Der einzige Pariser, der vor Fridas Augen Gnade findet, ist Marcel Duchamp.
Der freundlichste und scharfsinnigste Mensch, dem sie begegnet ist, seit sie den Fuß in das abscheuliche Paris gesetzt hat, wie sie die Stadt nennt. Seine magnetische Intelligenz ist so natürlich und bezaubernd wie seine Einfachheit. Mit seinen grauen Augen von einem anderen Ufer, seinem schmalen Mund mit dem flüchtigen, amüsierten Grinsen ist Marcel ein Matador, verborgen hinter scheinbarer Scham und Diskretion, wunderbarer Humor und ein teuflischer Freiheitssinn runden das Bild dieses einfallsreichen und brillanten Mannes ab. Marcel findet ein Hotel, sodass sie bei den Bretons ausziehen kann – das Regina an der Place des Vosges –, Marcel entdeckt eine Galerie für ihre Ausstellung, befreit ihre Bilder aus dem Zollgewahrsam und fährt mit ihr zu den pikanten Ecken von Paris. Duchamp ist ein Zauberer mit Strohflügeln. Sie hatte schon von Julien Levy und Nick in New York von ihm gehört, wo er gelebt hat. Er hat sich dort einen prächtigen Namen gemacht und eine Menge gebrochener Herzen hinterlassen.
Marcel führt Frida in eine versteckte Wohnung in der Rue du Pélican, in der Nähe der Hallen, ein nettes, gammeliges Bordell, in dem sich charmante junge Damen und verliebte junge Herren treffen, zusammen mit heruntergekommenen Malern und Musikern, die sich unters Volk mischen und unter der Hand verkauften Absinth trinken. Frida findet den Ort wunderbar, an den Wänden hängen überall Zeichnungen, Männer spielen unter einem Baldachin Geige, sie bittet sie für ein paar Sous um spanische Lieder, wie sie es auf der Plaza Garibaldi in Mexiko, dem Treffpunkt der Mariachi, so gern macht. Dort ist auch ein herumturnendes Äffchen, das sie an Fulang Chang erinnert, den sie im blauen Haus gelassen hat.
»Frida, weißt du, woher der Straßenname Rue du Pélican kommt?«, fragt Marcel mit einem rätselhaften Lächeln in den Mundwinkeln.
»Gibt es vielleicht ein exotisches Vogelhaus in der Nähe?«
»Das könnte man meinen. Aber es ist eine Abwandlung des früheren Straßennamens: poil-au-con, Haar an der Fotze, denn hier ist seit dem Mittelalter die Prostituiertengegend. Ist dir aufgefallen, dass die Hausnummern rot auf die Fassaden gemalt sind?«
Frida nickt lachend.
»Eine Freundin hat mir einmal erzählt, dass die Frauen im Mittelalter in Rot geheiratet haben.«
»Frida, glaubst du, dass aus Farben Konventionen werden oder umgekehrt?«
»Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstehe. Aber ich glaube, dass sich Farben Konventionen entziehen.«
»Picasso hat einmal zu mir gesagt: Wenn ich kein Blau habe, nehme ich Rot.«
»Und wie hältst du es mit den Farben, Marcel?«
»Ich habe schon lange aufgehört zu malen, Frida, ich spiele lieber Schach.«
Frida entdeckt das Bœuf sur le toit, das zu ihrem Lieblingslokal wird. Die meisten Abende verbringt sie dort, schaut neidisch den Tänzern zu und trinkt in einer Ecke ihre Gläschen Champagner. Es ist so französisch hier. Garland Wilson, ein genialer schwarzer Musiker, spielt hier jeden Abend Klavier. Frida setzt sich neben ihn, schaut die ganze Nacht zu, wie seine Hände schnell auf die Tasten schlagen, und bittet ihn um bestimmte Lieder. Garland mag die kleine, energische, lustige Dame, die kein Wort Französisch spricht, viel trinkt und zu seinen Melodien improvisierte Texte schmettert. Er ist fasziniert, dass man den Tanz so lieben kann, wenn man selbst nicht tanzen kann. Im Bœuf ist Frida vor der Bande der Surrealisten sicher, hier ist die Bar von Cocteau, den sie nicht riechen können. Frida hat den Film Das Blut eines Dichters so sehr gemocht, dass sie überwältigt ist, als sie den Regisseur kennenlernt. Marcel hat sie einander vorgestellt, der Dichter muss ungefähr so alt sein wie Duchamp, um die fünfzig, aber mit der paradoxen Müdigkeit der ewigen Jugend in den Zügen, welche die Iris durch die Nebel unsichtbarer Welten verzehrt. Die beiden Männer könnten Brüder sein, beide so schlaksig. Jean Cocteau mustert Kahlo von oben bis unten und sagt dann: »Ich hätte dich für meinen Film nehmen sollen, du hättest perfekt ins Dekor der anderen Seite des Spiegels gepasst!«
Fridas Ausstellung nimmt allmählich Formen an. Der Termin steht fest, die Einladungen sind verschickt, Breton hat beschlossen, dass es eine Ausstellung über Mexiko wird, nicht nur mit den Bildern von Frida Kahlo. Hijo de puta. Sie findet ihn aufgeblasen. Hätte sie das gewusst, wäre sie nicht nach Frankreich, sondern zu ihrem Mann gefahren. Sie hat ihn seit Monaten nicht gesehen. Breton will auch präkolumbianische Figuren ausstellen, die er sich von Diego geliehen hat, und allen möglichen anderen Kram, erstanden auf Märkten, als er in Mexiko war – er hat sogar Votivbilder aus Kirchen geklaut, weil er sie surrealistisch fand. Zwischen all dem Plunder will er Fridas Bilder aufhängen. Sie schäumt vor Wut. Es kommt ihr vor, als wären ihre Werke Teil eines Jahrmarkts oder eines Zoos. Ein kleines mexikanisches Sammelsurium, um bei den biederen Parisern exotische Gefühle zu wecken. Was sie am meisten ärgert: Dem Miteigentümer der Galerie gefallen Fridas Bilder nicht und er möchte nur eins oder zwei ausstellen. Das kommt nicht infrage. Was soll diese Konventionalität, diese Halbherzigkeit. Ist Paris nicht die Hauptstadt der Revolution moderner Kunst, dixit Diego, das Epizentrum der revolutionären Avantgarde? Hätten sie es gewagt, mit einem männlichen Maler so umzuspringen? Sie diskutiert darüber mit Jacqueline und Dora Maar, der Gefährtin von Picasso. Die drei sind bestürzt. Dora ist auch Malerin, außerdem Fotografin und Dichterin! Sie ist sehr schön, wie in einem Traum. Cremerote Lippen, denkt Frida, und geflügelte Augenbrauen wie ihre, aber Libellenflügel. Doch in den Augen dieses engen Milieus ist Dora nie etwas anderes als die Frau von Pablo, seine Muse und sein Modell, denkt Frida, der es nicht gelingt, Breton klarzumachen, dass sie in der Ausstellung nicht als Frida Rivera auftritt. Sie findet, dass die Surrealisten sich mit ihren Ukassen, Vorschriften und Indizierungen für Caesaren halten.
Sie will nach Hause, hat keine Lust mehr, diese absurde Vernissage abzuwarten, ihr fehlt die Luft zum Atmen. In aufgebrachten Telegrammen schüttet sie Diego ihr Herz aus, doch er denkt sich alle möglichen Argumente aus, um sie zum Bleiben zu überreden. Diese Ausstellung sei eine Weihe. Frida werde nun eine voll anerkannte Malerin, sie solle diese Anerkennung weiter ausbauen und den Paris-Aufenthalt nutzen. Paris sei der Mittelpunkt der Welt, verflucht noch mal! Und dann warte ja auch noch London auf sie!
Es ist ihr vollkommen egal. Sie verspürt nicht mehr den Rausch, den sie in New York erlebt hatte, durch Erfolge, Elogen und Liebhaber. Die Droge wirkt nicht mehr. Frida hätte sich gewünscht, dass Diego ihr sagt: »Komm, meine Liebste, komm sofort, ich kann nicht mehr ohne dich sein, ich gehe noch zugrunde.« Sie hat das dumpfe Gefühl, dass ihm ihre Abwesenheit gelegen kommt. Auch Nick ist in seinen Briefen recht distanziert. Im Schreiben ist er weniger leidenschaftlich als in New York, wo sie in Dessous auf seinem blauen Sofa lag. Also beträufelt sie ihre Briefe mit dem Parfum Shocking von Schiaparelli. ¿Y porqué no?
Nächtliche Spaziergänge à la Verlaine und stürmische Partys können die Leere, die sie verspürt, nur teilweise ausfüllen – wie viele Feste kann man im Leben feiern, bis einen Bitterkeit überkommt? Etwas ist faul im Königreich der Stadt der Lichter, deren Größe so zusammengepresst ist, dass es nicht mal eine Wand für ein Fresko von Rivera gibt, so sehr drängen sich die Menschen in den kleinen Kneipen, wo es nach Knoblauch riecht, und laufen durch Straßen, aus denen der Himmel verbannt ist. Die Künstler um sie herum werden von einer Geschichte erdrückt, die zu reichhaltig ist, wie ihre saucenlastigen Speisen, an denen sie ersticken. Eine Sekte großer, zynischer Kinder, übersättigt von den Genies, die es vor ihnen gab.