Am Abend der Vernissage geht Frida ein Ereignis nicht mehr aus dem Kopf. Es ist bei der schicken Boheme um sie herum in aller Munde. Vor ein paar Tagen hat sich eine Freundin in New York das Leben genommen. Frida nennt sie Freundin, wie all jene, deren Schicksal ihr zu Herzen geht, doch sie kannte diese Frau, Dorothy Hale, nicht besonders gut. Sie hatte sie vor einigen Jahren im Ritz Theatre am Broadway spielen sehen, als sie mit Diego hier lebte. Wer Dorothy zum ersten Mal sah, war von ihrer Schönheit wie erschlagen. Diese Schönheit war atemberaubend. Wie eine Last auf ihren Schultern von antiker Anmut. Ein Gesicht, bei dem einem der Atem stockt und alle Gespräche verstummen, ein idealer Körper für feuchte Phantasmen während frivoler Shows. Sie war keine große Schauspielerin, aber sehr amüsant, und Frida hatte so manchen köstlichen Abend mit der heiteren Halbweltdame verbracht, die immer bereit war, sich ins Vergnügen zu stürzen.

Nick war eng mit ihr befreundet, er berichtet Frida heute Abend, was im Einzelnen passiert ist. Dorothy wurde Anfang der 30er-Jahre plötzlich Witwe, als ihr Mann, der Muralist William Gardner Hale, in seinem Austin tödlich verunglückte. Wagen und Fahrer stürzten eine Klippe hinunter. Mit gebrochenem Herzen und ohne einen Cent in der Tasche – ein komfortabler Lebensstil war für sie bis dahin eine Selbstverständlichkeit gewesen – beschloss Dorothy, Schauspielerin zu werden. Ein Star. Meinten die Leute nicht, sie sei schöner als Greta Garbo? Doch sie hatte kein Talent und wohl auch kein Glück. Sämtliche Versuche, beim Theater oder beim Film unterzukommen, scheiterten. Mit dem Mut der Verzweiflung begann sie ein rastloses Leben, mit rauschenden Festen, auf denen Frida ihr begegnete, mit Liebhabern und Schulden bei ihren treuesten Freunden fristete sie ihr Leben. Es wurde gemunkelt, sie habe beinahe einen wichtigen Berater von Franklin D. Roosevelt geheiratet, die Klatschpresse verkündete bereits die Verlobung, vermeldete aber gleich darauf genüsslich, dass die schöne Dorothy im Handumdrehen abserviert und gegen eine ehrbarere Frau ausgetauscht worden war. Der Präsident persönlich habe das Todesurteil ihrer Heiratspläne unterzeichnet, um eine Mesalliance zu verhindern.

Das Leben ist politisch.

Nick fährt in verschwörerischem Ton fort: Einen Monat zuvor hatte Dorothy bei einem Freund Rat und Hilfe gesucht, und dieser Freund, Bernie Baruch, hatte ihr ins Gesicht gesagt, dass sie mit dreiunddreißig für eine Karriere zu alt sei. Der einzige Ausweg, versicherte ihr Bernie, sei es, einen Mann zu finden, und zwar schnell. Noch sind Sie schön. Bernie gab ihr tausend Dollar und trug ihr auf, sich ein prächtiges Kleid zu kaufen, um sich einen dicken Fisch zu angeln.

Dorothy nahm das Geld.

Am 21. Oktober 1938, eine Woche vor Fridas Vernissage, lud Dorothy ihre Freunde zu einer Party ein, angeblich, weil sie für einige Zeit verreisen wollte. Wohin, verriet sie nicht, es sei weit weg und geheim. Man fragte nicht weiter nach. Der goodbye cocktail fand in ihrer hübschen Suite im Hampshire House statt. Ein gemütliches Nest mit herrlichem Ausblick, seit Monaten mit dem Geld bezahlt, das ihr treue Freunde geliehen hatten.

Die Party war gegen ein Uhr morgens zu Ende. Ja, ungefähr um Viertel nach eins. Im Morgengrauen kletterte Dorothy in ihrem schwarzen Samtkleid – ihrem Lieblingskleid –, hochhackigen silberglänzenden Schuhen und geschminkt, als wolle sie zum Casting ihrer Träume nach Hollywood gehen, über den Fenstersims, vielleicht holte sie noch einmal tief Luft, warf einen Blick auf New York, one last time, und stürzte aus dem sechzehnten Stock in die Leere.

Cheers, my friends.

Der Bildhauer Isamu Noguchi, auch auf Fridas Vernissage (er ist ein ehemaliger Liebhaber von ihr), ergänzt ernst die von Nick erzählten Details: Er war auf Dorothys Abschiedsparty. »Aber was hat sie dir gesagt?«, fragt Frida ganz aufgeregt. »Wie hat sie sich an dem Abend benommen?« – »Sie war wie immer«, entgegnet Isamu heiter, »locker, leicht, charmant. Wir haben alles Mögliche erzählt, getanzt, gelacht. Sie war dieselbe wie immer: ein wenig zerstreut, ein bisschen schräg, sehr hübsch. Ich glaube, das Letzte, was sie sagte, bevor wir gingen, war: ›So, kein Wodka mehr da.‹« Mit düster murmelnder Stimme fügt er hinzu: »Sie ist mit dem kleinen gelben Rosenstrauß gesprungen, den ich ihr mitgebracht hatte. Sie hat ihn an ihre Brust geheftet. In der Zeitung habe ich gelesen, dass sie nach dem Sturz kaum zerstört war. Ihr Gesicht war unversehrt. Ihre Augen standen weit offen.«

»Ihr Gesicht unversehrt«, ruft Nick aus, »nach so einem Sturz ist das unmöglich.«

Bis zum Schluss klebte die Schönheit an ihrer Haut wie trübes Wasser, denkt Frida. Dorothy hatte mit Noguchi geschlafen, wahrscheinlich auch mit Nick. Damit hatten sie zwei Dinge gemeinsam, denkt sie, mit dem Kopf gar nicht mehr bei ihrer Vernissage. Sie und Dorothy waren gleich alt. Frida ist seltsam erregt, spürt, wie sie ein unwiderstehlicher Drang überkommt. Warum stürzt man sich aus dem Fenster, wenn einen der Körper nicht schmerzt? Schmerzen in allen Nerven, juckende Haut, so stark, dass es ein Ende haben muss. Die offene Tür, die eine Lösung für alles ist und selbst die Vorstellung von Zeit auflöst.

Als sie mit Nick wieder allein ist, erklärt sie erregt, dass sie den Tod von Dorothy Hale malen wird.