Diego erinnert sich an jedes Detail dieser Feier. Es war letztes Jahr im April. An die erste Ausstellung der Bilder von Frida Kahlo in Mexiko. Zu Hause, in ihrem Mexiko. Die erste und einzige. Fridas Freundin Lola Álvarez Bravo hatte den Vorschlag gemacht und auch gleich ihre Galerie für zeitgenössische Kunst angeboten, eine Galerie in dem quirligen Viertel Zona Rosa. Vor dreizehn Jahren hatten sie beide wieder geheiratet, er und Frida, und vor vierundzwanzig Jahren zum ersten Mal. Frida verließ das Bett nicht mehr, verloren in Absenzen, die sie zu weit wegführten. Vierzehn Operationen hatte sie in den vergangenen vierzehn Jahren über sich ergehen lassen, lange Monate im Krankenhaus mit Klagen, Folterkorsetts, Betäubungsmitteln und Alkohol, und dem Beil für die Amputation ihres Beines, die nicht mehr zu verhindern war.
Ihr Bein zu verlieren war wie das Ende ihres Theaters. Ende des Schauspiels. Frida verlor den Verstand. Sie sagte zu Diego: »Du wirst mich gefälligst nicht beerdigen lassen, ich will, dass du diesen verdammten Körper verbrennen lässt, ich will keine Sekunde der Ewigkeit im Liegen verweilen.«
Angesichts des endlosen Leidens seiner Frau dachte Diego manchmal zermürbt, wenn er sie wirklich lieben würde, müsste er sie töten, sie erlösen.
Sie beide erlösen.
Lola sagte zu Diego: »Ich glaube, man muss die Leute ehren, solange sie noch am Leben sind, oder? Nicht erst, wenn sie tot sind.«
Lola hatte diese glänzende Idee. Diego fragt sich in diesem Moment, warum er nicht selbst darauf gekommen ist, warum er nicht eher und von sich aus daran gedacht hat, Fridas erste Ausstellung in Mexiko zu organisieren.
In dem eintönigen Grau, das ihre Tage verschlang, fand Frida einen Rest Fröhlichkeit. Sie schrieb sämtliche Einladungen mit der Hand. Keiner wurde vergessen. Alle Leute, die sie in ihrem Leben in der Nähe und aus der Ferne kennengelernt hatte, von der Blumenhändlerin aus Cocoyacán bis zu ihrem einflussreichsten amerikanischen Freund, wurden eingeladen, alle mit denselben Worten auf einer Karte voller Zeichnungen und Farben. Sie war wie ein begeistertes Kind, das seine Klassenkameraden zur piñata seines Geburtstags einlädt.
Die Nachricht von dem Ereignis zog weite Kreise, Lola erhielt Anrufe von Journalisten aus ganz Mexiko, aber auch aus den USA und sogar aus Europa. Am Tag der Vernissage versammelten sich schon am späten Vormittag viele hundert Menschen vor der Galerie und warteten auf das Öffnen der Türen. Es war wie sie, unkontrollierbar.
Das Verdikt der Ärzte war gnadenlos, Frida Kahlo ging es viel zu schlecht. Sie verboten ihr strikt, das Bett zu verlassen.
Diego erinnert sich an ihr freches Lächeln und das lodernde Feuer in ihren funkelnden Augen, das er zum ersten Mal bei der ganz jungen achtzehnjährigen Frida gesehen hatte, als sie ihm sagte: »Wir machen es so, mi amor …«
Diego erinnert sich an die Menge, die in der Calle Amberes auf den letzten Atemzug einer Königin wartete, die Menge, die gekommen war, um die ganze Nacht vor den Bildern der mexikanischen Nofretete zu singen und zu trinken, eine Menge von fiebernder Ungeduld, als sich plötzlich eine Wagenreihe einen Weg durch die Menge bahnte und aus einem alten Lastwagen zehn Männer behutsam das riesige, mit Bändern geschmückte, mit Spiegeln verzierte und mit Judaspuppen bevölkerte Himmelbett hoben, in dem still die prachtvoll gekleidete pintora Frida Kahlo lag.
Die kleine Frida, alterslos, abgemagert bis auf die Knochen, übermäßig geschminkt, um ihr ausgemergeltes Gesicht mit einer Maske aus Farben zu bedecken, die kleine Frida trank in dieser Nacht viel Tequila, um ihre Schmerzen wegzuspülen; die Leute berührten ihr Bett, ihren Rock und ihre beringten Hände wie bei einer Heiligen mit Heilkräften, wie man ein Stück Unsichtbares stiehlt, erinnert sich Diego. Seine Hexe Frida, die ihre letzte Energie aufbrachte, um das beste Schauspiel darzubieten, schwirrend, begeistert, verzückt, glücklich wie eine niña, die zum ersten Mal ehrliche Komplimente von Erwachsenen erhält, Frida, die mehr Lärm forderte, mehr Flüche, mehr Menschen, noch eine Zigarette, noch ein Glas, noch ein Glas! Die jede Wange, jeden Mund küsste, um die letzten Spuren Rot auf den Empfindungen eines Lebens zu hinterlassen.
Ein goodbye cocktail, bevor man sich aus dem sechzehnten Stock in die Leere stürzt.
Voller Freundschaft und Zuneigung / direkt aus dem Herzen kommend / habe ich das Vergnügen, Sie zu meiner bescheidenen Ausstellung einzuladen / Um acht Uhr abends / – schließlich haben Sie eine Uhr – / warte ich auf Sie in der Galerie von Lola Álvarez Bravo. / Sie befindet sich in der Amberes Nr. 12 / mit Türen auf die Straße / damit Sie sich nicht verirren / das ist alles, was ich sagen werde. / Ich möchte nur eins: Ihre gute und aufrichtige Meinung hören. / Sie sind gebildet / Sie verfügen über erstklassige Kenntnisse. / Diese bemalten Vierecke / habe ich mit meinen eigenen Händen gemalt / sie warten an den Wänden darauf, / meine Brüder zu erfreuen. Nun, mein lieber cuate / mit echter Freundschaft / bin ich Ihnen von Herzen dankbar. / Frida Kahlo de Rivera
Diego erinnert sich, wie seine Prinzessin Frida inmitten ihrer Bilder schwebte, zum ersten Mal, inmitten all der Bilder wie groteske und verblüffende Reflexe.
Er erinnert sich besonders an ein Bild, das sie in den 40er-Jahren gemalt hatte, Die gebrochene Säule. Ein erschreckender und zugleich sinnlicher Anblick. Man sieht Frida mit erotisch offenem Haar, nackt bis zur Taille, schamlos ihre perfekten Brüste zeigend. Doch im Gesicht und in dem Oberkörper, der von einem Korsett gestützt wird, stecken zahlreiche Nägel, er ist zweigeteilt wie auf einer anatomischen Schautafel, sodass das Rückgrat erschreckend sichtbar ist, dargestellt als zerstörte antike Säule.
Er, Diego, hat Frida niemals nackt gemalt, dabei malte er die Haut so vieler anderer Frauen.
Dies wird ihm jetzt bewusst, wo er allein ist mit Fridas Graburne, die er liebevoll in eine Kinderwiege gestellt hat. Diese Wiege stand immer neben dem Bett seiner Ehefrau, und sie bettete darin mütterlich ihre Lieblingspuppe. Sie wiegte und pflegte ihre kleinen Puppen. Wie viele besaß sie? Unzählige. Wenn sie im Krankenhaus war, gab sie Diego Anweisung, während ihres Wegseins für die Puppen zu sorgen.
Diego tat es. Zärtlich deckte er Fridas Spielsachen zu.
Er erinnert sich an den Abend ihres Todes.
Er war den ganzen Tag an ihrem Bett geblieben.
Der Arzt sagte immer wieder: »Sie ist sehr krank, Diego.« – »Ich weiß.« – »Sie ist wirklich sehr krank.«
Am Abend schenkte Frida ihm einen Ring, den sie für ihren Hochzeitstag gekauft hatte.
»Es ist erst in drei Wochen, Frida. Bitte schenk ihn mir jetzt noch nicht.«
»Doch, heute Abend, das ist gut.«
Frida schlief ein, sie atmete ruhig. Er strich ihr leicht mit den Fingerspitzen über die Lippen, als zeichnete er einen Kuss, und stand auf. Als er das Zimmer verlassen wollte, vernahm er in seinem Rücken eine schwache Stimme. Sie murmelte: »Mi amor, mi único amor, mi gran amor, ahora apaga la luz y cierra la puerta.« Er drehte sich nicht um. Er löschte das Licht und schloss die Tür.
Er ging zur Arbeit nach San Ángel.
Er erinnert sich daran, dass sich Fridas Körper, als sie bei der Einäscherung ins Feuer kam, durch die Hitze noch einmal aufrichtete. Sie sah alle Lebenden an, aufrecht auf ihrem Scheiterhaufen sitzend, um ihr Haar eine Krone von loderndem Feuer.
Ihm wird bewusst, dass er ihr nie gesagt hat, dass seine Liebe zu ihr das Beste in seinem Leben war, und jetzt ist es zu spät. Er erinnert sich, dass sie, Frida Kahlo, oft in der unnachahmlichen Art Frida Kahlos Bemerkungen fallen ließ wie: »Panzón, der Tod ist nichts weiter als ein Prozess der Existenz, nicht?« Oder: »Wir können jeden Augenblick sterben, mi hijo, also sollen wir uns nicht, bevor wir diese Welt verlassen, ein bisschen amüsieren?« Oder vor allem: »Wenn man wahnsinnig liebt, muss man es sehr, sehr schnell sagen, weil man sonst stirbt, ohne es gesagt zu haben, oder?«
Er sieht Fridas Augen.
Das Schwarz voller Licht. Strahlende schwarze Augen.
Ich hoffe, der Ausgang war fröhlich.
Er schenkt zwei Gläser Tapatío-Tequila ein, ihre Lieblingssorte, aus blauen Agaven gemacht. Er füllt die Gläser bis zum Rand, stößt an und kippt das erste Glas hinunter. Der Alkohol verbrennt seinen abgrundtiefen Kummer. Er leert das zweite Glas und stellt es vorsichtig auf den Tisch.
»Keine Sorge, Liebe meines Lebens, jetzt brauchst du nie mehr zu liegen.«
Er öffnet die Urne, greift hinein und nimmt ein Häuflein Asche heraus. Er nimmt es vorsichtig in die Hand, damit nichts herunterfällt, schließt die Augen und schluckt es hinunter.