Kapitel 21

Schröder setzte Elin am Hotel ab.

»Ich nehm nur schnell eine Dusche und mach mir ein Konzept für die Pressekonferenz. Wenn Sie mich in einer Stunde abholen könnten?«

»Sicher.«

»Bis nachher!«, rief sie und warf die Tür zu.

Schröder fuhr weiter nach Hause. Er wollte schnell etwas essen und sich auch ein paar Notizen machen.

»Ich bin’s!«, rief er, als er die Tür aufgeschlossen hatte.

Er ging zum Esstisch und warf seinen Schlüssel darauf. Sein Vater lag nicht auf der Couch. Der Fernseher war aus.

»Papa?«

Sein Vater antwortete nicht. Schröder sah in Karls Zimmer nach, doch das war ebenfalls leer.

»Papa?«

Er hörte ein Stöhnen. Es kam aus dem Badezimmer.

»Papa? Alles okay?«

Er drückte sein Ohr gegen die Tür.

»Hilfe!«, rief sein Vater mit gebrochener Stimme. Schröder versuchte einzutreten, doch die Tür war verschlossen.

»Papa, was ist? Mach auf!«

»Hilfe!«, rief Karl erneut. Schröder überlegte nicht lange. Das war die Situation, vor der er immer Angst gehabt hatte. Er machte einen Schritt zurück und trat, so fest er konnte, gegen die Tür. Es gab ein splitterndes Geräusch, doch die Tür bewegte sich nicht. Er trat ein zweites Mal zu, und die Tür sprang krachend auf. Karl lag nackt auf den Fliesen. Blut war auf dem Boden und auf dem Rand der Badewanne. Die Wanne war mit Wasser gefüllt, der Duschvorhang heruntergerissen. Karl stöhnte und versuchte aufzustehen, doch er schaffte es nicht. Schröder griff seinem Vater unter die Arme und zog ihn hoch. Er setzte ihn auf die Toilette, doch Karl drohte wieder umzufallen. Also schleppte Schröder ihn direkt in sein Zimmer und legte ihn aufs Bett. Karl blutete aus einer Platzwunde an der Stirn. Schröder holte ein Handtuch und drückte es mit einer Hand auf die Wunde, während er mit der anderen seinen Vater zudeckte. Seine Haut war nass und eiskalt.

»Was machst du denn, Papa?«

»Tut mir leid! Tut mir leid! Ich wollte nur mal allein baden, damit du nicht immer … Ich bin ausgerutscht. Ich kann gar nichts mehr allein!«

»Hör auf zu jammern! Ich bin auch schon ausgerutscht im Bad, schon hundert Mal.«

»Aber du kannst wieder aufstehen.«

Schröder legte seinem Vater eine Hand auf die Wange und tätschelte ihn.

»Mach so was nie wieder!«

Schröder rief Petri an, der nur zusagte zu kommen, weil Karl diesmal der Patient war. Karl hatte darauf bestanden, wieder auf der Couch im Wohnzimmer zu liegen, wo Petri nun mit einer kleinen Taschenlampe seine Pupillenreflexe testete. Schröder stand besorgt hinter Petri und stemmte seine Hände in die Hüften.

»Musst du nicht wieder ins Revier?«, fragte Karl.

»Das kann warten.«

»Ist dir übel? Musstest du dich übergeben?«, fragte Petri.

Karl schüttelte den Kopf.

»Nein! Mir geht’s prima!«

»Dann ist es keine Gehirnerschütterung. Aber die Wunde werde ich nähen müssen.«

»Nähen, wieso nähen?«, fragte Karl entsetzt.

»Kannst du das denn?«, wollte Schröder wissen.

»Willst du mich beleidigen? Ich bin Arzt! Ich nähe wahrscheinlich besser als jeder Chirurg! Also, Mund halten und staunen!«

Petri zog eine kleine Spritze auf und drückte die Luft heraus, bis die Flüssigkeit aus der Nadel quoll.

»Was wollen Sie denn damit?« Karl verkrampfte sich jetzt schon.

»Ich nähe dich gleich mit einer Nadel, die dreimal dicker ist als diese. Also entspann dich!«

Karl legte sich zurück und schloss die Augen. Petri stach in die Haut neben der Wunde und verteilte das Betäubungsmittel. Anschließend zog er einen Faden durch die gekrümmte Nadel.

»Und, schon taub?« Er drückte gegen die Wunde und desinfizierte sie.

»Fühlt sich komisch an.«

»Dann kann’s losgehen!« Petri beugte sich über Karls Kopf und stach die Nadel in seine Haut. Schröder musste wegsehen.

»Na, und du hast ja auch eine schöne Diagnose bekommen, was?«, sagte er zu Schröder.

»Sag mal, gibt es eigentlich keine Schweigepflicht mehr unter euch verdammten Ärzten?«

»Und dann rennst du einfach raus! Irgendwie mach ich mir Sorgen, dass dein Job dich psychisch zu sehr beansprucht.«

»Bist du jetzt auch noch Psychologe geworden, oder was?«

»Schröder, du kannst doch nicht so mit Dr. Petri sprechen!«, ermahnte ihn sein Vater, der kaum noch zu sehen war.

»Wieso nicht?«

»Er ist Arzt!«

»Herrgott, warum vergöttern alte Menschen Ärzte immer so?«

»Alte Menschen sind weise«, sagte Petri. Schröder fiel mit einem Mal die Pressekonferenz wieder ein, und er sah auf die Uhr.

»Scheiße, wegen euch verpasse ich alles!« Er schaltete den Fernseher ein. Die Pressekonferenz hatte bereits begonnen.

»… keine Zweifel, dass diese Verbrechen von ein und demselben Täter verübt wurden«, sagte Elin gerade.

»Wie viele Opfer haben Sie gefunden?«, fragte ein Journalist.

»Wir haben hier in Osnabrück siebzehn Leichen gefunden!« Unruhe machte sich breit. Stimmen wirbelten durcheinander.

»Und die Polizei Remscheid hat weitere fünfzehn gefunden«, sagte Elin lauter, um gegen den Geräuschpegel anzukommen. Abrupt verstummte der ganze Saal. Sogar das Blitzlichtgewitter stoppte.

»Heilige Mutter Gottes!«, sagte Karl fassungslos. Er und Petri sahen gebannt auf den Bildschirm.

»Ihr habt zweiunddreißig Leichen gefunden?«, fragte Petri. Schröder nickte ernst.

»Vielleicht versteh ich dich jetzt ein bisschen besser«, sagte Petri. Er machte einen Knoten in den Faden über Karls Auge und schnitt ihn ab. Während Petri seine Sachen wieder fein säuberlich in die Arzttasche einräumte, warf Schröder einen Blick auf die systematische Ordnung seiner Instrumente, Spritzen und Tupfer. Auch Petris Kleidung war bemerkenswert ordentlich. Schröder konnte keine einzige Falte an Petris reinweißem Hemd erkennen. Seine Rasur war perfekt, ebenso wie sein Haarschnitt. Elin sprach im Fernsehen davon, die ersten Ergebnisse in ein oder zwei Wochen schon vorlegen zu können.

»Also, Karl, Bettruhe bis übermorgen! Ich komme in zwei Tagen noch mal vorbei. Die Fäden ziehen wir in zwei Wochen.« Petri klebte ein Pflaster auf die vernähte Wunde und reichte Schröder das Papier.

»Darf ich dir den Müll anvertrauen?«

Schröder nahm die Schnipsel entgegen.

»Selbstbewusste Frau, deine Partnerin! Gefällt mir! So, ich muss jetzt los!«

Petri nahm seinen Mantel vom Kleiderbügel und ging hinaus.

Schröder sah seinem Freund aus dem Fenster hinterher, wie er aus dem Haus kam, auf die Straße trat und die Tasche im Kofferraum seines dunkelblauen BMW verstaute. Er hatte Elins Worte noch im Ohr: »Er besitzt ein dunkelblaues oder schwarzes Auto, lebt in einem Haus und ist ein Ordnungsfanatiker. Haus und Wagen werden absolut topp gepflegt sein, ebenso wie seine äußere Erscheinung.«

Schröder musste schlucken. Er war so tief in Gedanken, dass er Karl erst bemerkte, als dieser ihn am Arm berührte. Schröder erschrak.

»Papa! Herrgott, du sollst doch liegen!«

»Ich hab gedacht, wir könnten das irgendwie schaffen. Aber es geht wohl nicht.«

Schröder wurde bewusst, dass sein Vater über etwas ganz anderes sprach als über seine Verletzung. Er sah müde aus und traurig. Es tat ihm furchtbar weh, seinen Vater so zu sehen. So klein und irgendwie verlassen. Nicht jede Erkenntnis war ein Gewinn. Wahrlich nicht.

»Schon gut, Junge! Niemand hat schuld daran! Es ist, wie es ist. Du kannst mich nicht pflegen. Und ich kann nicht allein leben. Wir müssen das beide akzeptieren.«

Schröder umarmte seinen Vater. Er drückte ihn ganz fest an sich und konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das das letzte Mal getan hatte. Er musste ein Kind gewesen sein. Schröder schloss die Augen und wollte seinen Vater nicht mehr loslassen.

Kapitel 22

Es war stockfinster in der Halle. Nur eine einzelne Lampe warf einen eisigen Lichtkegel auf die Frau auf dem Stuhl. Sie war nackt und gefesselt und jammerte kläglich wie ein Tier. Ihre Haare klebten in nassen Strähnen an ihrem Kopf und ihrem Hals. Eine metallene Klammer spreizte ihre Kiefer auseinander. Die Zunge bewegte sich wie ein Tier in ihrem Rachen. Sie bebte vor Angst. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Die nackte Panik stand in ihnen.

Plötzlich öffnete sich quietschend eine schwere Tür und fiel wieder ins Schloss. Die Frau blickte um sich. Wild rollten ihre großen weißen Augäpfel herum, wollten sehen, wollten erkennen, wer die Halle betreten hatte und was er ihr antun wollte. Aber die Finsternis um sie herum war undurchdringlich. Schritte kamen auf sie zu. Mit aller Kraft versuchte sie, sich aus den Fesseln zu befreien, doch die Kabel schnitten ihr nur tiefer ins Fleisch, je wilder sie daran zerrte. Die Schritte verhallten. Jemand stand direkt vor ihr. Sie konnte ihn nicht sehen. Sie sah nur eine weiße Atemwolke, die in den Lichtkegel wirbelte. Der Unsichtbare atmete einmal, zweimal, dreimal, dann schoss eine Hand aus der Dunkelheit hervor und packte ihre Zunge. Die zweite Hand tauchte in das Licht ein. Die Klinge eines Skalpells blitzte auf. Die Frau begann zu schreien.

Das Blut aus ihrem Mund tropfte ins Wasser, als der Mann ihr einen Stoß versetzte und sie vornüber in das kleine Bassin stürzte. Das Bassin war gerade mal einen Quadratmeter groß und direkt in den Boden eingelassen. Ihre Hände und Füße waren immer noch gefesselt. Das Blut färbte das Wasser hellrot. Sie schrie um Hilfe, doch sie war nicht mehr zu verstehen ohne ihre Zunge. Ein eisernes Gitter wurde über ihr geschlossen und drückte sie immer tiefer in die Knie. Zwischen Gitter und dem Wasser war gerade so viel Platz, dass sie ihren Kopf über Wasser halten konnte. Doch ihre Nasenspitze berührte schon die Wasseroberfläche. Der Mann schaltete eine Videokamera ein. Die Frau konnte sich nicht mehr lange so halten. Ihre Beine gaben nach, sie tauchte unter und musste Wasser schlucken. Sofort stemmte sie sich wieder hoch und knallte mit dem Rücken gegen das Gitter. Ihre Beine begannen zu zittern. Ihre Muskeln verkrampften in dem kalten Wasser. Einige Minuten konnte sie sich noch so halten, dann gaben ihre Kräfte nach und sie ging unter.