Frida malt für Alejandro, sie malt, um ihre hässlichen Krücken zu vergessen, Frida malt für ihre verlorene Zwillingsschwester hinter dem Ó des Milchladens PINZÓN gegenüber ihrem Elternhaus, sie malt für ihren Vater, der sich zurückzieht und auf dem Klavier Strauss spielt oder Schopenhauer liest, sie malt für die Kumpel mit den cachuchas, die nicht mehr so viel Zeit haben, sie zu besuchen und zu berichten, was für Faxen sie mit der großen, übermächtigen Übermacht getrieben haben, Frida malt für ihre Schwester Matita, die ihr Gedichte vorliest, ohne sie zu verstehen, für den ersten Verlobten ihrer Mutter, der sich vor ihren Augen umgebracht hatte, Frida malt, weil ihre Mutter nie davon gesprochen hat, sie malt für ihre Vagina, die von einer Eisenstange durchbohrt wurde, für ihre Schwester Cristina, die sie liebt, auch wenn sie sich dauernd streiten, sie malt für ihr dürres Bein, über das die anderen Kinder sich lustig machten, und für die heftigen Küsse, die sie den hübschen Jungen entrissen hat, Frida malt, weil sie von Alejandro keine Blumen will, sondern es lieber hätte, dass er sie vergewaltigt, sie malt, weil sie dachte, die Straßenbahn sei eine Farce, weil sie Ärztin werden wollte, weil sie eines der ersten Mädchen auf der Preparatoria war, sie malt, weil sie nicht mehr zur Schule gehen wird, sie malt, weil sie nicht mehr laufen kann, sie malt, weil der Schmerz sie nachts weckt und sie nicht mehr einschlafen kann, Frida malt, weil Alejandro ihr nicht schreibt, ihr keine Bücher mehr schenkt, weil die Einsamkeit ihr vorkommt wie Agavensirup, der an ihrem Körper klebt, sie malt, weil sie in der Kirche den Weihrauchgeruch liebte, weil sie, wenn sie malt, nicht nachdenkt, tanzt wie eine Wilde, ohne sich zu regen, zieht wieder ihre goldenen bailarina-Gewänder an, sie malt, weil ihr Rücken sie so schmerzt, dass sie dem gern ein Ende machen möchte, weil es die Geister betäubt, die in ihrem Rücken böse lachen, weil sie dabei das Korsett vergisst, Frida malt für die toten Kinder ihres Viertels, die mit einer Papierkrone beerdigt werden, weil für mehr nicht das Geld reicht, sie malt für ihren Vater, der einmal zu ihr gesagt hat, dass man sehen lernen muss, und sie malt, weil es das Einzige ist, was ihr noch bleibt.
Frida malt ihr Selbstporträt in einem tief ausgeschnittenen Samtkleid in der Farbe von europäischem Wein, einen Ausschnitt, in dem man ertrinken kann. Ihr Hals ist unendlich lang, unter dem Stoff zeichnen sich ihre steifen Brustwarzen ab. Dahinter atmet ein schieferblaues, beinahe schwarzes Meer, seine Fluten sind erschreckend. Es verkündet Unheil.
Auf der Rückseite ihres ersten Bildes notiert sie: Frieda Kahlo im Alter von siebzehn Jahren, September 1926. Coyoacán.
Weiter unten fügt sie auf Deutsch, der Sprache ihres Vaters, hinzu: Heute ist immer noch.
Frida ist nicht siebzehn, sie ist neunzehn. Na und? Sie löscht den Unfall aus, sie verdreht die Wirklichkeit, sie darf es. Sie hat noch nie verstanden, warum man sich seinen Namen und sein Geburtsdatum nicht selbst aussuchen sollte.
Sie schreibt Alejandro, dass dieses Bild für ihn ist, dass er es in Mannshöhe aufhängen soll, direkt vor sich, die Augen auf der Linie ihres Horizonts, damit er nie vergisst, seine Frida zu sehen.
Frida malt aus keinem der oben genannten Gründe, denn sie malt ohne Grund, ohne Entschluss, ohne Ehrgeiz, sie weiß nicht, warum sie malt, und stellt sich diese Frage nicht. Es bringt ihr Erleichterung. Sie malt, weil sie ans Bett gefesselt ist, weil sie schon immer gern einen Stift in der Hand gehalten hat, weil sie die netten Jungen nicht mehr küssen kann, weil Alejandro seine novia verlassen hat, weil sie nicht sofort sterben muss, sondern erst etwas später. Und wenn schon.
Heute ist immer noch.