben harten Tonfall. »Was soll das? Warum bist du plötzlich so angefressen?«

Tomé fährt sich mit den Fingern hektisch durch das Haar und verschränkt die Hände hinter dem Kopf, als müsste er sich zusammenreißen. Und ich merke wieder einmal, dass hinter seiner beherrschten Fassade viel Temperament kocht. »Du willst, dass wir keine Spiele spielen und keine Geheimnisse haben«, sagt er dann mühsam beherrscht. »Und dann startest du nicht nur eine private Parallelermittlung, sondern sitzt auch noch stundenlang ruhig da und lässt mich Zeit mit Claire verschwenden, statt das hier sofort auf den Tisch zu legen? Hast du eine Ahnung, was ein gefälschtes Todesdatum bedeuten könnte?«

»Ja. Dass Lucien vielleicht früher gestorben ist als offiziell angegeben.«

Tomé sieht mich an, als würde ich völlig auf dem Schlauch stehen. Dann schüttelt er den Kopf und lacht so fassungslos und arrogant auf, dass ich gute Lust hätte, mein Zeug zusammenzupacken und zu gehen.

» , Oulier!«, sage ich mit Nachdruck. »Ich bin hier nicht die angehende Kommissarin im Morddezernat Mende, also rede nicht mit mir, als sei ich unterbelichtet, sondern sprich Klartext.«

Vielleicht ist es ein Kompliment, dass Tomé stutzt, als hätte er tatsächlich vergessen, dass wir keine Polizeikollegen sind. Dann atmet er tief durch und nickt. »Noch mal zum Mitschreiben: Es könnte bedeuten, dass der Junge früher gestorben ist, ja. Aber hast du dir mal die Daten angesehen, die wir bisher von Gabriel de Beauveau haben?«

Er geht zur Ermittlungswand und deutet auf die Informationen, die er vorhin hastig zusammengeschrieben hatte. »Lucien Louis d’Apcher, 1749 bis 1757 «, liest er vor. »Sein Bruder Joseph Etienne d’Apcher lebte von 1765 bis 1771 , den können wir streichen, er tut nichts zur Sache. Aber schau dir das hier an!« Er tippt auf die Jahreszahlen unter dem Namen Gabriel de Beauveau. »Den Mahnbrief schrieb er in seiner kirchlichen Funktion an seinen Schwager Roux. Und zwar im Jahr 1764 . Das war auch das erste Jahr, dass er den Posten und damit auch eine entsprechende Machtposition innehatte. Da war Lucien allerdings schon sieben Jahre tot. Zumindest offiziell. Und jetzt erinnere dich mal daran, wann Irène die Spende an die Kirche getätigt hat.«

Im Augenblick stehe ich wirklich auf dem Schlauch. »1768 «, murmle ich. »Glaubst du etwa, da gibt es eine Verbindung?«

Tomé nickt. »Möglicherweise war die Spende eher so etwas wie Schweigegeld, weil Irène und Beauveau den Todeszeitpunkt mit dem Wissen der örtlichen Kleriker fälschten. Beauveau war in ihren letzten Lebensjahren Irènes geistlicher Berater und Vertrauter.«

Ich schlucke. »Aber das hieße doch, er hätte den Eintrag erst mehrere Jahre nach Luciens eigentlichem Tod eingefügt.«

Und dann sagt Tomé etwas, was mich wie ein elektrischer Schlag durchfährt.

»Es könnte sogar heißen, dass Lucien gar nicht tot war, als Gabriel de Beauveau die Sterbedaten fälschte. Denk das mal weiter und stell dir vor, was es bedeuten könnte, wenn Lucien sogar noch lebte, als die Bestie wütete?«

Selten ist mir so die Kinnlade nach unten gefallen. »Aber … Es ist unmöglich, dass ein Geistlicher mit einem Eintrag eine ganze menschliche Existenz ausradiert, Tomé. 1764 wäre Lucien schließlich schon … fünfzehn Jahre alt gewesen. Und zur Zeit der großen Jagd im Jahr 1767 achtzehn. Jeder hätte ihn gekannt und heute müsste man sein Porträt zumindest auf irgendwelchen Gemälden finden. Ein Grafensohn wäre doch auf Feste gegangen und hätte an Jagden teilgenommen.«

»Vielleicht hat er das gar nicht. Die Quellen sagen, er war zu kränklich, um das Schloss zu verlassen. Ich behaupte nicht, dass es so gewesen ist. Ich sage nur, dass man jede Möglichkeit durchspielen sollte. Denn das ist jede Ermittlung erst einmal, ein Raten, ein Spiel: Was wäre, wenn?«

Seine Augen leuchten und seine hitzige Jägerenergie ist so spürbar, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Doch obwohl sich alles in mir dagegen sträubt, springt der Funke dieses Was wäre, wenn? auf mich über. Mit einem Mal ist mein Hals trocken und mein Herz rast.

»Wenn das wahr wäre«, sage ich atemlos. »Wenn Lucien zu Zeiten der Bestie noch lebte, dann könnte er vielleicht wirklich mein Vorfahre sein.«

»Und er könnte zum Kreis der Verdächtigen gehören.«

»Was?«

Tomé lächelt kühl. »Der Fluch der d’Apcher. Vielleicht war damit ja in Wirklichkeit ein Sohn gemeint, der eine Todsünde begangen hat? Musste deshalb seine Existenz vertuscht werden?«

»Du meinst, ein lungenkranker Teenager könnte die Bestie gewesen sein?« Fast hätte ich gelacht. Aber Tomé meint es offenbar ernst. Ich erschrecke vor dem harten Glanz in seinen Augen.

»Ich spreche hier nur von den drei oder vier Morden an den Mädchen, Flór. Vielleicht war Lucien mit achtzehn nicht mehr krank und auch nicht schwach. Oder er war nicht allein an den Taten beteiligt. Womit wir wieder bei einem Angestellten aus dem Umfeld des Schlosses angelangt wären. In diesem Fall hätten wir vielleicht sogar ein Täterduo.«

Mir wird ganz flau und zittrig. Denn es ist eine Sache, mit dem Gedanken an ein Verbrechen in der Ahnenlinie zu spielen, aber eine ganz andere, diese Möglichkeit tatsächlich in Betracht zu ziehen.

»Aber wir hätten doch Beweise für seine Existenz als junger Mann finden müssen!«, beharre ich. »Er hätte andere Grafensöhne kennen müssen …«

»Es sei denn, Irène hat ihn Zeit seines Lebens abgeschirmt«, spinnt Tomé seine Theorie weiter. »Vielleicht lebte er ja im Donjon wie in einem Kloster und durfte sich auf Festen und Jagden gar nicht blicken lassen. Wenn die Gräfin ihren Mann für einen Heiden hielt, dann könnte sie ihre ganze Energie darauf fokussiert haben, ihren Sohn mit aller Gewalt zu einem Heiligen zu machen – oder für die vermeintlichen Sünden seines Vaters büßen zu lassen. Und heute weiß man, was Misshandlungen mit der Psyche eines Kindes machen können. Lies mal die Biografien von Serientätern!«

Was wäre, wenn? , hallt es in meinem Kopf. Ich wünschte, ich hätte die Büchse der Pandora nie geöffnet. Bleib sachlich und bei den Fakten , versuche ich mich zu beruhigen. »Und du denkst, Irène wollte Luciens Existenz für die Nachwelt vertuschen?«

Tomés Lächeln ist sichelscharf. »Nun, ein Sohn, der lange vor den Morden der Bestie als Kind starb, kann nichts damit zu tun haben. Somit wäre der Ruf der Familie von jedem Verdacht reingewaschen.«

»Aber vielleicht war es ja auch ganz anders!«, halte ich atemlos dagegen. »Was, wenn … Lucien selbst ein Opfer des Mörders wurde? Ich weiß, das wäre untypisch, weil der Täter sich auf Mädchen und Frauen fokussierte. Aber was, wenn er den wahren Täter entlarvt hat oder ihm in die Quere kam? In diesem Fall hätte Irène dafür bezahlt, ihren Sohn im Nachhinein vom Verdacht der Sünde reinzuwaschen. Schließlich war sie es, die die Sichtweise des Bischofs von Mende propagierte …«

»… dass die Opfer durch ihre Sünden selbst Schuld an ihrem Tod hatten und von Gott bestraft wurden«, vollendet Tomé den Satz. Anerkennend nickt er mir zu. »Immer gut, jemanden zu haben, der den Anwalt spielt. Interessante Möglichkeit, Flór.«

Mit wenigen energischen Schritten ist er wieder an der Ermittlungswand und reißt die aufgeklebten Papierbögen einfach ab. Mit dem Edding in der Hand tritt er zur historischen Karte der Zone d’Errances et d’Attaques und zieht einen schwungvollen Kreis um das Gebiet, in dessen Zentrum das Schloss liegt. »Zurück zum Ausgangspunkt. Was würde dafür sprechen, dass der Täter, wer auch immer es war, im Schloss lebte? Die Distanzen waren mit einem Pferd gut zu schaffen. In diesem Radius wäre es durchaus denkbar, dass das Schloss das Zentrum dieser vier Morde war. Und auch die Abstände zwischen den Fällen von drei bis vier Wochen würden zu einer typischen Cool-off-Periode zwischen den Taten eines Serientäters passen …«

Atemlos höre ich zu, während er in unglaublichem Tempo seine Ausführungen skizziert. Doch mit jedem Strich und jedem Pfeil, den er routiniert auf die Kopie der historischen Karte setzt, drängt sich mir ein Bild auf, das ich kaum ertragen kann: Es zeigt einen düsteren jungen Mann, ohnmächtig und zerrissen zwischen Glauben und göttlicher Schuld, zwischen Strafe und heidnischen Anschuldigungen, gefangen zwischen Eltern, die verschiedener nicht sein konnten. In meiner Vorstellung verbindet sich sein Bild mit dem meines jungen Onkels Lucien, eine blonde Gestalt, die inkognito das Schloss verlässt, vielleicht in einem Jägermantel, die Waffe in der Hand und Hass im Herzen. Als Tomé den Stift beiseitelegt, schmerzt mein Kopf, so verspannt ist mein Nacken und so fest presse ich die ganze Zeit die Zähne zusammen. »Schluss für heute«, sagt Tomé. Im Gegensatz zu mir ist er hellwach und bester Laune. Ich dagegen lasse mich matt ins Sofa zurücksinken und greife zu meinem Weinglas. Ein letzter Schluck ist noch drin und ich starre ins Glas, als könnte mir der rote Spiegel die Wahrheit zeigen, nach der ich so verzweifelt suche. »Tomé?«, frage ich leise. »Du glaubst nicht wirklich, dass Lucien ein Mörder war, oder?«

»Fürs Glauben werde ich nicht bezahlt«, erwidert Tomé trocken. »Vielleicht werden Fakten es irgendwann bestätigen, vielleicht auch nicht. Aber falls es tatsächlich stimmt, dass Irène mithilfe von Gabriel de Beauveau das Sterberegister fälschen ließ, dann wäre allein das schon eine Sensation für unsere Historiker.«

Der Lehrer aus Clermont-Ferrand würde jedenfalls begeistert einen Champagner köpfen .

»Flór«, sagt Tomé mit einem verwunderten Lachen. »Mach nicht so ein besorgtes Gesicht. Was ist denn los?«

»Soll ich mich etwa freuen?«, gebe ich zurück. »Wie fändest du die Vorstellung, vielleicht von Jack the Ripper abzustammen?«

Überrascht hebt er die Brauen. Und endlich atmet er tief durch und verwandelt sich von dem gnadenlosen Ermittler, der verbissen der Fährte folgt, wieder in den Tomé, der mir am liebsten ist. Er kommt zu mir und setzt sich neben mich auf das Sofa. »Macht dir das wirklich Sorgen?«, fragt er sanft.

Du hast ja keine Ahnung, Tomé, denke ich. Er ahnt nicht, welche Gedanken mich gerade völlig aufwühlen und mit Angst füllen. Sind die schönen Hände des Jägers Luciens Hände? Mordete er mit dem Gewehr seiner Mutter? Träume ich in Wirklichkeit vielleicht von Claires Schicksal? Vielleicht ist das ja der Fluch, der wie ein Echo durch die Generationen hallt: dass wir dazu verdammt sind, in den Nächten Claires Tod zu durchleiden?

»Wie würde es dir gehen?«, bringe ich mit belegter Stimme heraus. »Du sagst, wir bestehen zu einem Großteil aus der Vergangenheit unserer Familie.«

»Meine Güte, Flór!«, ruft Tomé ehrlich bestürzt aus. »Tut mir leid, ich hätte dieses ganze Mörderthema gerade nicht so ausführen sollen. Und das, was wir von unseren Ahnen mitnehmen, sind doch nicht ihre Taten, es ist nur das Feuer – alles, was es wert ist, erhalten zu werden. Das Schöne«, fügt er leiser hinzu. »Das Kostbare, das Gute, verstehst du?« Er ist so nah, dass ich die Wärme seines Atems auf meinen Lippen spüren kann, während er spricht. Und für einen Moment weiß ich nicht, ob ich die Augen schließen und den Kopf an seine Schulter legen oder schnellstens Abstand zwischen uns bringen möchte. Denn unter seinem intensiven Blick habe ich das Gefühl, dass uns nichts mehr trennt, dass ich hautlos und sichtbar bin und er sogar meine Gedanken lesen kann, als hätte ich sie laut ausgesprochen. Und als Tomé die Hand hebt und mir sacht eine Haarsträhne hinter das Ohr streicht, zucke ich nicht zurück. Seine Hand bleibt leicht, kaum spürbar auf meiner Schulter liegen. Und ganz vorsichtig streicht er mit dem Daumen an meinem Kinnbogen entlang. »Es ist wie mit Narben«, sagt er sanft. »Sie sind der Teil unserer Vergangenheit, den wir mitnehmen, aber nur als Zeichen unserer Stärke. Sie zeigen uns, dass kein Schrecken und kein Schmerz ewig währt. Und genau das reichen wir als Feuer über die Generationen weiter: Unsere Stärke. Das war das, was ich mit diesem Satz neulich sagen wollte. Dass wir … nicht allein existieren, sondern auf unsere Vergangenheit bauen können. Dass Feuer niemals erlischt.«

Und als er mir warm zulächelt und noch einmal sacht über meinen Wangenbogen streicht, passiert etwas Seltsames mit mir. Mit einem Mal ist da eine Ahnung von Hitze, die ich schon lange nicht mehr zugelassen habe. Ich spüre sie in dem Rot auf meinen Lippen und in dem Flackern, das bei Tomés Berührung meine Haut durchglüht. Verlockung und Gefahr zugleich.

»Du verbirgst sie gut«, sagt Tomé sanft. »Aber das war keine gewöhnliche Verbrennung. Stammen die Narben von Säure?«

Das ist eine Vermutung, die ich wirklich noch nie gehört habe. »Nach meinen Narben werde ich gewöhnlich frühestens nach dem dritten Date gefragt«, erwidere ich. »Nein, keine Säure. Es war nichts, was mir angetan wurde. Niemand hatte Schuld, es war Pech, nichts weiter.«

»Das klingt vielleicht komisch, aber ich bin froh, das zu hören«, sagt Tomé. »Mit Pech kann man irgendwann Frieden schließen, habe ich recht?«

In meinem Fall ist das leider etwas komplizierter, Tomé . Dennoch entlockt er mir ein Lächeln. Denn in seinen Worten klingt kein Mitleid mit. Im Gegenteil, wir sind auf Augenhöhe, ich habe ihm schon mehr von mir erzählt als all meinen Dates zusammen und für einen Moment bin ich sogar versucht, ihm die gesamte Wahrheit über mich zu sagen. Seine Hand ruht immer noch federleicht an meiner Wange, eine Frage in Form einer Berührung, ein schwebender Moment zwischen Ja und Nein. Was wäre, wenn? Und wider alle Vernunft gebe ich der Versuchung einfach nach. Tomé lächelt, als ich sein Gesicht mit den Händen umfasse. Und ohne zu zögern folgt er mir, als ich meine Finger in seinem Haar vergrabe, ihn zu mir herunterziehe und küsse. Seine Lippen sind kühl und fest und er erwidert meinen Kuss so leidenschaftlich, dass es mir den Atem nimmt. Und plötzlich ist es da, mein Feuer, das aufflackert wie eine längst vergessene Erinnerung. Es ist wie ein Schmerz, den ich fürchte und suche. Und obwohl ich mich nicht verlieren darf, schließe ich die Augen. Tomé legt die Arme um mich und zieht mich an sich. Ich spüre kaum, wie ich zurücksinke, als würde ich fallen. Und noch im Fall passiert etwas. Ich spüre Tomés Lippen und alles, was dieser Kuss in mir entfacht. Doch gleichzeitig denke ich an Pierres verschiedenfarbene Augen im schrägen Sonnenlicht – den wilden Bernstein und das dunkle Braun. Und dann ist da wieder Tomés Hand. Ich hatte nicht bemerkt, dass mein Rollkragenshirt aus der Jeans gerutscht ist. Tomés Finger finden das entblößte Stück Rücken und streichen unter dem Stoff hinauf. Erschrocken öffne ich die Augen – und sehe für den Bruchteil einer Sekunde nicht sein Gesicht, ich spüre nicht seine Hand, da ist nur das Kribbeln von Scham und Gefahr, das sich wie heißkaltes Wasser über meinen Rücken ergießt. Und als seine Fingerspitzen zwischen meine Schultern wandern, zucke ich zurück, als hätte ich mich verbrannt. Ich reiße mich aus seiner Umarmung los und springe auf. »Ich kann nicht«, stoße ich atemlos hervor.

Es ist Tomé nicht zu verdenken, dass er völlig überrumpelt ist. Er sieht mich einen Moment lang verständnislos an, bevor er sich wieder im Griff hat. Mit einem tiefen Atemzug setzt er sich auf und streicht sich durch das zerwühlte Haar.

»Habe ich die Signale falsch gedeutet?«, fragt er heiser und räuspert sich. »Immerhin hast du mich zuerst geküsst.«

»Nein, du hast nichts falsch verstanden, Tomé, aber … das ist nicht das, was ich will.«

Er schluckt und an den Muskeln an seinem Kiefer sehe ich, dass er die Zähne zusammenbeißt. Aber es gelingt ihm gut, die Enttäuschung hinter einem schiefen Lächeln zu verbergen.

»Tja, das habe ich gemerkt«, murmelt er. »Hast du die Befürchtung, dass es dich zu etwas verpflichtet?«

»Nein. Tut mir leid. Ich … verstehe es selbst nicht so ganz.« Das ist eine glatte Lüge. Aber die Wahrheit wäre, dass ich immer noch zu Tode erschrocken bin. Das ist das Dumme an der Scham: Sie wächst sich nicht aus wie die Ringe in einem Baum.

»Schade«, sagt Tomé. »Ich wette, wir wären auch in dieser Hinsicht ein gutes Team.«

Und genau das ist die Gefahr . Noch jetzt fühle ich mich zittrig bei dem Gedanken, wie leicht ich mich um ein Haar vergessen hätte.

Tomé erwartet wohl keine Erwiderung mehr, er steht ohne Eile auf. »Es ist spät geworden«, sagt er. »Komm, ich zeige dir das Gästezimmer.«

*

Eine schmale Holztreppe führt uns bis hinauf unter das Dach des alten Forsthauses. Bei jedem Schritt knarren die Stufen wie in einem Horrorfilm. Doch die niedrige Kammer unter dem Dachgiebel ist moderner ausgestattet als der Salon mit den Jagdtrophäen, der direkt darunter liegen muss. Die Dachschrägen sind mit weiß lackiertem Holz verkleidet und Sylvie hat das Bett mit pinkfarbenen Laken und Blumenbettwäsche bezogen. Eine noch verpackte Gästezahnbürste und ein Schlaf-T-Shirt liegen bereit. Ich lausche Tomés Schritten, die sich auf der Treppe entfernen, und dem Zuklappen der Tür, die die beiden Gebäude voneinander trennt. Dann ist es so still, dass mein eigener Herzschlag in meinen Ohren rauscht wie Meeresbrandung. Vorsichtig lege ich meine Laptoptasche aufs Bett und reibe mir fröstelnd die Arme. In dem gläsernen Schirm der Nachttischleuchte sind so viele Fliegen und Spinnen gestrandet und mittlerweile vertrocknet, dass es wie ein Schattentheater mit dem Titel »Fressen und Gefressen-Werden« wirkt. Ich würde einiges dafür geben, noch nüchtern genug zum Autofahren zu sein. Irgendwo im Gebälk knackt es. Hexenhaus , denke ich niedergeschlagen. Draußen warten die Wölfe. Und drinnen meine Nachtmahre. Auf Zehenspitzen, damit die Dielen nicht knarren, trete ich zum Fenster. Ich erschrecke nicht einmal, als im schwachen Licht, das nach draußen fällt, Wolfsaugen aufleuchten. Fada steht unter meinem Fenster und starrt angespannt direkt zu mir hoch. Mit ihrem schwarzgrauen Fell hebt sie sich kaum von den Nachtschatten ab, ich erahne ihren Umriss mehr, als ich ihn sehe, nur ihre Augen sind fahlgelbe Monde. Sie duckt sich, als ich meine Hände und meine heiße Stirn an die Scheibe lege. Mein Atem zerschellt am Glas und hüllt die Wölfin in einen pulsierenden Schleier, der mit jedem Atemzug kommt und geht. Ich weiß, es ist richtig, dass das Glas zwischen der Wildnis und mir ist, und wichtig, dass mein Feuer auf der anderen Seite des Spiegels gebannt bleibt. Und dennoch könnte ich heulen, so sehr sehne ich mich nach der Fleur, die ich einmal war – und dann nie mehr. »Bitte bleib«, flüstere ich. Doch Fada huscht schon scheu zur Seite davon und verschmilzt mit der Dunkelheit.

An jedem anderen Abend hätte ich nun meinen Laptop angemacht und mich in meine eigene Schattenwelt der vielen Namen und Identitäten geflüchtet. Aber heute lehnt sich alles in mir dagegen auf, wieder zu verschwinden. Ich stelle mir vor, wie Tomé wach liegt und darauf lauscht, ob er doch noch meine Schritte hört. Mein ganzer Nacken kribbelt und auf dem Rücken glaube ich noch seine Hände zu fühlen, seinen Mund auf meinen Lippen. Die Erinnerung daran schreckt die dunklen Schmetterlinge in meinem Bauch auf. Und wenn man es ganz nüchtern betrachtet, fühlen Verliebtheit, Leidenschaft und Angst sich zum Verwechseln ähnlich an. Ich wäre ein lausiges Rotkäppchen , denke ich. Eines, das sich nur von Gefahr angezogen fühlt. Doch dann denke ich an Pierre, seine Hände, seinen Mund und seine Augen, die mehr verraten, als er von sich zeigen will. Und seine Nähe, die ich morgens suche, ohne auch nur darüber nachzudenken.

»Bist du zufällig noch wach?«, tippe ich ins Handy.

Mein Herz macht einen Satz, als statt einer Antwort-Nachricht ein Rückruf kommt. »Ja, ich bin zufällig noch wach«, sagt Pierre. »Was gibt’s?«

Ich schlucke. »Nichts … besonderes, ich wollte mich nur melden. Danke für die Nachricht.«

»Du weißt, welchen Stein ich meine, oder? Das Goliath-Exemplar, das dir beim Umkippen fast den Zeh geprellt hätte.«

Ich lächle, denn sofort ist alles wieder da: Wir beide mit Handschuhen und staubigen Schuhen, wie wir fluchend und mit aller Kraft den kantigen Brocken zur Mauer bugsieren. »Ja, ich weiß, welchen du meinst. Danke für dein Vertrauen, mir den Schlüssel zu überlassen.«

»Kein Thema«, sagt Pierre mit einem Lächeln in der Stimme.

Ich schlucke. »Was machst du gerade?«, frage ich so beiläufig wie möglich.

»Ich schaue einen Film«, antwortet er. »Le Secret des Marrowbone. Schräg, aber spannend

»Im Wald gibt es Fernsehen?«

Pierre lacht auf. »Ich bin nicht Robinson Crusoe, Fleur. Stell dir vor, in meinem Zimmer im Hotel hängt ein Flachbildschirm. Warum bist du so spät noch wach?«

»Ich … kann nicht schlafen. War ein komischer Tag.«

»Tut mir leid. Willst du deinen Fernseher anmachen und wir schauen den Film zusammen an?«

Die Idee ist so charmant, dass sie mich zum Lächeln bringt. Und wieder wünschte ich, ich hätte die Finger vom Wein gelassen und könnte in meinem Appartement zur Fernbedienung greifen.

»Ich habe leider keinen Fernseher, Pierre.«

»Eine Ferienwohnung ohne TV ? Ich hoffe, du kriegst einen Nachlass.«

Es ist verrückt, dass ich Pierre nicht einfach erzähle, wo ich bin. Wir kennen einander erst seit einer Woche, wir schulden einander keine Erklärungen und dennoch fürchte ich, dass es etwas zwischen uns ändern könnte. »Du könntest mir ja etwas Schräges und Spannendes über Bäume erzählen«, sage ich stattdessen.

Es ist nur ein ironischer Scherz, aber Pierre lacht nicht. »Okay«, sagt er völlig ernsthaft. »Warte kurz, ich mach nur den Film aus und versuche Napoléon zu überreden, mir auch ein Stück von meinem Bett zu überlassen.«