Alejandro besucht sie nie. Das ist die schrecklichste aller Qualen. Die Qual des Wartens. Nein, das Schlimmste ist nicht das Warten, sondern die Ahnung, dass dieses Warten immer sinnloser wird. Sie zwingt sich dazu wie zu einer gymnastischen Übung. Damit der Tag gut anfängt. Damit sie die wenige Nahrung, die ihr Körper annimmt, gut verdaut. Um Spannung in ihre Stunden zu bringen, die ein Versprechen enthält. Auch mit reglosem Körper. Auch wenn ihre Tage nichts sind als die Bedürfnisse von Säuglingen: essen, schlafen, essen, kacken und wieder schlafen. Sich nicht bewegen. Um dem Körper die Chance zu geben, sich zu einem lebensfähigen Puzzle zusammenzusetzen. Die Löcher stopfen. Selbsttätig. Die Lecks schließen. Erdrutsche abdichten. Das Knochengerüst wiederaufrichten.
Auf Alejandro hoffen, auf einen Brief von ihm warten, oder darauf, dass die inzwischen angebrochene Nacht vorübergeht, damit sie wieder mit Warten beginnen kann.
Die seelische Wunde schmerzt am meisten. Mehr als die vielen kreischenden Symptome ihres versehrten Körpers. Wenn es überall schmerzt, schmerzt es nirgendwo. Es hebt sich auf. Brennende, dumpfe, tückische, kribbelnde Schmerzen, Schmerzen von Peitschenhieben, Nadel- und Messerstichen vermischen einander und heben sich auf. Ihr Rücken, ihr Hals, ihre Zehen, ein Fuß, ein Bein, ihr Genital. Überall Schmerzen. Alles schreit. Jeder Teil von ihr kämpft darum, im Leid als Erster Anerkennung zu finden, wie eine Schar egozentrischer Kinder nach Kräften schreit, um die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu lenken. Das Durcheinander bewirkt, dass das kakophone Geschrei zu einem einzigen Sturm wird. Die Röhren kommunizieren. Man neigt dazu, sich einen körperlichen Schmerz zuzufügen, um geistige Qualen zu vertreiben. Durch Trinken zum Beispiel. Bei ihr ist es umgekehrt. Der Körper ist auf dem Höhepunkt dessen, was er ertragen kann, der Geist übernimmt, lenkt ihn ab, und so denkt sie ständig an Alejandro, nur an ihn, sie könnte um ein Streicheln bitten, nur einen Blick, eine Spur von Mitleid, sie möchte in seinen Armen liegen, auf seinem Körper, möchte sein Gehirn sein, Alejandro kommt nicht, kommt nicht mehr, ist fast nie gekommen. Ihr novio ist ein abwesender Prinz. Sie ist einsam und allein.
Einen Monat hat sie nach dem Unfall im Krankenhaus verbracht. Dort haben ihre Eltern sie nicht besucht. Auch sie standen unter Schock. Reglos. Sprachlos. Kraftlos. Keine Hilfe für sie.
Nun ist sie wieder zu Hause, aber immer noch im Sarg, an ihr Himmelbett gefesselt, in ihrem Zimmer, das zu einem Gefängnis mit großen Fenstern geworden ist. Einmal am Tag bringt man sie nach draußen, wie ein kleines Tier, das sich austoben muss. Das heißt, man schafft das Bett in die Veranda, stellt es zwischen Kakteen und Bougainvilleen, wo sie einen Ausschnitt des Himmels sehen kann. Von der Veranda aus ist der Himmel nur ein ärgerliches Viereck. Sie muss eine Bettpfanne benutzen und kann das starre Bett nicht verlassen, um herumzuspringen, in der Erde zu buddeln, daran zu riechen. Frida betrachtet das Himmelsviereck. Wie ein großes flatterndes Segel aus blauer Farbe. Das Blau des Himmels, punto final.
Sie erhält Besuch. Wie eine Grünpflanze, die man gießt. Die Klatschweiber aus dem Viertel, die viel Zeit haben, erkundigen sich nach la pobre niña. Sie kennen Frida von klein auf, es sei ein Wunder, sie wollen zur Jungfrau von Guadalupe beten, um für ihre Gnade zu danken. Sie stellt sich oft schlafend, um sich ihrem oberflächlichen Geplauder zu entziehen, dem nervenden Geräusch klackernder Kastagnetten. Auch ihre Freunde besuchen sie manchmal. Mit Geschenken und Blumen. Die aus der cachucha-Bande haben ihr eine Puppe geschenkt. Wie oft haben sie zusammen gelacht, gute Manieren mit Füßen getreten, langweiligen Lehrern böse Streiche gespielt und in den cantinas am Zócalo die Welt neu erfunden. Die cachuchas heißen so, weil sie eine cachucha, eine Kappe, tragen, ihr Markenzeichen: Miguel, den sie Chong Lee nennt, weil er chinesische Gedichte mag, Agustín, Alfonso, Manuel, José, Chucho (der eigentlich Jesús heißt) und Carmen, das einzige andere Mädchen.
Als sie im Rot-Kreuz-Krankenhaus lag, kamen die Freunde noch öfter, es liegt nicht weit von der Prepa entfernt. Das war einfacher. Coyoacán ist ein Vorort von Mexiko, am Ende der Welt. Die Besuche werden weniger. Sie wurde an den Rand gedrängt, hört nicht mehr die Geräusche des dort ohne sie immer mehr brodelnden Lebens. Frida kann nicht einmal sitzen. So sieht im Moment ihr Horizont aus, ihr zu eroberndes Ziel: wieder sitzen lernen, den Oberkörper aufrichten, dieses Zimmer nicht mehr nur aus der Horizontalen wahrnehmen. Die Welt liegt flach.
Alejandro ist der Anführer der cachuchas. Als sie nach dem Unfall zu sich kam, galt ihr erster Gedanke ihm: Wo war er, war er verletzt? Erst später tauchten die Bilder des durch den Zusammenstoß verursachten Chaos in ihrem Gedächtnis auf, er befindet sich über ihr und nimmt sie in den Arm. Sie hatte in ihrer Benommenheit, ihrem verwirrten Geist alles vergessen. Man beruhigte sie: Es gehe ihm gut, er habe nur ein paar Prellungen, sei schon wieder zu Hause. Wie kann man am selben Ort in einem Bus sein, dicht aneinandergeschmiegt und von der verdammten Straßenbahn so unterschiedlich getroffen werden?, dachte sie manchmal böse. Rad des Schicksals.
Im Krankenhaus kam jeden Tag ihre große Schwester Matita vorbei. Matita kann so witzig sein. Sie riss laut Witze in dem Mehrbettzimmer, drückte Frida tröstend an ihren großen Busen, ihr unebenes Gesicht sah mitgenommen aus, sie trug ihre Hässlichkeit wie einen Blumenstrauß, und ihre Körbe waren bis zum Rand gefüllt mit Zucchinipuffern, die Frida kaum essen konnte, doch sie zu riechen hieß, glückliche Erinnerungen zu schmecken. Die romantische Matita war von zu Hause weggelaufen, einem Liebsten gefolgt und drohte von der Familie verstoßen zu werden. Sie wurde verstoßen.
Beim Roten Kreuz saß sie an Fridas Bett und strickte, erzählte ihr den neuesten Tratsch aus der Stadt, von den Ereignissen auf den Märkten und von Kindern, die während der Messe einschliefen. Sie bewahrte Frida vor dem Abgrund. Auch die anderen Schwestern besuchten sie, allen voran ihre jüngere Schwester Cristina, fast ein Zwilling, die ganze Nächte bei ihr wachte und auf dem Stuhl neben dem Bett schlief.
Doch Matita, Matilde genannt wie die Mutter, hegte und pflegte sie rund um die Uhr, sie, die keine Familie mehr hatte. Man kann nie vorher wissen, wer einem die Hand reicht, wenn alles einstürzt.
Einen Brief zu schreiben ist eine echte Herausforderung. Es tut überall weh, vor allem an der Hand, aber es beschäftigt den Kopf, sie schreibt Alejandro einen flehenden Brief nach dem anderen. Wo ist er, der liebe novio? Warum wacht er nicht am Bett seiner Femme fatale, seiner zu Brei gewordenen novia, seiner zerstückelten Braut? Frida denkt: Gelb, Gelb, Gelb. Jede Farbe entspricht einem Gefühl. Gelb ist ein schlechtes Zeichen. Sie liest auch ein wenig, meistens Walt Whitman, den sie auswendig kann. Was ist ein Mann überhaupt? Was ich? Und was bist du?
Wenn sie zu müde ist, bittet sie Matita, ihr vorzulesen. Ihre Schwester Matita kommt der Bitte nach und sagt, sie verstehe nichts von dem ganzen Kram. »Ich auch nicht«, sagt Frida, »aber manchmal doch, also lies weiter.«
Und Matita liest weiter für ihre kleine, in tausend Stücke gebrochene Schwester.