Frida wacht von ungewohnten Schmerzen auf, Krämpfe im Unterleib wie Glasscherben. Sie bemüht sich, ruhig zu atmen und sich zu entspannen, immer wieder zieht sich ihr Bauch ruckartig zusammen, sie bekommt kaum Luft. Sie möchte das Licht anschalten, aber ihr Becken ist ein Ballast von Leiden, sie kann sich nicht bewegen, sie streckt die Hand nach der Lampe aus, doch erneut peitscht sie heftiger Schmerz. Ihre Freundin Lucienne, eine von Diegos Assistentinnen, schläft im Zimmer nebenan, sie haben den Abend gemeinsam verbracht, und Lucienne ist dageblieben, sie wollte Frida nicht allein lassen, nachdem Diego angekündigt hatte, dass er die ganze Nacht arbeiten wolle. Sie muss Lucienne rufen. Sie wecken. Sie nimmt alle Kraft zusammen, bringt aber nur ein leises Stöhnen hervor, ein ersticktes, kaum hörbares Klagen. Sie denkt an die seit dem Unfall immer wiederkehrenden Träume, in denen sie in Todesgefahr ist, um Hilfe rufen will, aber stumm bleibt, wenn sie es versucht, sie bildet die Wörter, aber sie bleiben in der Kehle stecken. Sie konzentriert sich, um den rettenden Schrei auszustoßen, die Angst weicht einem Gefühl der Ohnmacht. Lucienne rufen. Sie sammelt sich, holt tief Luft, dabei überkommt sie eine Welle der Übelkeit, im Mund der Geschmack von schmutzigem Trottoir, sie schwitzt, ein neuer heftiger Schmerz. Sie tastet ihre Beine ab, die sich klebrig anfühlen, alles unten ist ganz fremd, sie ist zweigeteilt. Sie glaubt zu sterben. Allein in Detroit, weit weg von Mexiko, das ist kein guter Ort zum Sterben, ohne Diego. Sie kennt den Tod, sie redet oft mit diesem Hurenbock, dem Gevatter Kahlkopf. Gläubige, die zu Atheisten geworden sind, haben ein offenes Verhältnis zum Tod, als hätten sie schon beim Reden so manches Glas mit ihm getrunken. Aber sie kann nicht in Detroit sterben. Sie kann nicht mit ihrem Baby im Bauch sterben, wer sollte es ernähren? Sie muss zurück nach Coyoacán. Sie muss ihr Baby zu ihren Schwestern bringen, damit sie ihm fröhliche Lieder vorsingen und es im Schatten der Bäume des Innenhofs wiegen. Frida sieht über dem Bett Wolken ziehen, sanfte Glühfäden, die lachen, herumzappeln, als webte eine Spinne sie in ihr Netz ein. Das erstickt den Schmerz, vielleicht könnte sie wieder einschlafen. Frida denkt an ein anderes Baby, gestorben vor langer Zeit, Diegos Bruder. Er spricht fast nie von ihm. Diego María Rivera ist mit einem Zwillingsbruder geboren, Carlos María Rivera. Carlos ist mit anderthalb Jahren gestorben. Diego ist el grand pintor geworden. Sie spürt den Schmerz fast nicht mehr, sie ist blass, blutleer, Frida singt ganz leise ein Lied: An der Himmelspforte gibt es Schuhe zu kaufen, für die Engel, die barfuß laufen. Schlaf, mein Kind, schlaf, mein Kind … Sie singt für ihr Baby oder für Carlos oder für Diego, sie weiß es nicht mehr, sie geht, taucht in eine zu große Ruhe ein … Da trifft sie ein neuer Peitschenhieb, sie krümmt sich zusammen, holt tief Luft und schreit, lautlos.
Lucienne Bloch wird von einem Schrei geweckt, sie fährt aus tiefem Schlaf hoch, nicht sicher, was sie gerade gehört hat. Das Ächzen eines Menschen? Schlaftrunken steht sie auf, es ist fünf Uhr morgens, und Diego öffnet krachend ihre Zimmertür. »Ruf im Krankenhaus an!«, brüllt er. In der Wohnung ist es dunkel, nichts regt sich, sie nimmt einen metallischen Geruch wahr, und ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken, sie überlegt kurz, geht dann hinüber zum Schlafzimmer, macht das Licht an.
Frida hat die Augen weit aufgerissen wie Rosetten einer Kathedrale. Sie ist voller Blut. Ihr aufgelöstes Haar ist nass, die Augen starr, die Wangen tränenüberströmt. Überall Blut. Als hätte ein wütender Maler tonnenweise rote Farbe ausgeschüttet. Auf ihre Haare, ihre Wangen, es gerinnt, die Decke ist klebrig, organisch, auf dem Bett, auf dem Boden, überall Gewimmel. Ein Ort des Verbrechens. Diego hat sich über sie gebeugt und hält sie wie einen kleinen, kostbaren Gegenstand in den Armen.
»Frida!«
Lucienne betrachtet bestürzt ihre Freundin, die vor sich hin zu murmeln scheint. »Was sagst du, Fridita?«, fragt Diego.
»Duérmete niño, duérmete niño. Arrú arrú …«
»Ja, sing nur, meine Liebste, mein Schatz, ich lasse dich nie mehr allein. Ich verspreche es dir, ich verspreche es dir, Fisita …«
Lucienne starrt gebannt auf Fridas gespreizte, blutige Beine, auf denen unbefleckte Hautstellen im Licht wie nasse Kreide glänzen, aus ihrer Vagina rinnt weiter Blut. Nun ist es vorbei, denkt Lucienne, sie wird kein Baby bekommen. Frida war so glücklich, erschöpft und doch selig, sprach von nichts anderem mehr als von ihrem Dieguito, einer Mini-Version ihres Diego, einem Puppen-Diego, den sie anziehen und spazieren fahren würde, den sie waschen würde wie Rivera selbst.
Frida stammelt wirres Zeug. Im Juli ist Detroit ein Backofen, aber ihr ist kalt, als hätte ihr jemand Eis in die Eingeweide geschoben. Lucienne rufen, schlaf, mein Kind, die Wolken, schlafe, Lucienne, zittere, es ist kalt, es schläft süß, Lichter, die Straße, was sind das für Riesen, die über mein Haar laufen, der Mond geht auf, ich habe Schmerzen, Mama, Diego.
Frida wird im Wagen in die Notaufnahme des Henry-Ford-Hospitals gebracht. Lucienne und Diego sehen entsetzt und machtlos zu, wie sie auf einer Trage in den Operationssaal gefahren wird. Das Personal ist angespannt, die Lage ist kritisch. Bevor sie im Operationssaal verschwindet, stützt sie sich suchend auf die Ellbogen: »Diego, Diego, wo bist du? Hast du die Decke gesehen? Schau doch! Ist das schön!«
Diego schaut an die Decke und die Tür schließt sich hinter der Trage, verschlingt Fisita, die Decke ist bunt, nachts war er unterwegs, diese Decke ist voller Farben, Arabesken und Formen vermischen sich wie auf einem Kirchengewölbe, gestern Abend ist er noch ausgegangen, ja, nach der Arbeit, bis Mitternacht ist er ausgegangen, er brauchte Frauen, Fusel und Leichtigkeit, Frida ist manchmal zu intensiv, in ihrer Nähe kann man unmöglich vergessen, dass wir alle sterben müssen und unsere Zeit hier eine Art magischer Gewalt ist, flüchtig, wesentlich und grotesk, Verbot zu vergessen, dass wir alle Nieren und Haut untröstlicher Feuersbrünste sind, das ist zu aufreibend, er ist gestern Abend ausgegangen, manchmal, oft, braucht er das Alleinsein. Doch ein Leben ohne Frida wäre ein blasser Stern, ein öder Spaziergang unter dem Schein von ewig leuchtenden Straßenlaternen.
Er sinkt vor Kummer in sich zusammen.