Frida wohnt immer häufiger bei ihren Eltern. Ein strategischer Rückzug, außerhalb von Diegos Sichtweite. Nicht, dass sie auch nur einen Augenblick wünschte, von ihm entfernt zu sein, sie zwingt sich, anderswo zu wohnen, und hofft insgeheim, dass durch ihre Abwesenheit die Zuneigung des missmutigen Riesen zurückkehrt. Solange man dem anderen Verwünschungen an den Kopf wirft – »eines Tages werde ich dich verlassen, und das wird schrecklich sein für dich!« –, weiß der andere, dass er einen nie verlieren wird.
Sie flüchtet also in das Haus, das ihr Vater kurz vor ihrer Geburt in Coyoacán gebaut hat, das Haus, in dem sie geboren ist.
Sie hat es blau anstreichen lassen. Sie hat das Blau so kräftig gewählt, dass es alle Zärtlichkeit und alle Meere verspricht. Dieses Blau wird den bösen Blick vertreiben. Hier leben ihr verwitweter Vater und Cristina mit ihren beiden Kindern Isolda und Antonio, die Frida liebevoll verwöhnt, als wären es ihre eigenen. Cristina, Fridas kleine Schwester, fast ihr Zwilling, wurde nach der Geburt des zweiten Kindes von ihrem Mann brutal im Stich gelassen, der sich seitdem in Luft aufgelöst hat. Cristina nimmt sie auf, sie weiß ja selbst, was brennender Liebesschmerz ist, ihre Schwester kämmt sie, wäscht ihre Kleider, kocht und umgibt sie mit der Wärme ihrer beiden Kinder. Eine Seele von Schwester.
Ihr rechtes Bein und der Fuß machen ihr wieder zu schaffen. Jeder Schritt ist eine Qual. Die Ärzte überlegen, ob sie den Fuß amputieren sollen oder zumindest ein paar Zehen, sie sagen es so ruhig, als ginge es darum, die letzten Früchte eines verfaulenden Baums zu entfernen.
Cristina versucht zu vermitteln, weil Frida davon nichts mehr hören will.
»Der Doktor hat gesagt, dass du dich nach der Operation einen Monat ruhig halten musst. Nur einen Monat.«
»Ich glaube, ihr freut euch alle, wenn ihr mich wieder ins Krankenhaus schicken könnt! Du, Papa und Diego! Ihr wollt mich lebendig begraben!«
»Wir machen, was du willst, Frida. Wie immer.«
»Was ist am schwersten, Cristi? Dass ich leide oder dass ich euch allen das Spektakel meines Leids vorführe? Für wen ist das schwer?!«
»Du bist ungerecht. Ich will dir doch bloß helfen.«
»Und Diego? Ich habe ihn seit einer Woche nicht gesehen. Meinst du, er würde mich im Krankenhaus besuchen? Sicher nicht. Er hat wieder angefangen zu malen. Und ganz sicher hat er einen Schwarm von Assistentinnen um sich herum, die er in der Pause vögelt.«
»Ich habe ihn gestern gesehen, ich habe ihm im Atelier geholfen, worum du mich gebeten hattest. Er hat die ganze Zeit nur von dir gesprochen. Er kam mir ein bisschen verloren vor. Ich habe ihm erzählt, was für Schmerzen du hast. Er hat sich erkundigt, ob du auch wieder angefangen hast zu malen.«
»Herrgott, wie soll ich denn malen, Cristi?! Mir tun sogar die Fußnägel weh. Die Haare, die Augenlider, die Hände schmerzen, die Zehen, mir tut es beim Atmen weh!«
Frida ist siebenundzwanzig und hat das Gefühl, nichts aus ihrem Leben gemacht zu haben, absolut nichts.
Eine Amputation ihrer Zehen lehnt sie entschieden ab.
Cristina schaut ihre Schwester an, die einen berühmten Maler geheiratet hat, die Schwester, die Jahre in Gringolandia gelebt hat, mit den movie stars Feste gefeiert und getanzt hat, mit Schiffen und Flugzeugen unterwegs war, zu Hause große Essenseinladungen für John Dos Passos, Pablo Neruda und Sergej Eisenstein gegeben hat. Die Schwester, die auf die Preparatoria gegangen ist und Bilder malt, die schön sind wie ein Faustkeil. Die Schwester, die ihr Vater am liebsten mochte, der er Jungensportarten und Fotografieren beigebracht hat. Cristina ist nie aus Mexiko herausgekommen. Sie muss ihre Kinder allein großziehen, kümmert sich um ihren melancholischen Vater und tröstet ihre tief betrübte Schwester.
Frida hat ihr ein Bild gezeigt, das sie in New York gemalt hat. Dieses Bild geht ihr seitdem nicht mehr aus dem Kopf. In seiner Mitte steht Frida als Skulptur in einem prächtigen weißrosa Ballkleid, dem kostbaren Rosa feinster Spitzen, auf einem Sockel wie eine Vestalin, lange Handschuhe auf ihren zarten Armen, sie hält in der einen Hand eine Zigarette und schwenkt mit der anderen ein Mexiko-Fähnchen. Zu Fridas Rechten sieht man die USA: Kolben, Wolkenkratzer, rauchende Fabrikschlote, Turbinen, in den Boden führende Kabel und Rohrleitungen. Zu ihrer Linken erhebt sich Mexiko mit seinen monumentalen Pyramiden, seinen aufregenden fleischfressenden Blumen, deren Wurzeln die Erde nähren, der fleischlichen Gemeinschaft von Sonne und Mond, dem Tod, der eine Grimasse schneidet, und dem wollüstigen Geschlecht der Frauen. Die beiden Lippen wie Schwingtüren zum Großen Unsichtbaren.
Frida dargestellt im Zentrum der Welt kommt Cristina vor wie ein Star, eine mythische Erscheinung. Der Sockel der Statue trägt die Inschrift: Carmen Rivera. Cristina hat gefragt, wieso Carmen Rivera. »Das bin ich dort, Cristi, eine andere, die Erfindung eines Kolosses, die Frau von Diego Rivera.«
Cristina wäre auch gern eine andere.
Sie möchte wissen, wie es ist, aus sich selbst auszubrechen.
Als ihre Schwester Frida nach ihrem Unfall im Bus angefangen hatte zu malen, war eins ihrer ersten Bilder ein Porträt von ihr, Cristina. Sie fühlte sich so geschmeichelt. Es gefiel ihr, Frida, die noch nicht wieder laufen konnte, im weißen Kleid Modell zu sitzen. Nie fand sie sich so schön wie auf diesem Bild. Frida sagte: »Ich male dich nach Botticelli-Art!«
Sie sind im Garten ihres blauen Hauses, dort, wo Cristina vor zehn Jahren im weißen Kleid Modell gesessen hat, um gemalt zu werden. In diesem Garten haben sie Verstecken und gefangene Prinzessin gespielt. Abwechselnd waren sie die Prinzessin, eingesperrt in einem Gefängnis, das sie sich in der großen Zeder des Patio vorstellten. Eine abgewandelte Form der Geschichte von Popocatépetl und Ixtaccíhuatl. Die eine war die Prinzessin und klagte ihr Leid, während die andere den Krieger spielte, der zurückkam, um die Schöne zu befreien. Der Baum wurde zum Versteck der Vergessenen. Ja, Cristina ist ein schönes Mädchen, und das weiß sie auch, sie hatte immer mehr Erfolg als Frida und die anderen Schwestern, sie ist weiblicher und hat eine schönere Figur. Auf den Familienfotos steht sie immer in der Mitte, sinnlich, strahlend in der ätherischen Feinheit ihres vollkommenen Gesichts, Frida steht an der Seite, in Hosen, ein wenig derb, mit dem Kopf eines Jungen.
Frida erzählt von Diego, von ihrem Schmerz, sich beklagend und fordernd, doch sie spricht nicht von ihrer letzten Schwangerschaft, von der ihr Körper gezeichnet ist. Kurze Zeit nach ihrer Rückkehr nach Mexiko waren die Ärzte wieder der Meinung, dass sie die Schwangerschaft nicht überstehen würde. Außer Cristina sprach sie mit keinem darüber, nicht mal mit Diego. Sie erzählte ihr von ihrer Fehlgeburt in Detroit. Von dem fließenden Blut, ihrer schreienden Freundin Lucienne, den Fötusstücken, dem Hammer, der zwischen den Beinen zuschlug bis hinauf zu ihrem Hals, dem Krankenhaus, der bunten Decke dort und der ungeahnten Freundlichkeit Diegos. Nie werde sie Kinder haben können. »Es ist ganz einfach, Cristi, ich schlafe nur noch mit Frauen, dann kann ich nicht mehr in diesen Zustand kommen.« Cristina weiß, dass Frida solche Sachen sagt, um sie zu schockieren, aber auch, weil andere zu schockieren auch Lachen bedeutet, Scherze stärken die Abwehrkräfte, Cristina hat sie zu der Abtreibung begleitet, danach haben sie nicht mehr von dem Ereignis gesprochen.
Kummervolles, heimliches Murmeln.
»Ich dachte, wenn wir wieder in Mexiko sind, wird alles besser, Cristi. Eine Epiphanie. Ich habe Mexiko verklärt und für eine Art Wundermittel gehalten. Ich dachte, ich hätte eine Art Phantom von Diego hiergelassen, das brav auf mich wartet. Als gäbe es einen mexikanischen Diego und einen Gringo-Diego. Als wären Mexiko und die Vereinigten Staaten Dimensionen, die nicht gemeinsam existieren. Als hätte ich meinen freundlichen Maestro beim Abschied in einen Schrank mit Naphthalin verpackt, jedenfalls die mexikanische Version von ihm, und bei meiner Rückkehr wäre er dort wieder herausgekommen, wie neu und wie der wunderbare Verrückte, dem ich hier begegnet war. Verstehst du, was ich meine?«
»Ich glaube, schon. Aber ich glaube, du hättest nur die Idee von deinem Maestro in den Schrank geräumt. Und nicht Diego selbst.«
»Warum sollte der Ruhm Diego Riveras in Mexiko weniger strahlen als in den USA?«
»Mexiko hat er schon erobert, Frida.«
»Mich hat er auch schon erobert, Cristi.«
Da sind sie heute, die beiden Schwestern, im Garten ihres Vaters, der mit den Jahren schweigsamer geworden ist, und trinken einen Kaffee mit Zimt, zwei Ehefrauen ohne ihren Mann, und sie suchen unter dem Baum, dem Versteck der Prinzessinnen, ein bisschen Schatten.
»Der Kaffee ist zu süß.«
»Du hast zu viel Zimt reingetan.«
»Um dich an den Geschmack Mexikos zu erinnern.«