Angst folgt eigenen Gesetzen. Die Wahrnehmung gleicht einem fragmentierten Speicher, in dem Daten gecrasht und nicht mehr auffindbar sind. Nur der Teil von mir, der mich in Sicherheit bringt, funktioniert, lenkt den Lada, sorgt dafür, dass der Wagen die Spur hält und den Weg findet, während mich immer wieder Kopfkino-Panik einholt. Baptiste Morizot schreibt, dass sich das Leben in der Wildnis auf der Skala zwischen Angst oder Hunger bewegt. Raubtiere fürchten nicht um ihr Leben, der Preis ihres Daseins ist Hunger. Rehe hungern nicht, dafür leben sie in ständiger Angst vor Jägern. Und Tomé täuscht sich, wenn er denkt, dass ich zu den Jägerinnen gehöre.
Diesmal parke ich nicht am Les Gabales, sondern umrunde den Berg. Ich finde die schmale Abfahrt zu dem Feldweg, der irgendwann eine Zufahrt zu den Baumhäusern werden soll. Ohne Rücksicht jage ich den Lada steil aufwärts über Stock und Stein, bis das Unterholz zu dicht wird und trockene Brombeerranken über den Autolack kratzen. Von hier aus geht es nur zu Fuß weiter. Die Dornen reißen an meinen Hosenbeinen, doch ich nehme das Stechen nur wie durch einen Nebel wahr. Rennend erreiche ich den Pfad, den Pierre und ich freigeräumt haben, und ertaste das glatte Metall des Trailerschlüssels in der Kuhle unter dem größten Granitbrocken. Die Baumhütten stehen verwaist im Waldstück, Hexenhäuser, dunkel vom feuchten Dunst des Waldes. Kälte kriecht mir bis auf die Haut. In der Wohnung hatte ich blindlings nach der ersten Jacke gegriffen, die ich auf dem Weg zur Tür zu fassen bekam. Es war die Übergangsjacke, die ich von zu Hause mitgebracht hatte.
Im Trailer ist es frostig, der Atem bauscht sich vor dem Gesicht. Auf dem Tisch steht ein Teller mit schon trockenem Briochegebäck, das seit Samstag auf mich wartet. Fühl dich wie zu Hause , hat Pierre vor zwei Tagen mit Kugelschreiber auf einer Papierserviette notiert. Und aus irgendeinem Grund bricht dieser Satz den Bann und ich fange haltlos an zu zittern. Mir war nicht klar, dass ich immer noch so weit an der äußeren Skala des Angstspektrums existiere, dort, wo die Welt kein sicherer Ort ist, weil es keine Verstecke gibt. Wo mein leiblicher Vater in jedem Auto sitzen konnte, das neben dem Gehweg plötzlich langsamer fuhr. Wo jedes Telefonklingeln meine Mutter und mich in Panik versetzte und keine geheime Adresse je geheim blieb, weil er Wege fand, uns überall aufzuspüren und uns aufzulauern. Doch es ist nicht nur mein zwölfjähriges Ich, das mir unter der Haut sitzt. Es ist auch die zwanzigjährige Studentin, die ich war, und die Fleur, die genau weiß, was Tomés Ermittlungen bereits ins Rollen gebracht haben. Ja, Familien sind aus feinen Netzen gewebt, die sich über Generationen erstrecken. Und Scham kann so tiefe Löcher reißen, dass wir alle nur noch an seidenen Fäden über dem Abgrund hängen.
*
Ich weiß nicht, wie lange ich mit angezogenen Beinen auf der Pritsche gekauert habe, die Finger in den Schlafsack gekrallt, den ich als Decke über meine Knie gezogen habe. Das schabende Geräusch eines Schlüssels im Schloss katapultiert mich aus einem Mahlstrom von wirren Erinnerungen und Bildern zurück ins Jetzt. Ich fahre erschrocken hoch – und sehe Pierre, der in den Trailer tritt.
»Fleur«, sagt er verwundert. »Hier bist du also. Meine Güte, warum sitzt du im Dunkeln?«
»Ich muss eingeschlafen sein«, bringe ich atemlos hervor. Es muss später Nachmittag sein. Im Trailer ist es bereits dämmrig. Pierre macht die Tür hinter sich zu und stellt seinen Rucksack auf den Stuhl. Auf seiner Arbeitsjacke sind frische Schlammspritzer, aber ich hatte das Motorrad gar nicht gehört. »Ich hatte mich schon gefragt, wo du abgeblieben bist«, sagt er. »Ich versuche dich schon den ganzen Nachmittag über zu erreichen. Aber du gehst nicht ans Handy.«
»Tut mir leid. Das habe ich wohl im Lada vergessen.«
»Du vergisst dein Handy?«, fragt er ungläubig. »Und wie bist du überhaupt hergekommen? Dein Auto steht nicht auf dem Hotelparkplatz.«
»Ich habe es hinter den Hecken am Bergweg abgestellt. Ich wollte nicht, dass jemand mich finden kann.«
Eigentlich hatte ich sagen wollen: dass mich jemand auf dem Weg hierher sieht.
»Wer soll dich nicht finden, Fleur?«
»Das ist eine längere Geschichte«, antworte ich heiser.
»Geht es etwa um diese Typen vom Paranormal-Channel?«, fragt Pierre. »Magali sagt, dass du heute im Les Gabales warst und ziemlich neben der Spur wirktest, als sie dir erzählte, dass die einen Film drehen wollen. Du hättest dir Sorgen gemacht, dass sie deinen Namen erfahren könnten.«
»Den werden sie früher oder später sowieso herauskriegen. Aber ich … musste einfach weg.«
Pierre mustert mich besorgt. Ich würde ihm gerne sagen, wie froh ich bin, dass er hier ist, aber ich kann nur krampfhaft schlucken.
»Zu dünne Jacke für die Jahreszeit«, bemerkt er schließlich. »Komm, nimm den Schlafsack mit. Wenn du untertauchen willst, gibt es hier bessere Verstecke.«
Draußen ist herbstlicher Nebel aufgestiegen. Die Luft ist schneidend kalt, sie riecht nach nassem Eisen und dem ersten Hauch von Winter. Den Schlafsack wie einen Umhang um die Schultern gezogen, folge ich Pierre zu der Lodge der drei Matronen. Heute steigt er dicht hinter mir die Wendelstufen hoch, ein sicherer Fallback, während meine Knie so weich sind, als wäre alle Stärke aus meinen Knochen gewichen. Sobald ich den dreieckigen Giebelraum betrete, fühle ich mich tatsächlich geschützter. Die Feuchtigkeit lockt die ätherischen Düfte nach Harz und Tannennadeln hervor. Pierre stellt seinen Rucksack ab und klettert wieder nach unten. Ich breite den Schlafsack als Unterlage auf das hölzerne Bettpodest und setze mich darauf. Kurz darauf beginnt draußen der Stromgenerator zu laufen. Wie von Zauberhand gehen im dämmrigen Raum Lämpchen an, eine Lichtleiste, die am Regal entlangführt, taucht die Gruppe der drei Frauenfiguren aus Ton in warmes Leuchten. Irène, Margot und ich , denke ich. Drei Frauen, drei Zeiten, aber derselbe Fluch.
Wenig später kehrt Pierre zurück und legt mir einen Hoodie hin und auch eine Wolldecke, die aus der Truhe im Trailer stammt. »Falls du trotz Heizung frierst«, sagt er und wendet sich dem Ofen zu. Ich beobachte ihn, während er routiniert die durchbrochene Holzverkleidung abnimmt und das Heizelement einstellt, das ebenfalls ans Stromaggregat angeschlossen ist. Die aufsteigende Wärme ist sofort zu spüren. »Besser?«, fragt Pierre über die Schulter.
»Ja, danke.« Das Lächeln, das ich mir abringen will, gelingt mir nicht. Pierre zieht seine Jacke aus und setzt sich zu mir. Erst jetzt fällt mir auf, wie verändert er wirkt. Er trägt ein edles schwarzes Hemd, ist frisch rasiert und duftet nach einem Aftershave mit einer Sandelholznote. Sein Haar hat er zu einer lässigen Frisur gebändigt. Als er meinen Blick bemerkt, zuckt er mit den Schultern. »Na ja, wir hatten ja ein Date geplant«, sagt er mit einem schiefen Lächeln.
»Tut mir so leid, Pierre, ich …«
»Kein Thema, Fleur. Also, was ist passiert, dass du dich verstecken musst?«
»Joseph Etienne d’Apcher ist passiert«, sage ich leise. »Im Forum ist eine anatomische Zeichnung aufgetaucht, die ein Arzt von Irènes Zweitgeborenem gezeichnet hat. Im achtzehnten Jahrhundert hat er medizinische Fallstudien gemacht zu Fehlbildungen und …«
»Erzählst du mir hier im Ernst, dass es wieder nur um diese alte Geschichte geht?«, unterbricht mich Pierre unwillig. »Herrgott, Fleur, und ich dachte schon, es wäre etwas Schlimmes geschehen!«
»Für mich ist es schlimm! Jetzt ergibt so vieles einen Sinn. Auch der Fluch der d’Apchers.«
Pierres Augen blitzen verärgert auf, er presst die Lippen zusammen, was die Linien um seine Mundwinkel noch betont. »Du weißt ja, was ich von dieser ganzen Fluchgeschichte halte«, sagt er dann. »Egal, was du in irgendwelchen Archiven ausgräbst, das hat doch nichts mehr mit dir und schon gar nichts mit heute zu tun …«
»Es ist mein Heute, Pierre!«, bricht es aus mir so heftig heraus, dass ich selbst erschrecke. »Nur, dass die Ärzte nicht mehr von Aberrations humaines sprechen. Sondern von Mutation und Vererbung.« Die Haut glüht unter meinen Fingerspitzen, als ich mir das Haar aus dem Gesicht hinter das Ohr streiche und Pierre die Seite mit der sichelförmigen Narbe zuwende. »Auch wenn du mich nie danach gefragt hast, hast du sicher überlegt, woher meine Narben stammen«, füge ich leise hinzu. »Bis ich vierzehn war, war die Haut hier noch von Haar bedeckt – genau wie bei Irènes Sohn. Im Gesicht reichte es vom Haaransatz bis zu den Brauen, und von den Schläfen über die äußeren Partien der Wangen zum Kinnbogen.« Ich schlucke und starre die Matronenfiguren an. Nur aus dem Augenwinkel erahne ich noch Pierres Gestalt. »Vielleicht kennst du ja die Bilder von Menschen, die eine bestimmte Form einer Hypertrichose haben«, fahre ich fort. »Ambras-Syndrom, im Internet auch gerne mal ›Werwolf-Syndrom‹ genannt. Es ist die bekannteste Form dieser Mutation. Und wenn in früheren Zeiten ein Hirtenjunge einen solchen Menschen am Waldrand gesehen hat, dann konnte er schon mal glauben, einen Werwolf vor sich zu haben. Einiges deutet darauf hin, dass Irènes Erstgeborener Lucien vielleicht gar nicht als Kind starb, sondern ungefähr achtzehn war, als ein Hirtenjunge angeblich die Bestie auf zwei Beinen am Waldrand stehen sah.«
»Dann macht es dir also Sorgen, dass dieser Lucien die Bestie gewesen sein könnte?«, höre ich Pierre sagen. »Aber selbst, wenn die beiden Grafensöhne und du dasselbe … Syndrom hatten, ist das allein doch kein Beweis für deine Abstammung. Ambras kommt doch sicher auf der ganzen Welt vor …«
»Nur, dass es nicht die Ambras-Variante ist, Pierre.« Ich wende Pierre den Rücken zu und ziehe die Jacke aus, das Rollkragenshirt und schließlich auch noch das Unterwäschetop. Mein Herzschlag dröhnt in meiner Brust und mein Nacken und mein Rücken pochen, als wäre meine Haut zu eng. Willkommen zurück in der Manege, Fleur. Trotzdem nehme ich auch noch die Haare hoch und gebe den Blick auf meinen Nacken frei. Und obwohl es nur Pierre ist, der mich betrachtet, spüre ich das Sengen von tausend fremden Blicken, höre die vernichtenden Worte und fühle alles wieder auf der eigenen Haut, als wäre keine Sekunde vergangen, seit ich zwanzig war.
Denn das ist das Tückische an Scham: Sie hat kein Verfallsdatum. Selbst die tiefste Trauer wandelt sich irgendwann, sinkt in uns ein und wird ein Teil von uns. Mit Trauer kann man verwachsen, so, wie Bäume ihre Verletzungen überwallen. Scham dagegen reißt die Rinde immer wieder von Neuem auf. Sie ist ein Dorn, der in der Seele eitert.
»Das hier ist das Falx-Syndrom«, sage ich. »Benannt nach dem lateinischen Wort für Sichel – es bezieht sich auf diese typische Form der Haarverteilung.«
Viel wird Pierre nach den wenigen Tagen ohne Tabletten auf meinem Rücken noch nicht sehen, aber dort, wo bald die ersten Härchen zu einem feinen Flaum wachsen werden, ist die Haut gereizt und gerötet und zeichnet bereits deutlich die Muster vor: ein schmaler Streifen vom Haaransatz über den Nacken bis zur Mitte der Wirbelsäule – und von den Schultern ausgehend in symmetrischen zarten Bögen die Hinterseite der Oberarme entlang. Meine Mutter erzählte mir als Kind, ich sei mit einem Engelsflaum geboren worden – als Erinnerung daran, dass dort einmal Flügel gewesen waren, als ich noch im Himmel war wie alle Babys vor ihrer Geburt. Aber dieses Märchen hat leider keinen wahren Kern.
»Es ist eine erbliche Mutation, die noch seltener ist als Ambras und erst vor ein paar Jahren als eigenes Syndrom erkannt und eingestuft wurde«, fahre ich mit belegter Stimme fort. »Und es ist keine gewöhnliche Hypertrichose, die Mutation ist komplexer und wirkt sich auf alles Mögliche aus. Normalerweise habe ich ein Medikament, das das Haarwachstum stoppt, aber seit ich in Frankreich bin, habe ich es nicht mehr genommen.«
Hinter mir höre ich nur Pierres Atmen. Und ich bin ihm dankbar, dass er nichts sagt und auch keine Fragen stellt. Ich ziehe das Top wieder an, aber ich wende mich nicht um. Es ist einfacher, zu den Matronen zu sprechen, als Pierre in die Augen zu schauen. »Das ist mein genetischer Blitzschlag«, füge ich leise hinzu. »Er wächst sich nicht aus wie der Hitzeschaden bei einer Eiche, es vererbt sich nämlich sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits und mit so hoher Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind ohne Falx so etwas wie ein Lottogewinn wäre. Das meinte meine Großmutter, als sie vom Fluch der d’Apchers sprach. Ich dachte immer, nur mein Vater und ich seien davon betroffen. Aber offenbar trat es gar nicht als Neumutation bei meinem Vater auf, sondern ist schon länger in der Familie.«
Erst jetzt, als ich es laut ausspreche, wird es real. Margot war wie ich – beziehungsweise ich war wie sie. Und meine Familie ist nicht länger ein Buch, das in einer fremden Sprache geschrieben ist. Man muss nur den genetischen Code lesen und hat eine Chronik, beginnend bei Irène, die ein Kind bekam, das in ihren Augen einem Tier glich, einer Strafe Gottes für die Sünden der Menschen. Und da sie eine Heilige war, suchte sie die Schuld bei ihrem Mann Roux le païen , der lieber jagte als zu beten und der die heidnischen keltischen Götter nicht von seinem Land vertreiben wollte, so sehr ihn ihre bischöflichen Verwandten auch zu maßregeln versuchten. Auch das zweite Kind brach diesen genetischen Fluch nicht. Das Gemälde von Roux und Irène mit der von Spitzenstoff verhüllten Wiege ihres Zweitgeborenen enthüllt die ganze Tragik ihres Lebens.
Bete das Ave Maria, Kind der Sünde, hallen Margots Worte in mir wider. Bitte die Heilige Jungfrau, dass sie deinem Vater vergibt und auch deinen von Gott verfluchten Vorfahren verzeiht. Ihre religiöse Verbissenheit wirkt wie ein Widerhall von Irènes Scham über ihr Kind, dessen Makel von ihrer Familie in Nantes als Schande und Gottesstrafe ausgelegt wurde. Doch es half nichts, die Schwarze Madonna auf Knien darum anzuflehen, den Fluch von ihrem Sohn Lucien zu nehmen. Beten ist den Genen leider herzlich egal.
»Warum ist es so selten, wenn es sich mit so hoher Wahrscheinlichkeit vererbt?«, höre ich Pierre fragen.
»Weil es wenig wahrscheinlich ist, mit dieser Störung Kinder zu zeugen. Wie ich schon sagte, es ist ein komplexes Syndrom, bei dem verschiedene Gene zusammenspielen. Jedenfalls ist dadurch die Wahrscheinlichkeit, Kinder zu bekommen, bei Betroffenen deutlich niedriger im Vergleich zur normalen Empfängnisrate.«
»Aber zwischen den d’Apchers und dir liegen immerhin …. acht oder neun Generationen? Und die Gräfin hatte doch sogar zwei Söhne bekommen.«
Genau wie Margot , denke ich. Und beide Frauen haben viele Jahre auf ein zweites Kind gewartet.
»In jeder Generation muss ja nur ein Kind zur Welt gekommen sein, das die Genmutation weiterträgt«, murmle ich. »Und dass es wenig wahrscheinlich ist, sogar ein zweites Kind zu bekommen, heißt ja nicht, dass es keine statistischen Glücksfälle geben kann.«
Zumindest für Margot war der makellose Lucien ein Glücksfall und ein Beweis, dass ihre Gebete erhört wurden. Es ist seltsam, die harte verbitterte Frau mit neuen Augen zu betrachten. Zum ersten Mal spüre ich Mitgefühl für ihre Verzweiflung und die Scham, die sie sicher gequält hat. Wie viel hat es sie gekostet, ihr Geheimnis zu verstecken – vermutlich sogar vor ihrem Mann und ihrem Sohn. Schloss sie sich wie die Wasserfrau Melusine ins Bad ein, entfernte heimlich ihren Makel und verbarg ihre entzündete Haut unter hochgeschlossenen Kleidern und ihrer Maske von heller Schminke und Puder? Ich verstehe den trotzigen Triumph, mit dem sie Lucien auf seinem Kommunionsfoto der Welt präsentierte. Und sogar ihren Hass, als sie mir das Haar abschnitt. Struppiges Ungeheuer , höre ich sie voller Verachtung flüstern.
Ja, Menschen zerschlagen gerne Spiegel, weil sie ihr eigenes Abbild darin nicht ertragen können. Maurice und ich waren Margots Spiegel. Lucien, ohne Falx geboren, war ihre Erlösung. Doch meine Geburt brachte den Fluch zurück.
Ich zucke zusammen, als sich etwas Weiches auf meine Schultern legt. Pierre hat mir die mitgebrachte Decke umgelegt. »Du zitterst«, sagt er sanft. Seine Hände bleiben leicht auf meinen Schultern liegen, reiben vorsichtig über die Arme, als wollte er die Haut warmreiben. Vorsichtig lasse ich mich zurücksinken, bis mein Rücken an seiner Brust lehnt und mein Kopf an seiner Schulter. Und Pierre schließt die Arme um mich und zieht mich so nah an sich heran, dass ich in seiner Umarmung und seiner Wärme versinke. Im Schweigen, das wir teilen, kann ich die Augen schließen.
»Ich hatte vermutet, die Narben stammen von einer Verbrennung«, höre ich Pierre sagen.
»Es war eine Laserbehandlung«, antworte ich. »Ich wollte nicht mehr in der Schule als Affenmädchen verspottet werden und die Zielscheibe sein. Ich wollte einfach nur unsichtbar sein und in der Menge verschwinden.« Und vor allem nichts mehr mit meinem Vater gemeinsam haben. Bei ihm fiel das Falx weniger auf. Auf dem Hochzeitsfoto aus Paris gibt ihm sein Haar, das er in die Stirn kämmte, um den Flaum zu verbergen, etwas Verwegenes, genau wie sein Bart. Aber für mich als Mädchen war es ein Brandzeichen, ein Siegel, das mich überall sichtbar und zu einem Teil von ihm machte.
»Für Hormontherapie war ich mit vierzehn Jahren viel zu jung«, fahre ich fort. »Die Haare auf übliche Weise zu entfernen, brachte mir jedes Mal eine allergische Entzündung ein, denn bei Falx reagiert die Haut viel empfindlicher. Mein Vater trug einen Bart, um sich nicht rasieren zu müssen. Meine Mutter war strikt dagegen, aber als es für mich so schlimm wurde, dass ich das Zimmer nicht mehr verlassen wollte, willigte sie trotz meines Alters schließlich doch in eine Haarentfernung ein. Als Test wurde erst am Oberarm ein kleiner Streifen gelasert. Es heilte so gut ab, dass die Behandlung im Gesicht begonnen wurde – das, was mich äußerlich am meisten zur Außenseiterin machte. Doch dummerweise hat sich die Wundfläche auf der Stirn und der linken Wange entzündet, vielleicht habe ich unbewusst daran herumgekratzt, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls sprang die Infektion auf die tieferen Hautschichten und die Nerven über. Und dann war ich wochenlang im Krankenhaus und alles, was sie tun konnten, war, mich mit Schmerzmittel und Antibiotika vollzupumpen und zu retten, was zu retten war.« Ich muss mich räuspern, so trocken ist meine Kehle. »Vielleicht mochte ich ja deshalb die Märchen. Dort war niemand für immer verhext. Die weiße Katze legte einfach ihr Fell ab und verwandelte sich zurück in die Prinzessin. Ich hoffte, ich könnte wie sie sein.«
»Du weißt ja, Prinzessinnen werden überschätzt«, antwortet Pierre. Das entlockt mir ein Lächeln. Ich entspanne mich in seinen Armen. Dennoch kostet es mich Mut, den Kopf zu wenden und ihn anzusehen. »Tut mir leid, Pierre. Dabei sollte das ja eigentlich ein Date werden und kein Oversharing-Event meiner Vergangenheit.« Ich will mich aufrichten, aber Pierre hält mich sanft, aber bestimmt zurück. Wärme durchströmt mich, als er mir das Haar aus der Stirn streicht. Den Kuss auf meiner Stirn spüre ich nicht, doch ich erahne die Berührung an dem Atem, der meine Augenlider streift, und an meinem Herzen, das stolpert und schneller schlägt. Worte sind nicht alles, das hatte Pierre mir bei unserem letzten Gespräch gesagt. Und er hat recht. Manchmal sind es die Gesten, die viel mehr ausdrücken.
»Du wolltest doch wissen, was du finden würdest, wenn du den Namen Pierre Cohen im Internet eingibst«, sagt er nach einer Weile. »Du würdest auf meinen jüngeren Bruder Alain und unsere Firma stoßen, die wir ein paar Jahre lang gemeinsam aufgebaut hatten. Aber vor allem würdest du Fotos von Alice Cohen finden. Von unseren Reisen durch Spanien mit dem Motorrad. Wir waren oft auf Tour, in Schottland und England und Skandinavien … Es gibt sogar ein offizielles Verlobungsfoto unter dem Nordlicht auf den Lofoten vor drei Jahren. Und auf den neuesten Bildern siehst du Alice mit Maja im Arm. Die Kleine ist jetzt drei Wochen alt. Ihr Bruder – Laurent – ist eineinhalb. Er sieht wirklich genauso aus wie ich.«
Mit vielem hätte ich gerechnet, aber das trifft mich nun völlig aus dem Off. Und diesmal hält Pierre mich nicht zurück, als ich mich seiner Umarmung entziehe. »Wolltest du deshalb nicht, dass ich im Internet nach dir suche? Weil du in Paris Frau und Kinder hast?«
»Fleur …«
»Warum hast du nichts gesagt, Pierre? Du redest von Eiben und Tannen und lässt mich mein ganzes Leben vor dir ausbreiten, ohne Alice wenigstens in einem Nebensatz zu erwähnen? Und was war das dann die ganze Zeit mit uns, wenn du in Wirklichkeit verheiratet bist und sogar eine neugeborene Tochter hast?«
Ich kann nicht fassen, dass ein schnelles Ricdin-Ricdon-Lächeln in seinen Mundwinkeln aufzuckt. »Abgesehen davon, dass du mich sofort als untreuen Ehemann abstempelst, gäbe es auch noch die Möglichkeit, dass wir geschieden sind«, bemerkt er dann. »Aber die Wahrheit ist: Alice ist nicht meine Frau. Wir waren zwar fünf Jahre zusammen, wir haben uns verlobt, aber geheiratet haben wir nie. Und Laurent und Maja sind nicht meine Kinder.«
»Aber du sagtest doch …«
»… dass Laurent mein Ebenbild ist? Ja, und wie du wohl am besten weißt, kann Vererbung eine komische Sache sein.«
Ich sollte nicht so erleichtert sein. Aber für einen Moment habe ich Pierre tatsächlich zugetraut, eine Familie zu verschweigen. Du bist eine tindergeschädigte Zynikerin, Fleur, schelte ich mich. Doch Pierre scheint nicht gekränkt zu sein.
»Mein Bruder ist in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von mir«, fährt er ruhig fort. »Aber die Familienähnlichkeit schlägt bei seinem Sohn in meine Richtung aus. Und glaub nicht, dass Alain mit dieser Ähnlichkeit gut klarkommt.«
Ich schlucke. »Und du?«
Die Frage trifft wohl mitten in einen wunden Punkt. Pierre lächelt bitter. »So gut, wie man eben damit klarkommt, die Freundin und den Bruder am selben Tag zu verlieren, weil sie dir eröffnen, dass sie schon seit einem Jahr miteinander schlafen und sie im vierten Monat schwanger ist. Und bis zum Vaterschaftstest war nicht mal klar, ob Laurent mein Kind oder das meines Bruder ist.«
Ich brauche eine Weile, um dieses Puzzle wirklich zusammenzusetzen. »Aber dann … hat Alice dich mit deinem eigenen Bruder betrogen!«, hauche ich. »Während sie noch mit dir schlief.«
Über Pierres Miene huscht ein Schatten. »Ja«, sagt er leise. »Aber ich habe mich auch selbst betrogen. Ich wollte lange nicht sehen, dass sich zwischen den beiden etwas anbahnt, aber ich hätte es wissen können. Und es war nicht der beste Weg für uns alle, wie es gelaufen ist. Aber heute sehe ich, dass unsere Beziehung längst auf der Kippe stand. Alice wollte unbedingt Kinder haben. Schon auf unseren Touren hat sie immer wieder davon gesprochen. Doch mir war es zu früh. Und als dann unser Vater starb und Alain und ich die Firma übernahmen, da war der Zeitpunkt auch nicht richtig. Gott, was haben Alice und ich uns über dieses Thema gestritten! Ich bin nicht stolz darauf, aber ich wollte sie einfach nicht verstehen. Und irgendwann hörte mein Bruder ihr wohl besser zu als ich – und er wäre nicht Alain, wenn er seine Chance nicht ergriffen hätte.«
»Aber dann hätte es andere Wege gegeben, als dich zu hintergehen. Zum Beispiel eine faire Trennung.«
Pierre zuckt mit den Schultern. »Ja, sicher. Aber das sagt sich so leicht im Nachhinein. Und die Wahrheit ist, ich habe es auch verhauen. Ich war nicht immer fair und habe es ihr Weißgott nicht leicht gemacht. Und ihr Traum war es nun mal, eine Familie zu haben. Sie hat es mir tausendmal gesagt, ich habe es tausendmal überhört. Alain war bereit dazu. Und mein Bruder hat mir oft gesagt, dass ich ein Idiot sei, weil ich Alice hinhielt und sie nicht zu schätzen wusste. Und zumindest mit dem Hinhalten hatte er recht.« Er leckt sich über die Lippen und starrt aus dem Fenster zu den fernen Bergen. »Das habe ich damals auf die harte Tour gelernt: dass es nie nur eine Wahrheit gibt, vor allem nicht in der Liebe. Und dass es in einer Beziehung nicht darum geht, seine Wahrheit durchzusetzen.«
So kann man es auch betrachten , denke ich. Ich frage mich, wo er seinen Groll und seine Trauer über den Verrat vergräbt, vielleicht zwischen den Wurzeln der Eiben.
»Und deshalb bist du aus Paris weggegangen?«
Pierre nickt. »Die Stadt ist kleiner, als man denkt. Alain und ich haben zwar die Firma verkauft und ich habe die Zelte abgebrochen. Aber ganz weg kommt man nie. Die ganze Verwandtschaft drängt darauf, dass Alain und ich Frieden schließen, den Kindern zuliebe. Und weil wir doch Brüder seien, trotz allem. Aber ich komme einfach nicht damit klar, so zu tun, als wäre nichts gewesen und meine Rolle als Schwager und Onkel zu spielen. Es macht mir zu schaffen, Alice mit den Kindern zu sehen.«
»Weil du sie noch liebst?« Ich weiß nicht, warum diese Frage so wichtig ist, aber sie ist es. Pierre scheint zu spüren, wie angespannt ich bin. Er schaut mich sehr konzentriert an, aus schmalen Augen.
»Ganz ehrlich, Chardon?«, sagt er dann ernst. »Ich wünschte, ich könnte sie noch lieben. Aber das mit Alice war vorbei, als sie mir die Wahrheit über ihre Schwangerschaft beichtete. Ich hielt mich damals für einen großzügigen Menschen, der viel verzeihen kann. Aber manchmal passieren Dinge, die einfach alles verändern – auch uns selbst. Dann sind wir nie wieder dieselben wie vorher. Diese Zeit, in der wir alle drei noch nicht wussten, wer von uns Brüdern der Vater des Kindes ist, hat für mich alles verändert. Einfach alles. So einen Verrat konnte ich nicht einfach verzeihen. Und es gelingt mir bis heute nicht.«
Ich schlucke. Plötzlich ist mir kalt, als wäre die Wahrheit ein kühler Hauch. »Flüchtest du deshalb in die Gegenwart?«, frage ich leise.
»Tue ich das?« Pierre lächelt und schaut aus dem Fenster zu den Bergen. »Ja, vielleicht hast du recht. Ich glaube seitdem nicht mehr an gemeinsame Geschichten, an Versprechen und Worte. Und wie du dir vorstellen kannst, halte ich seitdem nichts mehr von Geheimnissen. Ich verlasse mich lieber auf das, was greifbar und wirklich ist.«
Er wendet sich mir wieder zu. Das Licht der Girlande entzündet den Bernsteinglanz in seinen Augen, der Duft von Sandelholz vermischt sich mit der Ahnung von Harz und Nebel. Es ist Pierres Zauber, dass alles weit weg scheint, als hätte die Gegenwart einfach den Atem angehalten. Und alles in mir will wieder in seine Arme fließen und meine eigenen Narben vergessen. Aber Pierres Worte hallen noch wie ein Echo in mir. Manchmal passieren Dinge, die einfach alles verändern – auch uns selbst. Dann sind wir nie wieder dieselben wie vorher. »Jede Antwort im Leben hat ihren Preis«, sagt Pierre. »Und man muss wissen, ob man bereit ist, ihn zu zahlen. Also: Spielt es für dich wirklich eine so große Rolle, ob dieser Lucien damals noch am Leben und vielleicht sogar die Bestie war?«
»Darum … geht es nicht. Zumindest nicht nur«, flüstere ich.
»Dann fürchtest du also nur, dass die Filmleute deinen Namen herauskriegen könnten, weil dann die Geschichte mit deinem Falx-Syndrom in Ouliers Verein landen könnte?«
Nur?, denke ich. Ich weiche seinem Blick aus und starre auf meine Hände in meinem Schoß. Ganz von selbst habe ich sie zu Fäusten geballt. »Sie wird dort landen«, antworte ich zögernd. »Wenn sich wirklich herausstellt, dass Lucien nicht als Kind gestorben ist, sondern zur Zeit der Bestie lebte und als Täter infrage kommen könnte, dann läuft die Maschinerie erst richtig an.«
»Aber wer sagt, dass Oulier und die anderen auf diesem Weg die Verbindung zu dir herstellen können? Du hast ein paar Narben, na und? Solange du niemandem erzählst, was es damit auf sich hat, musst du dir doch keine Sorgen machen.«
»Danke, dass du mich beruhigen willst, Pierre«, bringe ich mit belegter Stimme heraus. »Aber glaube mir, wenn ich dir sage, so funktioniert das Internet leider nicht.«
»Okay. Aber selbst, wenn die Verbindung rauskommt, was wäre heute so schlimm daran? Ich will es einfach nur verstehen, Fleur. Du bist nicht mehr das Schulkind, das gemobbt wurde, weil es anders aussah. Also wovor hast du solche Angst?«
Vor tausend Augen, Pierre . Denn Algorithmen sind Grabräuber. Egal, wie tief wir unsere Vergangenheit beerdigen, sie graben sie wieder aus. Der Sisyphus unserer Zeit rollt keinen Felsen auf den Berg, von wo aus der Stein immer wieder herabrollt. Er hat eine Schaufel in der Hand, mit der er vergeblich versucht, die Gräber zu schließen und das Recht auf Fehler und Vergessen zu verteidigen.
»Ich will einfach nicht an die Öffentlichkeit gezerrt werden«, sage ich und stehe auf. Doch als ich zu meiner Jacke greifen will, kommt Pierre mir zuvor und reicht mir seine Arbeitsjacke. »Es ist richtig kalt geworden. Zieh meine Jacke an, ich begleite dich zum Auto. Oder … möchtest du hier übernachten?«
»Im Wald bei den Wölfen?«
Er lacht. »Stimmt, die hatte ich vergessen. Aber vielleicht wäre es ein Angebot, im Hotel zu schlafen? Ich fahre dich mit dem Motorrad runter, dann lässt du das Auto einfach hinter den Hecken stehen, so weiß niemand, wo du bist. Mein Zimmer ist zwar nicht aufgeräumt, aber auf jeden Fall hättest du dort wirklich Ruhe. Magali ist unterwegs, sie wird dich also gar nicht sehen. Und morgen früh komme ich runter und wir holen den Morgenkaffee nach. Wie hört sich das an?«
Besser als alles, was ich in den letzten Tagen gehört habe. Ich schlucke. »Und du?«
Pierre schenkt mir ein Spielerlächeln und holt seinen Schlüsselbund hervor. »Ich bleibe hier, bei Allerleirauh und den Wölfen«, gibt er zurück. »Es wird höchste Zeit, die Lodge zu testen. Touristen werden schließlich viel Geld dafür zahlen.«