Feuer und Wasser

Pierre weiß es nicht, aber er hat die magische Gabe, Albträume zu vertreiben. Als ich aufwache, ist es später Vormittag und ich habe traumlos und tief geschlafen. Ich kann mich kaum noch erinnern, worüber wir heute Nacht alles geredet haben, aber ich weiß, dass ich in seine Gegenwart eingesunken bin wie in weiches Moos. Wir haben gelacht und ich bin mit einem Lächeln auf den Lippen eingeschlafen, geborgen im Jetzt und mit Pierres Stimme am Ohr.

Nun scheint mir die Sonne ins Gesicht und irgendwo im Haus knallen Türen und es rumpelt, als würde eine Horde Hirsche durchs Haus galoppieren. Ich wälze mich aus dem Bett und tappe in das winzige Gästebad. Das bereitgelegte Schlafshirt habe ich gar nicht erst angezogen, sondern bin in meinen Kleidern eingeschlafen. Aus dem Spiegel blickt mir nun die Hauptfigur eines Films mit dem Titel Rise of the Zombie Racoon entgegen. Die Wimperntusche hat sich mit dem verschmierten Make-up zu einem veritablen Waschbären-Lock verbunden. Ich bin froh, dass ich meine Schminksachen zur Sicherheit immer dabeihabe. Nach einer gründlichen Katzenwäsche am Waschbecken fühle ich mich wieder menschlich genug, um Tomé zu begegnen. Aber in der Küche erwartet mich nur eine gut gelaunte Sylvie, die gerade die Spülmaschine ausräumt. »Tiens donc! «, ruft sie mir entgegen. »Endlich von den Toten auferstanden, hm? Setz dich, Schlafmütze, gleich gibt’s Kaffee und Toast.«

»Guten Morgen, Sylvie. Du hättest mich ruhig wecken können.«

»Tomé sagte, ich soll dich in Ruhe lassen. Außerdem ist Wochenende. Hast du gut geschlafen?«

»Ja, und vielen Dank, dass ich übernachten durfte!«

»Jederzeit! Wenn wir dich schon am Steigbügel quer durch die Ruinen schleifen, ist das ja wohl das Mindeste. Wie geht’s deiner Schulter inzwischen?«

»Alles gut, ich spüre gar nichts mehr. Ist Tomé im Arbeitszimmer?«

»Nein, der ist heute gleich nach dem Frühstück nach Saugues gefahren. Er hat dir ’ne Nachricht dagelassen.«

Reflexartig krame ich in meiner Tasche nach dem Handy, doch Sylvie überreicht mir eine Mappe. Darin finde ich Kopien der wichtigen Unterlagen von Tomés Recherche, die er für mich ausgedruckt hat. Und eine handschriftliche Nachricht.

Guten Morgen, Flór. Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Hier die Kopien aus Nantes für deine Akten. Ich habe heute im Verein zu tun und muss bei der Familie vorbeischauen. Aber wir sehen uns heute Abend im Zoomcall? Ruf mich jederzeit an!

»War ja eine lange Nacht«, bemerkt Sylvie und stellt mir den Kaffee hin. »Ich kam erst gegen drei aus dem Club, da war mein Onkel immer noch am Schreibtisch und das Arbeitszimmer sah aus wie das reine Chaos. Was um Himmels willen habt ihr da ausgegraben?«

»Viele Theorien, keine Beweise«, murmle ich. »Aber das kann er dir sicher besser erklären als ich. Was macht Marseille?«

Sylvies Augen leuchten sofort auf. »Jonah zieht schon nächste Woche in unsere Wohnung. Und ich schaffe es, die Saison zu verkürzen – das heißt, in ein paar Wochen bin ich weg hier.« Sie ballt die Fäuste und reckt sie in Siegerpose in die Luft. »Gott, das wird auch Zeit!«, ruft sie aus tiefster Seele. »Hey, meine Süße!«, quietscht sie dann. Verdutzt brauche ich ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass sie nicht mit mir spricht. Krallen klicken auf den Fliesen. Ors betritt in ihrer vollen imposanten Wolfsgröße die schmale Küche – und lässt ein leises grollendes Knurren hören. »Na, Mädchen, so nicht!«, schimpft Sylvie los. »Benimm dich!« Sie packt die Wölfin einfach am buschigen Fell und das Tier verwandelt sich in einen verspielten Haushund, der mit dem Schwanz wedelt und versucht, Sylvie über das Gesicht zu lecken.

»Keine Angst, das Knurren ist nur Show«, sagt Sylvie zu mir. »Die hat mehr Angst vor dir als du vor ihr.«

»Ach ja?«, murmle ich. Ich wage mich kaum zu rühren. Denn als Sylvie aufhört, den Wolfshund zu streicheln, leckt sich das Tier über die Lefzen und starrt mich so intensiv an, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man Hunden nicht direkt in die Augen schauen sollte, weil sie es als Aggression auffassen könnten, also wende ich mich vorsichtig dem Tisch zu, nippe am Kaffee und konzentriere mich auf die Kräutertöpfe mit den lachenden Gesichtern auf dem Fensterbrett. »Ich dachte, Wolfshunde werden nicht im Haus gehalten, weil sie alles auseinandernehmen?«

»Wenn man sie einsperrt, langweilen sie sich und brechen aus, ja«, antwortet Sylvie. »Aber ich mache morgens immer die Terrassentür auf, dann können sie rein- und rausgehen, wie sie wollen. Und dieser Krawallbär hier stellt gerne mein Zimmer auf den Kopf. Stimmt’s, Ors?«

»Und Fada?«, frage ich leise.

»Die ist superscheu und kommt höchstens dann mit rein, wenn mein Onkel da ist. Ich habe schon Glück, wenn sie sich mal von mir streicheln lässt. Erschrick jetzt nicht, Fleur!«

Mein Herz bleibt trotzdem fast stehen, als eine Hundenase gegen meinen Arm stupst. Ich hatte kein Krallenklicken gehört, der Wolfshund muss sich im toten Winkel angeschlichen haben und schiebt nun den Kopf unter meinem Ellenbogen hindurch.

»Du kannst sie ruhig streicheln«, fordert Sylvie mich auf. Und nach kurzem Zögern tue ich es tatsächlich. Mit klopfendem Herzen löse ich meine rechte Hand von der Tasse und senke sie ganz vorsichtig auf das Nackenfell hinter den angelegten Ohren. Ich bin überrascht, wie weich das Fell ist. Meine Finger versinken in der Wärme, die Fingerspitzen kribbeln und Ors lässt es sich gefallen, dass ich sie kraule und schreckt nicht einmal auf, als Sylvie die Küchenschranktür laut zuknallt und sich dann zu mir an den Tisch setzt. Schwer liegt der Wolfskopf auf meinem Oberschenkel. Nach einer Weile schnauft Ors abgrundtief und zieht sich zurück. Kurz leckt sie mir noch mit einer sehr nassen Zunge über die Hand und trottet dann aus der Küche. Sylvie seufzt. »Die Wölfe werden mir fehlen. Tomé sollte sich langsam überlegen, wer sich in Zukunft um sie kümmert, wenn er auf Geschäftsreise ist.«

»Hat er keine Freundin?«, rutscht es mir heraus. Ich weiß nicht, was mich reitet, das zu fragen. Es kam ganz von selbst – obwohl Tomé in dieser Hinsicht ganz klar war. Sylvie lehnt sich im Stuhl zurück, zieht die Beine hoch und umschließt die Knie mit den Armen. Es ist eine lässige Geste, die mich an Max erinnert. »Derzeit ist er mal wieder solo«, sagt sie mit einem Schulterzucken. »Aber das kann sich bei ihm schnell ändern. In Saugues kann man ja kaum eine Straße entlanggehen, ohne auf irgendeine Ex von ihm zu treffen.« Sie rollt ein wenig mit den Augen. Doch plötzlich stutzt sie, als wäre ihr etwas eingefallen und sie schaut mich prüfend an. »Hast du etwa aus einem bestimmten Grund gefragt hat, ob er vergeben ist?«

»Nein!«

Sie grinst. »Sorry, das sollte keine Unterstellung sein. Ich dachte nur, weil ihr ständig zusammenhängt und …«

»Wir sind ein Team, kein Date«, sage ich ruhig. »Wir arbeiten zusammen. Ich als Datenforensikerin, er als Spezialist für den Bestienfall und als Kriminalist. C’est tout .« Und als ich das so klar benenne, ist es, als hätte ich hinter dem offenen Satz, der seit gestern im Raum schwebt, einen Punkt gesetzt. Es fühlt sich gut an. Und ein bisschen so, als hätte ich mich hinter einer Grenze, die ich erst jetzt spüre, in Sicherheit gebracht.

*

In Märchen sind Hexenhäuser nicht nur Orte, man muss sie betrachten, als wären sie eigene Charaktere, die ihre Rolle spielen. Sie können ein Sinnbild für eine Umklammerung sein, die uns nicht guttut. Manche von ihnen symbolisieren das Totenreich, das »Sterbe und werde« unserer Häutungen. Hänsel und Gretel lernten dort, hinter die Täuschungen zu blicken. Im Haus der Baba Jaga holte sich die schöne Wassilissa das Feuer, das ihre bösen Stiefschwestern zu Asche verbrannte. Und auch mir hat das Hexenhaus mit dieser heißkalten, intensiven Nacht ein Geschenk gemacht. Es hat mich in einen Spiegel blicken lassen und mir gezeigt, wie weit ich mich von den Wölfen von meinem eigenen Weg habe weglocken lassen. Als ich mein Appartement betrete, bin ich ruhig und klar wie schon lange nicht mehr.

Ich erwische Tomé am späten Nachmittag bei seiner Tante, die ein volles Haus hat. Offenbar wird gefeiert. Im Hintergrund spielt Musik, Leute reden durcheinander und lachen. »Warte kurz, ich gehe in den Garten«, sagt Tomé. »Gut, dass du anrufst, Flór, ich hätte mich auch noch gemeldet. Ich kam noch nicht dazu, aber hast du dir die Mails schon angeschaut? Ich hatte Henri gebeten, dich ins CC zu nehmen.«

»Wer ist Henri?«

»Henri Tixier. Er gehört zu unserem Verein, ich habe ihn auf Beauveau angesetzt. Er hat die besseren Kontakte zu den Archiven – und mehr Zeit als ich im Moment.«

»Ich habe meine Mails noch nicht gesichtet …«

»Wie bitte?« Er lacht auf. »Bin ich falsch verbunden?«

Tja, genau das hätte jetzt auch Renate gefragt.

»Deswegen rufe ich an, Tomé. Ich nehme mir ein paar Tage Auszeit von Jack the Ripper.«

»Wieso?«, sagt Tomé nach einer verwunderten Pause. »Was ist passiert?«

»Ich arbeite zwar manchmal für die Polizei, aber ich bin keine Ermittlerin«, antworte ich. »Für dich ist das Alltag – und alles, was ich für deine Ermittlung beisteuern konnte, habe ich dir gegeben. Es wird Zeit, dass ich mich wieder um meine eigenen Angelegenheiten kümmere.«

»Lucien d’Apcher ist deine Angelegenheit!«

»Aber Jack the Ripper ist es nicht«, entgegne ich. »Das ist dein Fall. Natürlich will ich wissen, ob ich mit Lucien verwandt bin und wer er war. Aber von den ganzen Theorien bekomme ich nur Albträume.« Nicht ganz die Wahrheit, aber nahe dran.

Tomé schweigt. Es ist das erste Mal, dass diese Art von Stille zwischen uns herrscht, mein Puls dabei nicht rast und die Zeit nicht schneller zu laufen scheint. Als wäre ich von einem rasenden Zug abgesprungen und könnte mich zum ersten Mal wieder in Ruhe umschauen und sehen, wo ich eigentlich stehe.

»Okay«, sagt Tomé schließlich knapp. »Manchmal vergesse ich, wie verstörend das Serienkiller-Thema für jemanden ist, der sich nicht beruflich damit beschäftigt. Das hatte ich wohl falsch eingeschätzt, tut mir leid.«

Es ist ihm deutlich anzumerken, dass er trotzdem enttäuscht ist. Komischerweise scheint ihn diese Absage mehr zu kränken als die Tatsache, dass ich ihm gestern vom Bettrand gesprungen bin.

»Soll ich dich auch aus dem Verteiler nehmen?«, fügt er sachlich hinzu.

»Nein, halte mich bitte auf dem Laufenden, wenn du Ergebnisse hast oder etwas über Margots Diebstahlsfall erfährst, ja?«

»Natürlich, ich ruf dich an, Flór. Und melde dich jederzeit.«

Das war’s. Irgendjemand ruft nach ihm, weil es Kuchen gibt, und wir wechseln noch schnell ein paar Worte, bevor Tomé sich verabschiedet und auflegt. Und ich tue etwas, was mir Renate nie glauben würde: Ich schalte mein Handy aus und lasse auch meinen Laptop unberührt. Meinem Vater habe ich bereits durchgegeben, dass ich mir heute freinehme und nicht über den Fall reden möchte. Die Unterlagen, die Tomé mir am Morgen dagelassen hat, liegen ungesehen in der Schublade. Auch zum Les Gabales werde ich an diesem Sonntag nicht fahren – obwohl der Schlüssel zum Trailer auf mich wartet. Stattdessen laufe ich ganz alleine los. Ohne Ziel schlendere ich durch die Altstadt von Le Malzieu und lasse mich von dort aus an Gärten und versprengten Bauernhäuschen vorbei bis zum Wasser treiben. Losgelöst von allem wandere ich an der Truyère entlang. Das hypnotische Raunen des Flusses beruhigt mich und verlangsamt scheinbar die Zeit. Das Wasser fließt mir schneller voraus, als ich gehe. Irgendwas in mir tickt aus und kommt schließlich ganz zum Stehen. Irgendwann setze ich mich ans Wasser. Zeitlos, seidenweich und kalt rinnt es durch meine Finger – und nimmt alles mit, was mich in Tomés Umarmung gestern erstarren ließ. Tomé und Pierre , denke ich. Feuer und Wasser . Rotkäppchen und Allerleirauh.