Sie gewöhnt sich an eine Flasche Cognac am Tag.
Oder zwei.
Sie ist dreiunddreißig, so alt wie Dorothy Hale, als sie sich aus dem Fenster stürzte. Oft denkt sie an diesen Sprung aus dem sechzehnten Stock, sie denkt daran, wenn sie ihr Haar fallen lässt, wenn sie ihr Blut mit Alkohol tränkt, wenn sie Farbe von ihrem Pinsel tropfen lässt. Sie hat sich wieder die Haare geschnitten. Eine Strähne nach der anderen mit ihrer groben Schere, ohne auch nur einmal in den Spiegel zu schauen.
Warum schneidet Frida sich die Haare ab, wenn sie Diego verliert? Ein Reflex, eine Selbstverstümmelung. Den Schmerz verlagern. Die Kontrolle wiedergewinnen, um nicht unterzugehen. Das geliebte, gepflegte, geschmückte Haar wird ihr unerträglich. Als wären diese Zöpfe Leinen, die sie zu Diegos Gefangener machen. Als könnte sie ihn bestrafen, indem sie sich verunstaltet.
Sie dreht ein bisschen durch, redet mit sich selbst, mit ihren Haustieren, den Bäumen im Patio des blauen Hauses und den Kindern, die sie nie hatte. Sie lässt eine riesige Judasfigur in Skelettform über ihrem Himmelbett anbringen. Deren Gesellschaft ist nicht schlechter als die irgendeines Liebhabers, denkt sie, selbst eines sehr klugen.
Als Frida die Scheidungspapiere erhält, trinkt sie in ihrem Atelier im blauen Haus mit einem ihrer Freunde Tee, der gekommen ist, um das Bild anzuschauen, das sie gerade fertigstellt. Ein großes Format gemessen an den bescheidenen Ausmaßen, die ihre Bilder sonst haben. Zwei Fridas sitzen auf einer Bank und halten einander die Hand. Sich selbst die Hand zu geben, ist das die völlige Einsamkeit, Herr Gott? Die Frida rechts trägt Tehuanatracht, einen olivgrünen Unterrock und ein lavendelblaues und gelbes Hemd. Sie hat ein Medaillon in der Hand, auf dem ein Schwarz-Weiß-Foto von Diego als kleines Kind zu erkennen ist. Ihr anatomisches Herz ist aus der Brust entfernt und scheint, noch klopfend, an ihrem Oberteil befestigt. Ihre Haut ist ein wenig dunkler und die Spur eines Schnurrbarts deutlicher zu sehen als bei der Frida links, deren Haut heller ist, die spanischer wirkt und ein traditionelles Hochzeitskleid trägt. Ihre Brust bietet den Anblick blutiger Leere, aus der das Herz gerissen worden ist. Die autonom gewordenen Adern führen von dem Loch zum herausgetretenen, aber schlagenden Herzen der Frida im Indianerkleid und tränken mit ihrem frischen Blut das Porträt von Diego als Kind. Die Frida im Hochzeitsgewand hat eine medizinische Schere in der Hand und versucht, das Blut aufzuhalten, das aus einer gerissenen Ader fließt, deren auf den Stoff des Kleides getropftes Blut eine Ansammlung von Fleckchen hinterlassen hat, die aussehen wie winzige rote Kirschenmotive.
Zwei Fridas, ein Herz.
Ihr eigenes Double schaffen, wo Frida nicht mehr das Double von Diego sein kann.
Las dos Fridas sitzen so steif und hieratisch da, als seien sie auf ihren beiden Thronen erstarrt. Sie blicken in dieselbe Richtung, scheinen dem Blick des Betrachters zu begegnen und lösen vages Unbehagen aus, als ob diese beunruhigenden Zwillinge um Hilfe riefen, stumm, mit einem bestürzend intensiven Blick ihrer traurigen Augen. In ihrem Rücken kein Horizont, aber ein nachtblauer Gewitterhimmel liegt über ihren Schultern wie ein sie erstickender Mantel.
Der Freund, der zu Besuch ist, der amerikanische Kunsthistoriker MacKinley Helm, flüstert, das Bild sei absolut umwerfend.
»Diego hat gesagt, unsere Trennung wäre von Vorteil, weil ich besser male, wenn ich leide. Offenbar bist du ganz seiner Meinung.«
Frida ist in so düsterer Stimmung, dass man mit ihrer schwarzen Galle die Wand streichen könnte. MacKinley schaut auf die von einem Boten gebrachten Papiere, die Frida aus dem Umschlag gezogen und wütend auf den Tisch geworfen hat.
»Das ist meine Scheidung.«
»Diego erzählt allen Leuten, dass ihr euch einvernehmlich getrennt habt.«
»Ein schönes Märchen, wie es bloß die Oberkröte erfinden kann! Siehst du die Frida dort, die mexikanische? Das ist die Frida, die Diego geliebt hat. Die andere im weißen Kleid liebt er nicht mehr. So einfach kann Kunst sein, mein lieber Herr Kunstkritiker.«
»Frida, du kannst dich nicht allein an der Elle von Diego Rivera messen. Dein Bild ist ein Meisterwerk.«
»Du übertreibst, dear. Ich habe soeben erfahren, dass ich das Guggenheim-Stipendium nicht bekomme. Trotz eines Empfehlungsschreibens von Marcel Duchamp. Ich glaube, ein Brief vom Papst hätte auch nicht geholfen, ich bin nun mal nicht gut genug und hab keinen Peso mehr in der Tasche.
»Weil du eine Frau bist, Frida. Und weil du dich nicht gut verkaufst.«
»Weißt du eigentlich, dass Diego wegen unserer Scheidung ein Fest veranstaltet hat? Warst du vielleicht sogar dort? Er hat ganz Mexiko eingeladen. Alle haben köstlich gespeist und sich prima amüsiert. Er hat den Leuten aus Spaß erzählt, dass er mich nur verlassen hat, um seinen Biografen ins Unrecht zu setzen. Sehr witzig, oder? Bertram Wolfe hat nämlich geschrieben, dass der große Diego Rivera in seiner Frau, ich gebe es sinngemäß wieder, die ideale Gefährtin gefunden hat, auf die er nicht verzichten kann. Und dass wir bis zum Ende zusammenbleiben.«
»Frida, Diego und du, ihr seid eine Art Mythos geworden. Wenn du in der Öffentlichkeit auftauchst, zum Beispiel in der Oper, reden alle nur noch davon, weil du die Attraktion des Abends bist. Deine Kleider, dein Schmuck, deine Augenbrauen, deine diamantengeschmückten Zähne, deine Ausstrahlung. Die Leute können nicht anders, als dich zu beobachten und anzustarren, und in den nächsten Tagen erzählen sie, dass sie Frida Kahlo gesehen haben. Erzähl mir nicht, dir sei nicht bewusst, dass du eine fantastische Persönlichkeit bist. Ich würde es dir nicht glauben. Sieh doch, was du allein zustande bringst, was du malst, was du bist. Was Diego erzählt, ist doch völlig gleichgültig. Niemand kennt eure Wahrheit. Keiner wird sie je kennen.«
»Unsere Wahrheit? Welche?«
Frida sagt nichts mehr, ihr Blick fällt auf die Reproduktion eines Gemäldes von Marcel Duchamp, die sie nach ihrer Rückkehr aus Paris aufgehängt hat. Akt, eine Treppe herabsteigend. Marcel hat es ihr geschenkt und gesagt, dass das Bild anfangs auf starke Ablehnung stieß, weil das Wort Nu auf dem Bild steht. Wie kann man vor einem Wort so viel Angst haben, dachte sie. Ihre Augen fallen jetzt auf eins ihrer eigenen Bilder, ein an der Wand lehnendes Selbstporträt. Schmetterlinge im Haar, ein Dornenhalsband mit einem toten Kolibri als Anhänger. Der Kolibri, der nicht laufen kann und den man offenbar in manchen streng geheimen mexikanischen Zauberrezepten verwendet, damit er Glück in der Liebe bringt.
Im November ist die Scheidung vollzogen.
Im November wird in Mexiko auch das Fest der Toten gefeiert. El Día de Muertos.
Als Frida mit achtzehn Jahren losging, um den bekanntesten Maler Mexikos auf dem Gerüst im Bildungsministerium zu bitten, ihre Bilder anzuschauen, malte Diego Rivera gerade die Darstellung dieses Festes auf eine Wand. Man sieht dort eine dicht gedrängte Menschenmenge, ein atemberaubendes, wogendes Gewimmel von Köpfen, ein Hin und Her in alle Richtungen, Totenmasken, Trauerhüte, vornehme Damenhüte, Arbeitermützen und Sombreros. Die Menge erweckt den Eindruck einer fröhlichen Sarabande abgeschlagener Köpfe. Man hat das Gefühl, es handele sich um eine lustige Schar von Leichen. Auf einer Estrade spielen Hampelmänner aus Pappmaschee mit Totengesichtern Gitarre. Es werden Würstchen gegrillt, die in dampfende Tortillas voller Guacamole gerollt und auf die Schnelle gegessen werden. Frida hat dieses Fest geliebt, seit sie ein kleines Mädchen war, sie geht gern zum Picknick und zu abendlichen Wachen auf den Friedhof und richtet die Gräber her; jeden Tag besucht sie ihre Mutter, bringt ihr Essen und Nelken, spricht leise zu ihr, redet auch mit ihrem Vater, der erst vor Kurzem gestorben ist. Eigentlich muss man damit warten, es ist zu früh, der Tod ist noch nicht lange genug her, doch sie bricht die Regeln, weil sie ohne ihn nicht leben will, auch wenn er nie besonders gesprächig war. Sie sagt im Singsang alte Abzählreime auf und sitzt auf seinem frischen Grab. Manchmal legt sie sich auch nieder, dann spricht die Erde zu ihr. Sie versieht das Grab mit kleinen Totenschädeln aus Zucker, Schalen mit nach Zitrone riechendem Kopal und Votivkerzen. Sie bereitet für ihre Eltern Essen zu, das sie auf traditionellem Tongeschirr serviert, und gießt Wasser in kleine Schüsseln, damit sie sich vor dem Essen die Hände waschen können. Sie verteilt Spielzeug auf Kindergräbern, sie schmückt ihr Haus mit papel-picado-Girlanden in allen Farben, Kerzen, cempaxóchitles, flores de muertos in Gelb und Orange, die mit ihren Blütenblättern Wege vorzeichnen, um das Jenseits zu bitten, die Lebenden zu grüßen. Die Leute schminken und verkleiden sich und sehen schauerlicher aus als die in den Schränken versteckten Wölfe unserer Kindheit.
Sich Masken der Toten über unsere Masken der Lebenden streifen. Das ergibt Sinn, oder?
Frida ist im Lauf der Jahre mehrmals zu dieser Wand zurückgekehrt, ihre Schritte folgten dabei ganz der Karte der inneren Pilgerwege, die jeder in sich trägt, sie kehrte an den Ort zurück, an dem sie zum ersten Mal mit Diego gesprochen hat, zu der Kreuzung, an der die Straßenbahn sie für immer versehrt hat, auf die Straße, an der die Laternen ausgingen, als sie sich küssten. Auch zu den Orten, die es nicht mehr gibt: das erste Fresko von Diego im Bolívar-Hörsaal, wo Frida ihn stundenlang beobachtete. Es wurde zerstört.
Was spürt man an den von unserer Erinnerung verlassenen Orten?
Sie hat die Kopie eines Briefes aufgehoben, den sie an Jacqueline Lamba auf dem Schiff geschrieben hat, das sie zurück nach Mexiko brachte. Wie sie sonst Fotos und Haarsträhnen in den Saum ihrer Röcke und rebozo-Schals einnäht, um die Reliquien ihrer immer wieder taumelnden Liebesbeziehungen stets bei sich zu tragen, hat sie den Schluss dieses Briefes in ihr Mieder eingenäht: »Auch du weißt, alles, was meine Augen sehen und was mein Ich berührt, ganz gleich, welche Entfernung uns trennt, ist Diego. Die zärtliche Berührung der Bilder, die Farbe der Farbe, die Drähte, die Nerven, die Bleistifte, die Blätter, der Staub, die Zellen, der Krieg und die Sonne, alles, was in den Minuten außerhalb von Zifferblättern, Kalendern und leeren Blicken lebt, das ist er.«
Diego, die Farbe der Farbe.