Frida Kahlo beginnt drei Monate nach dem Unfall wieder zu laufen – niemand hat daran geglaubt. Außer ihr vielleicht. Dies scheint eher ein Wunder zu sein als Wissenschaft. Matilde, die fromme Matriarchin, geht jeden Tag fröhlicher in die Kirche, hält fest ihren Korb mit Opfergaben, blecherne milagros in Form von Herzen, Beinen oder Händen. Sie dankt dem Himmel ausgiebig. Frida hat angefangen zu arbeiten, zuerst hat sie ihrem Vater in seinem Fotoatelier geholfen, danach sucht sie sich hier und da kleine Arbeiten. Sie hat Alejandro wiedergesehen, geht aber nicht mehr in die Prepa. Mit der Schule ist es vorbei.
Sie träumte davon, Ärztin zu werden. Egal. Sie hatte ja auch geträumt, kerngesund zu sein. Nein, sie hatte es nicht geträumt, sie war wirklich gesund gewesen. Wie grausam ist die Erkenntnis, etwas verloren zu haben, von dessen Glück man nichts wusste. Frida ist nicht mehr dieselbe und kann sich nicht vorstellen, ein Leben wieder aufzunehmen, das einer anderen gehörte, das Leben einer Frida, die nicht zerstört wurde. Im wörtlichen oder übertragenen Sinn, Unfälle haben im Nachhinein immer etwas mit Wegkreuzungen zu tun. Man mischt Karten neu, von deren Besitz man nichts ahnte, man ermisst, was einem geblieben ist, und weiß genau, was einem genommen wurde. Das lustige Leben in der Prepa, das ständige Zitiertwerden ins Büro der Schulleitung, wo sie sich wegen ihrer Frechheiten und Streiche zu verantworten hatte, kommen ihr heute unwirklich vor. Sie sind wie eingeschlossen in eine durchsichtige Schachtel mit Kindheitserinnerungen. Und so lächerlich im Vergleich zu ihren jetzigen Heldentaten: aus dem Bett kommen, die Füße auf den Boden setzen und ohne Stütze losgehen. Denn Frida, die bedankt sich nicht beim Himmel, sie verlässt sich allein auf sich selbst. Sie hat ihre Reglosigkeit überwunden, weil sich ihr ganzes Leben auf das einzige Ziel konzentriert hat, auf jede Minute ihres Schmerzes zu hören und ihr Leid zu bändigen.
Doch der Rückfall ist heftig.
Während der Monate ihrer schnellen Auferstehung hat Frida die verzweifelten Signale ihres Körpers zum Schweigen gebracht. Den Rücken, der ihr wehtat, den Fuß, der ihr kaum gehorchte, die dauernde Müdigkeit. Allzu entschlossen, sich nur noch um ihre mäandrierenden Gefühle zu Alejandro und die brennende Lust einer lebendigen jungen Frau zu kümmern, hat sie die beunruhigenden Vorzeichen ihres Körpers beiseitegeschoben. Doch ein Jahr nach dem Unfall muss sie in die gefürchtete Horizontale zurückkehren: chirurgische Eingriffe und Himmelbett. Gipskorsett dazu. Der Körper hat versagt, man hatte die Schäden an der Wirbelsäule nicht richtig eingeschätzt. Alles geht wieder von vorne los.
Vor lauter Wut nimmt sie stark ab. Was soll das heißen, nicht richtig eingeschätzt? Die Ärzte, die Freunde, die Eltern und Schwestern, sie hasst sie alle. Weil sie lügen, weil sie laufen können. Frida darf sich wieder nicht bewegen, wieder muss sie im Bett liegen, festgenagelt wie Jesus am Kreuz, ihr Oberkörper und ihre Brust sind eingegipst, wie in einen Panzer eingesperrt. Um den Nabel herum hat man ein Loch freigelassen, damit die Haut atmen kann. Ihre Haut soll atmen? Diese Haut ist spröde wie Papier, ihr Körper ist zu traurig, er wird trocken und verkümmert, er ist beleidigt. Sie möchte am liebsten tot sein.
Frida weint so oft, dass zwei Schwellungen unaufhörlich ihr Gesicht schmücken. Zwei kleine Säcke unter ihren Augen, wie ein Lager von Tränen, die jederzeit vor Wut hervorbrechen können. Die Tränen rinnen manchmal leise wie ein stiller Bach, der das Schwarz ihrer Augen trübt. Manchmal rinnen sie mit Geschrei, kehligem Röcheln, dabei kommen Leid und Bitterkeit in philharmonischer Zuspitzung zusammen. Eine ganze Skala. Sie weint in Sopran und Bariton. Traue weder einem lahmen Hund noch einer weinenden Frau, hat ihr Freund Chong Lee einmal aus Spaß zu ihr gesagt. Frida ist beides, lahmer Hund und weinende Frau. Sie ist wieder am Ausgangspunkt, in gerader Lage, Reglosigkeit am Horizont, Totenstille.
Und Alejandro lässt sie im Stich. Eine Art Déjà-vu. Er will nichts mehr von ihr wissen, will seine Braut nicht mehr, will nicht mehr mit Frida um die Welt reisen. Früher hatte sie ihm vorgeschlagen, zu den Gringos in die USA zu fahren, sie beide. Vorher. Vor ihrem gemeinsamen Unfall. Aber ist es überhaupt Alejandros Unfall, wo er nichts gehabt, nicht gelitten hat? Es ist ihr Unfall, sie sollen ihr wenigstens das lassen, ihr Martyrium! Sie wollte nach Indien, China, Ägypten fahren. Ihr Leben lang reisen, mit dem Schiff, dem Flugzeug, dem Heißluftballon. Was soll’s, dann reist sie eben im Bett ihres Baldachinflusses. Sie wird umherschweifen mit ihren kranken Beinen und versehrten Rippen. Alejandro will von ihr nichts mehr wissen, weil sie sich in den paar Monaten, in denen es ihr besser ging, schlecht benommen hat. Ja, sie hat andere geküsst, ja, sie hat sich hier und da auf andere eingelassen, hat ab und zu leise ich liebe dich gesagt, na und? Ja, sie war sehr lebendig. Na und, Alex? Sie würde gern in seiner Hosentasche leben, tief unten, winzig und im Warmen, in seinen Hemdfalten atmen, ihm zu Diensten sein, für seine Lust da sein, ihn nie verlassen wie eine Zecke, wie eine Fee, ihm gehören, mit ihm eins sein. Sie kann nicht nur Frida sein, sie muss deine Frida sein, deine Fridita. Ist sie jetzt nichts Besonderes mehr, hat sie einen schlechten Ruf, redet man hinter ihrem Rücken, sie sei leicht zu haben, sie sei unwürdig? Sie hat andere geküsst, was ist schon dabei? Sie ist achtzehn, manchmal verteilt man kleine Küsse wie Honigkuchen, das ist ganz natürlich und hat nichts mit Liebe zu tun. So etwas tue man als Mädchen nicht, sonst sei man verloren, erklärt er ihr. Aber sie ist doch nicht irgendein Mädchen, sie ist Frida, mit ihrer Brust und ihrem Schnurrbart, dem gleichen wie Emiliano Zapata. Alejandro küsst auch andere Mädchen, das weiß sie. Er tut es nicht mal heimlich. Er erzählt es ihr sogar. Weil sie wunderhübsch sind. Hübscher als Frida, vermutet sie. Mit ihrem rötlich-braunen Teint und den dicken Augenbrauen. Sie ist auf Enttäuschungen vorbereitet, seit sie den Kopf zwischen den Beinen ihrer Mutter hervorgestreckt hat, voller Blut und trüber Flüssigkeit. Immer wieder beschwört sie ihre Liebe, ist sogar bereit, seine anderen Eroberungen gernzuhaben, alles hinzunehmen! Denn ein bisschen wahre Liebe, das bedeutet doch immerhin, dass man geliebt wird. Sie allein zu lassen ist schlimmer als der Tod.
Wenn sie sich schon Dinge an den Kopf werfen müssen, möchte sie betonen, dass sie es ihm nicht übelnimmt, sie im Stich gelassen zu haben, als sie nach dem Unfall gelähmt war und ihn jeden Tag anflehte, sie zu besuchen. Dass er sie aber jetzt zum zweiten Mal verlässt und auch noch eifersüchtig ist, damit schadet er nur sich selbst.
Ihr sperriges Himmelbett aus massivem Holz ist ihr Zuhause und ihr Käfig geworden. Frida hat darum gebeten, es zu schmücken, da hat ihre Mutter um sie herum allerlei Fotos, Schleifen, Bänder und Karten mit Motiven von Wäldern und geöffneten Fenstern aufgehängt, ihre Schwester Cristina zeichnet ihr bizarre Männchen, damit sie lächeln kann, und steckt sie an den Bettpfosten fest. Jeden Tag kommt eine neue Zeichnung hinzu, jetzt kann sie den Kopf nach rechts und nach links drehen und anderes sehen als diese Holzplatte, den Baldachin, der ein wenig einem Sargdeckel gleicht. Sie sieht ihn an, den Deckelhimmel, konzentriert sich, um zu sehen, was jenseits ist, um das Unsichtbare zu erkennen, um Neues zu entdecken, den körperlichen Schmerz und ihr gekränktes Herz zu vergessen.
Als sie klein war, hatte Frida ein geheimes Ritual. Sie hauchte die Fensterscheibe ihres Zimmers an, und wenn sie schön beschlagen war, malte sie eine Tür darauf, durch die sie in ihrer Fantasie hindurchtrat und auf die andere Straßenseite gelangte, wo sich ein Milchladen namens PINZÓN befand, sie tauchte durch das Ó von PINZÓN hindurch bis zum Mittelpunkt der Erde, wo eine Freundin auf sie wartete, eine Zauberin. Sie war eine wunderbare Freundin, die beim Tanzen in der Luft schwebte, leichter als ein Kolibri. Frida erzählte ihr von ihren Sorgen. Wenn sie nach Hause musste, kletterte sie wieder durch das Ó von PINZÓN bis zu der auf die Fensterscheibe gemalten Tür. Dann wischte sie die beschlagene Scheibe schnell ab. Sie war so verzückt, dass sie schnell zu der großen Zeder mit den breiten Ästen lief, im Patio ihres Elternhauses, der Casa azul, die damals noch nicht blau gestrichen war, und sie lachte über ihr großes Geheimnis, so berauscht von dem anderen kleinen Mädchen mit dem gleichen Gesicht, das sie für immer vor Einsamkeit bewahren würde.
Sie fühlte sich mit sich selbst befreundet und das verlieh ihr eine höhere Kraft in diesem Haus voller Schwestern, spontaner Wünsche und eingeschränkter Freiheiten. Wie gern würde sie heute auf den Deckel eine Tür malen, durch die sie entschwinden könnte, aber sie ist nicht mehr sechs und weiß nicht mehr, wo ihre imaginäre Zwillingsschwester ist und durch welche geheime Tür sie sie noch erreichen könnte. Sie bittet deshalb ihren Vater, einen Spiegel am oberen Gestänge ihres Himmelbetts anzubringen. Guillermo Kahlo erfüllt ihren Wunsch sofort. Er tut alles, was seine Tochter will, um ihre Verzweiflung zu mildern. Er bedeckt den Baldachin mit einem riesigen Spiegel, sodass Frida ihren reglosen Körper ganz sehen kann, ohne sich bewegen zu müssen.
Frida sieht Frida.
Von Angesicht zu Angesicht.
Zwei Fridas wie zwei Fayence-Hündinnen. Und weil sie den ganzen Tag in den Spiegel schaut, gelangt sie hindurch und findet das verlorene Fenster, das sie früher zu ihrem Double führte.
Sie sagt ihrem Vater, sie brauche Pinsel, Farben, eine Staffelei und eine Leinwand.
Und plötzlich beginnt sie, die Wirklichkeit zu malen.