Diego hat weiter abgenommen. Seine Augen schmerzen. Er ist reizbar, besorgt und ein bisschen grausam, zum Zeitvertreib. Das New Yorker Apartment mutiert zum Schauplatz schlechten Theaters hinter verschlossenen Türen, dieselben Marotten, immer wieder aufgewärmt. Frida will die USA verlassen, sie ist von dem Gedanken wie besessen, Diego will davon nichts hören. Streit bricht aus, Sisyphos-Arbeit, immer wieder werfen sie sich dieselben Argumente an den Kopf, routinemäßig, wie man Wäsche aufhängt. Jedes Paar hat seine Steine des Anstoßes; man drückt auf den Knopf, und das Gewitter bricht los. Um seinem Ärger Luft zu machen, wie man glaubt, kommt der Stoff der Zwietracht immer wieder aufs Tapet, es findet kein Ende; man wirft mit Worten um sich, betont Offensichtliches, streut Salz in die Wunden, treibt die Dinge auf die Spitze. Ein zermürbendes Spiel von Kindern. Man kehrt mal den Dummen heraus, mal den Naiven, bringt Dinge zur Sprache, die schon hundertmal erörtert wurden, betrachtet sie aus einem anderen Blickwinkel, gerät aneinander. Frida will zurück nach Mexiko. Diego will in den USA bleiben. Geht es wirklich darum? Nie haben sie gewusst, worum es geht, sie verwechseln den Schmerz mit der Ursache des Schmerzes oder umgekehrt, die Dinge haben sich verfestigt. Die Riveras sind seit vier Jahren zusammen. Das ist kurz und zugleich lang. Frida spielt die Ehefrau. Diego hat an seinem Leben nichts geändert, warum sollte er auch? Die Frauen liegen ihm bedingungslos zu Füßen. In nostalgischen Momenten erinnert sich Frida, wie sie als kleines Mädchen an der Tür gelauscht hat, wenn ihr Vater Klavier spielte. Sie versteckte sich, um die Rolle der Spionin so lange wie möglich zu genießen, wie im Bolívar-Hörsaal, wo sie Diego hinter einer Balustrade beim Malen zusah. Sehen, ohne gesehen zu werden, hören, ohne gehört zu werden, eine kleine Frau, die das Geheimnis der Männer ihres Lebens zu ergründen sucht. Träumen kleine Frauen davon, die Männer ihres Lebens zu verstehen, oder davon, an ihre Stelle zu treten?
Frida beneidet Diego nicht, ist nicht eifersüchtig, denn Frida zu sein ist genug, Frida zu sein ist von Bedeutung und an guten Tagen auch ziemlich lustig. Es gibt keinen Wettbewerb zwischen ihnen. Diego hat seine Frau immer zum Malen angehalten, ihre Bilder faszinieren ihn. Er gibt zu, dass Frida eine Gabe hat, die ihm fremd ist. Es fällt ihm umso leichter, als ihre Künstlerwelten einander entgegengesetzt sind. Es freut ihn, wenn seine Gattin ihm einen mit Spitzen drapierten Picknickkorb vorbeibringt, doch zugleich ist er von Natur aus Feminist. Seine Frau ist ihm selbstverständlich ebenbürtig. Der große, gefeierte Maler mag nichts lieber, als wenn seine Frau ihm die Rolle des Stars wegnimmt, durch ihre verrückten Einfälle, ihre ungewöhnliche Aufmachung, ihren derben Wortschatz, ihren schwarzen Humor und vor allem durch ihr unerhörtes Talent, ihre innere Zerrissenheit und die Würde des Lebens in Bilder umzusetzen, das heißt, nicht zu sterben. Diego malt die ganze Welt auf Wände und sucht nach ihrem transzendierenden Glanz. Frida malt Details auf winzige Leinwände und sucht nichts. Dennoch fängt sie die ganze Welt ein. Diego wurde von einer Puppe mit dem Mut eines caballero verführt, die, ohne es zu wissen, eine ursprüngliche mexicanidad malte, durch ihren einzigartigen Blick bereichert. Eine gewaltige Freiheit in neuen Farben. Frida hatte sich ausgesucht, vom Menschenfresser ausgesucht zu werden. Sie wollte den Größten, den Dicksten, den Spaßigsten. Den ganzen Berg. Und jetzt? Wie soll man sich lieben, wenn der andere aufgehört hat, undurchdringlich zu sein?
Lucienne und ihr Mann Stephen Dimitroff sind da. Wie sie ist er Assistent von Rivera. Sie sind zum Mittagessen gekommen, aber die Atmosphäre ist bedrückend. Wenn man mitten in einem Streit zu einem Paar kommt, spürt man die Spannung in den Luftpartikeln, bevor man die Türschwelle übertritt. Die Riveras ziehen ihre Freunde gleich mit hinein. »Wir haben nicht mal mehr das Geld für die Rückreise!«, ruft Diego böse. Stephen erklärt, die Freunde könnten ihnen helfen. Frida wirkt ganz leer. Schon seit Stunden beschimpfen sie einander. Diego ist mit den Nerven am Ende: »Willst du, dass ich wieder dort lande?«, brüllt er und deutet mit dem Finger auf die Bilder, die stapelweise an den Wänden der Wohnung liegen. »Willst du, dass ich wieder dort lande, Frida?« Diego nimmt ein kleines Bild, auf dem nopales zu sehen sind, mexikanische Kakteen, vor einem Stück Himmel. »Willst du das?«, sagt er wieder und fuchtelt mit dem Bild vor Fridas Gesicht herum, so nah und so wild, dass Lucienne sich fragt, ob er es auf dem Kopf seiner Ehefrau zerschlagen, ob er es vernichten will.
Sein Bild auf seiner Frau zerstören.
Seine Frau mit seinem Bild zerstören.
Diego ergreift ein Küchenmesser, sticht auf das Bild ein, einmal, fünfmal, zehnmal, er hört gar nicht mehr auf, Frida stürzt sich auf ihn, und unwillkürlich stürzt sich Lucienne auf die beiden.
»Geh weg, Lucienne, er bringt dich um!«, schreit Frida und stößt ihre Freundin zurück. Das Bild ist in Fetzen, Stephen ist wie gelähmt, Lucienne liegt am Boden, und Frida klammert sich an Diegos Rücken fest, ein wütendes Mäuschen auf einem Vulkan. In Rage sammelt Diego die Überreste der Kakteen ein, schüttelt Frida ab, verlässt türenschlagend die Wohnung, die Fetzen des Bildes in den Taschen seiner Latzhose.
Frida, verweint und benommen, rappelt sich auf, sucht um sich herum nach ihrer Vernunft, die sie verlassen hatte. Sie streicht sich den Rock glatt, berührt ihre Brust, fasst sich wieder.
Sie wendet sich, das Haar noch zerzaust, ihren Freunden zu und sagt ruhig: »Na gut. Lasst uns essen. Ihr habt hoffentlich Hunger?«