Ihre Wohnung ist voller Menschen, ihre Türen stehen jeden Tag offen. Alle sind willkommen, gut Gekleidete und Arme, Griesgrame und Poeten, um zu Frida zu kommen, genügt es, zu trinken und sein Glas nicht zu zerbrechen. Trink Mezcal, und die Tür geht auf. Na los, güey, du gehörst zur Familie. Frida trinkt wie wild, bis sich alle Konturen verwischen. Sie kann sie spüren, ihre Bekanntheit, all die Leute, die sie bewundern, weil sie am verrücktesten ist, dieses Durcheinander ist so lustig, wenn es Nacht ist, ihr tut nichts mehr weh. Ihr Fuß, ihr Rücken, ihr Geschlecht, ihr Kopf, weit entfernte Kontinente in diesem seit dem frühen Morgen getränkten Körper. Du willst mich leicht wie einen Kolibri, mi hermano, und du hast recht, nichts hält mich. Weißt du, dass der Kolibri nicht laufen kann, der einzige Vogel, der rückwärts fliegen kann? Das interessiert dich nicht und das ist normal, denn wir kennen uns nicht. Trotzdem bist du mein Gast. Ich kann nicht laufen, aber ich kann mit dir tanzen, wenn ich mich mit Tequila umbringe, also was soll’s, willst du dich zwischen meine Schenkel legen und dich stöhnend hin und her bewegen? Bitte bedien dich, meine Beine sind seit Langem tot, lass deinen Schweiß auf meine Stirn tropfen, das wird meine Tränen benetzen, es schenkt mir ein Schauspiel der Liebe und kostet nichts. Scham ist für Leute da, die etwas zu verlieren haben, oder? Die Angst vor dem Bild haben, das sie abgeben. Der Rest ist Literatur. Das Bild, um das ich mich seit hundert Gemälden bemühe, ich lüge mir nichts vor, diese Augen, die mich anstarren, ich weiß nicht, ob es wirklich meine sind, wenn ich daran denke, wird mir schwindelig, mir das Gehirn vorzustellen, weiche Masse, Teig, der hinter diesen Augen wohnt. Ich trinke, ich rülpse, ich falle, ich bin nicht deine Puppe mit selbst genähten Röcken. Ich bin ein mageres Skelett mit langem Haar im Wartestand. Setz dich hier an den Tisch, das ist die pulquería der Leute, die nicht nach Hause gehen, die Verlorenen, die auf der falschen Seite des Mondes geboren sind. Den Mond, den suche ich auf dem Grund eines Glases.

Am Ende der Nächte singt sie aus voller Kehle, und die Nachbarn verfluchen sie. »Was denn, cabrón?«, brüllt sie durchs Fenster. »Hast du ein Problem mit mir? Komm her, ich habe keine Angst, komm und hol mich, hijo de la chingada. Wozu brauche ich Beine, wenn ich Flügel zum Fliegen habe!?«

Wann komme ich hier weg, wann ist es zu Ende?, denkt sie, wenn es zu sehr schmerzt, am Leben zu sein, weiß man immerhin, dass man noch sterben kann.

Sie kann zusammenbrechen.

Gnade des schwarzen Lochs von Alkohol.

Frida ist ins Zentrum von Mexiko gezogen, in die Avenida de los Insurgentes 432, weit weg von San Ángel, wo Diego wohnt, und weit weg von Coyoacán, wo Cristina wohnt. Sie hat alles oder fast alles zurückgelassen, ihre Kleider, Bürsten, Ketten, Ohrringe, den Tand, die Bilder, ihre Farben und Pinsel, ihre Bücher. Auch ihre Puppen, Schachteln und Tonschalen. All den Plunder, über den sie sich so freute. Sie weiß, dass ihr Verhältnis zu Dingen obsessiv, neurotisch ist. Frida schafft all diesen Dingen eine Seele, eignet sie sich an, übersetzt ihr Schweigen in Geschichten. Wie Kinder mit ihren Spielzeugen.

Sogar ihre liebsten Kleider. Die Gewänder der Frauen vom Isthmus von Tehuantepec, die ihr zur zweiten Haut geworden sind. Sie hat begonnen, sie zu tragen, als sie Diego heiratete. Es heißt, dass sich das Volk der Tehuana aus dem Oaxaca-Tal eine matriarchalische Kultur bewahrt hat, die von ihren zapotekischen Vorfahren stammt. Das gefällt Frida sehr. Die Frauen der Tehuanas führen die Geschäfte, sind Familienoberhaupt und beherrschen die Märkte. Starke, emanzipierte Frauen in diesen edlen Kleidern. Ihre Unterröcke haben tausend Farben, Mintgrün, Knallorange, Glutrot, Basaltschwarz, mit bunten Blumen, der untere Rand ist mit weißen Spitzen besetzt, darüber mit Blumen und geometrischen Mustern bestickte Blusen, die huipiles, von unterschiedlicher Größe, manche wie eine lange makellose Tunika.

Frida hat sie in San Ángel gelassen. Zusammen mit ihrem Parfum und ihrer ehelichen Hingabe.

Sie hat auch ihre Haare dort gelassen.

Ihre langen, von Diego geliebten Haare. Die er gern anfasst, an denen er schnuppert, an denen er zieht und die er streichelt. Wie fest er daran zieht, wenn er vögelt. Es tut weh. Er zieht wie an einem Strick. Sie frisiert sie für ihn mit immer mehr Bändern und Blumen. Sie hat eine Schere genommen, entschlossen die Strähnen gepackt und alles abgeschnitten. Schnipp, schnipp, schnipp, Tränen, Tränen, Tränen, Schluss mit Frida Rivera. Im Handumdrehen.

Ins Feuer mit der Frau!

Sie hat nur alte schmutzige Hemden von Diego mitgenommen, um sie einzuatmen, ihre Bücher von Walt Whitman – Ich bin von Verrätern verlassen. Ich rede irre, ich hab den Verstand verloren, ich und sonst keiner, bin selber der größte Verräter, sie hat ihr Äffchen Fulang Chang und einen großen Vorrat Tequila mitgenommen, genug, um ganz Mexiko-Tenochtitlan zu ertränken. Alejandro, ihr novio von früher, hat ihr geholfen, die Wohnung in der Avenida de los Insurgentes zu finden.

Sie sind immer Freunde geblieben, Alex und sie. Frida konnte nie Menschen aus ihrem Leben verbannen, zu sehr fürchtet sie die Leere. Nach ihrem Rückfall war das Feuer der Liebe erloschen. Alejandro studierte in Europa, und Frida lernte Diego kennen. Diese Jugendliebe erscheint ihr inzwischen ganz farblos, aber Alex bleibt ihr erster novio, was ihm in ihren Augen den Charme der alten, leicht unscharfen Fotos verleiht.

Sie will die Scheidung, nein, sie will, dass Diego sie vermisst, dass er leidet, sie anfleht, nein, sie will diesem Hurensohngesicht, diesem Fotzenfresser nie mehr begegnen, doch, sie will, sie möchte, dass er an ihre Stelle tritt, den Hund in ihrem Bauch spürt, der ihre Eingeweide frisst, Tag und Nacht, mehr weiß sie nicht.

Sie hat sie gesehen. Cristina und Diego. Nie hätte sie es glauben können, wenn sie sie nicht gesehen hätte.

Zuerst hörte sie das Stöhnen brünstiger Tiere, das Röcheln Diegos, das sie auswendig kennt. Sie kam ihn im Atelier besuchen, ganz spontan. Sie hatten sich seit ein paar Tagen nicht gesehen, er hatte nicht nach ihr gefragt. Sie wollte mit ihm über die Operation sprechen, der sie zugestimmt hatte. Sich nun doch die Zehen amputieren zu lassen, um ihren Kopf wieder geradezurücken. Allerdings brauchte sie dafür Geld und wollte, dass er sie tröstet. »Frida, ich liebe dich ohne Zehen noch mehr!« Sie kam über die Außentreppe herein, die Tür war nicht verschlossen, sie trat auf die Galerie oberhalb des Ateliers, von der aus man wie von einem Theaterrang hinunter auf das Atelier sieht. Es war ein grauer Spätnachmittag, in der Werkstatt brannte kein Licht, da hörte sie sein Röcheln und das Wimmern einer erregten Frau, ihr Bauch erstarrte zu Eis, das Blut in ihren Schläfen pochte, sie geriet außer Atem, Frida dachte an gar nichts mehr, Vorhang, Angriff, Panik, Kränkung, sie wollte sich rückwärts bewegen wie ein Kolibri, doch das böse Vergnügen des Voyeurismus war stärker als sie, masochistische Falle. Sie weiß von den Betrügereien ihres Mannes, doch ihnen beizuwohnen wie einer Messe hat ganz andere Ausmaße, also beugte sie sich vor und schaute zu.

Die Hose in Korkenzieherfalten, dicker, sich bewegender Hintern, gespreizte Frauenbeine, von außen betrachtet hat die Liebe etwas Simples an sich. Dann richtete ihr großer pintor sich ein wenig auf, sodass Frida das lustverzerrte Gesicht seiner Schönen erkennen konnte.

Sie ging wieder, lautlos, rückwärts fliegend wie ein Kolibri.